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2004-01-29 Buchkritik:
"So rollt das Leben zwischen Aufgang und Untergang"

Harry Rowohlt rettet dem Publikum 135 wunderbare Kleintexte von Alfred Polgar - Subversives Lesebuch gegen den Trend
 
ape. "Spiegel der Zeit und ihrer Menschen ist das illustrierte Blatt. Aus ihm kann man, ohne irgendwelchen Text zur Kenntnis zu nehmen, erfahren, was die Weltuhr geschlagen hat." Es war Alfred Polgar (1873-1955), der dies so süffig wie treffend schrieb, und nachfolgend die Verwandlung eines Russenbildes vom dumpfen Affen zum edelnasigen Gentleman auf den Titelblättern der Journale als Folge von Änderungen in der politischen Lage entlarvte.
 
Polgar kam 17 Jahre vor Kurt Tucholsky zur Welt, lebte 20 Jahre länger als jener. Brüder im aufsässigen Geiste, in der Florett-artig geführten Feder waren sie. Der Längerlebige erreichte nie die Berühmtheit des schon mit 45 sich des Lebens entledigenden Herrn Tiger, Panter und Co. Zuvor jedoch schwärmte Tucholsky wiederholt für Polgar als dem "feinsten und leisesten Schriftsteller unserer Generation". Dauerhaft genützt hat der Zuspruch nicht: Zuletzt drohte der Wien-geborene Meister des literarischen Schmäh vom Buchmarkt zu verschwinden. Vergriffen Reich-Ranickis alte Werkausgabe, Polgar-Texte nur mehr in der Bibliothek findbar.

Harry Rowohlt hat unlängst diesen schrecklichen Zustand beendet und zum 130. Geburtstag des Autors 135 von dessen ebenso unaufgeregten wie spitzigen Miniaturen zum Buch gepackt. "Alfred Polgar - das große Lesebuch" heißt außen ziemlich trocken, was im Innern zwinkernd glänzt von scharfäugigen, scharfsinnigen, scharfzüngigen Aufsätzchen über des Menschen Unvollkommenheit, mehr noch über seine Dämlichkeit, Unmöglichkeit und die seltsamen Wirrnisse selbst gemachter oder eigenhändig verschuldeter Umstände.

"Es sonnenscheint in Strömen" in diesem Herbst 1921. "Weich gepolstert ist die Luft. Man ruht aus, wenn man sich an sie lehnt. Wie in Hundstagen stinkt die Straßenbahn, schmachtet das Herz nach Bier und Liebe." Derart beginnt eine in freundlichstem Ton vorgetragene, jedoch von bitterböser Kapitalismussatire durchdrungende Geschichte über die 1921er-Inflation aufs bürgerlich-monarchische Wien. Es sind kleine Skizzen, kurze Erzählungen, Glossen, zeitkritische Feuilletons, die Polgar schreibt. Oft Humoresken, die trotz ihrer tagesjournalistischen Anlässe sich zu literarischen Höhen aufschwingen und damit überzeitlichen Lesewert gewonnen haben.

Die Lektüre wird begleitet von leisem Schmunzeln und lauthalsem Lachen. Sie führt zu Erkenntnis - auch zu derjenigen, dass selbst der galligste Humor, die böseste und schlagkräftigste Satire weder auf guten Geschmack noch kunstfertig-kreativen Sprachgebrauch verzichten muss. "Gegen gesteigerte Not hilft nur gesteigerte Arbeit, sagen die Lehrer der Welt. Sie wissen nicht, wie oft Faulheit nur Konsequenz tiefer edler Abneigung ist gegen einen Fleiß, der Unzulängliches produziert. (...) Schlimmer als die unnützen Nichtstuer sind die unnützen Tuer." Sätze von 1923; auf 2004 gemünzt, lassen sich bessere kaum (er)finden.

Polgar liegt nicht im Trend, Kalauer sind seine Sache so wenig wie Weltverbesserwisserei oder spektakelsüchtiges Haudrauf. Doch sein fast zartes Hinlagen echot im Kopf, als handle es sich um kräftige Watschen, die so heute keiner mehr auszuteilen versteht. "Nie waren die Frauen hübscher, geschmeidiger, reizvoller. Aus dem Zusammenwirken von Trübsal und deren Überkompensation durch Leichtsinn geriet ein sonderbar blind-lebensgieriger Frauentyp, der gehetzt ist von Bangigkeit, die Minute zu versäumen." Polgarsche Liebeserklärung 1920. Andreas Pecht

 Harry Rowohlt (Hrsg.): "Alfred Polgar - Das große Lesebuch". Kein & Aber, 426 S., 22,80 Euro.
 
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