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2005-02-15:
Alter Streit entflammt:
Sind wir fremdbestimmt?
Schiller-Jahr beginnt am Schauspiel Frankfurt mit einer Kontroverse
 
ape. Frankfurt. Wolf Singer, renommierter deutscher Hirnforscher, trat auf der Theaterbühne zum Disput mit Rüdiger Safranski an, dem Philosophen und Autor einer hoch gelobten neuen Schiller-Biografie. Handelt der Mensch aus freiem Willen, oder ist er ein von neuronalen Hirnprozessen Getriebener? Darum ging der Streit. Ein spannender Beitrag des Schauspiels Frankfurt zum Schiller-Jahr.
 
Jüngste Ergebnisse der Hirnforschung sind nicht nur in Fachzeitschriften zum Thema geworden, sie erobern auch die Feuilletons. Und selbst der Boulevard kann sich scheele Blicke ins Reich der grauen Zellen nicht verkneifen. Es geht immerhin um die Frage "Sind wir Herr oder Sklave unserer Sinne und Gedanken?", also "Leben wir oder werden wir gelebt?". So war der Publikumsandrang zu der von Feuilletonist Peter Iden moderierten Diskussion zwischen dem Naturwissenschaftler Singer und dem Geisteswissenschaftler Safranski unter dem Titel "Alles Schiller, oder was?" groß.

Quer durch die Kulturgeschichte ziehen sich Meinungsverschiedenheiten über die Bedeutung sozialer Umfeldbedingungen für die Herausbildung der Individuen. Stand der Sozialwissenschaften war: Kaum ein Mensch ist von Geburt böse oder dumm, reizend oder klug und was der schlechten oder guten Eigenschaften mehr sind. Dies galt, bis die Genetik im 20. Jahrhundert den Menschen wieder ins Gefängnis biologischer Vorbestimmtheit steckte: Ein jeder sei nur Marionette seiner Gene, so der populistische (Kurz-)Schluss aus den Entdeckungen der Labore.

Mittlerweile räumen auch die Populärgenetiker wieder eine teilweise Offenheit der Individualentwicklung ein. Jetzt kommt die Hirnforschung, kommt Wolf Singer und stellt fest: Fühlen, Denken und Handeln werden nicht von einem freien Ich gesteuert, sondern von einem Wunderwerk neuronaler Prozesse im Hirn, die sich, ausgelöst oder angespornt von äußeren und inneren Reizungen, selbsttätig zu einem Funktionsnetz organisieren.

Was ist demnach der Mensch? Jenes Geschöpf auf Erden, dessen Nervenschaltungen sich im Laufe der Jahrzehntausende unter dem Bombardement evolutionärer Herausforderungen am erfolgreichsten optimiert haben. Singer: "Was soll schlimm daran sein? Wir sitzen hier als Produkt einer langen Evolution und haben als Produkt so etwas Gewaltiges wie die soziale Menschheit hervorgebracht." Dieser Prozess, so die Hirnforschung, dauert an, vollzieht sich in jedem Menschen auf eigene Weise: Täglich, minütlich, mikrosekündlich schaltet das Hirn neue Verbindungen in einem multifunktionalen Netzwerk, das ohne Dazwischentreten einer bewussten Kommandozentrale seinen Besitzer lenkt.

Was hat Friedrich Schiller damit zu schaffen? Safranski zitiert den Verzweiflungsruf des Klassikers und freiheitlichen Idealisten, der - selbst Arzt und Hirnforscher - mit Interesse die Wissenschaftsfortschritte seiner Zeit verfolgte: "Kühner Angriff des Materialismus stürzt meine Schöpfung ein!" Wenn tausenderlei biologische, psychologische und soziale Faktoren das Sosein des Menschen fremdbestimmen und letztlich "keiner anders kann als er kann" (Singer), dann wäre auch Schillers Streben nach Freiheit, Souveränität des Geistes, Vervollkommnung des Ichs durch Schönheit vergebliche Mühe.

Aus dieser Angst resultiert laut Safranski auch das Schillersche Pathos: Er will den Idealismus gegen die Gefährdungen durch den Materialismus verteidigen. Wobei der Dichter nicht einfach ein Glaubensbekenntnis formuliert, sondern als Denker "der Freiheit eine Gasse" bahnen will durch die kaum zu leugnenden Einflüsse und Zwänge der materiellen Umwelt. Schiller beschwört "die Aufmerksamkeit" als Werkzeug zur Befreiung des Willens. Und er findet den tröstlichen Gedanken: Der Materialismus ist selbst ein Produkt des souveränen Geistes.

Der Frankfurter Disput entschied nichts, hatte aber zwei Sieger. Erstens den mit Genuss über sich selbst und die Welt nachdenkenden Geist, sei er nun neuronales Netzwerk, souveränes Ich oder göttliche Schöpfung. Zweitens: Friedrich Schiller, dessen Werk zu wichtigen Befragungen auch der aktuellen Entwicklungen in Wissenschaft und Gesellschaft führen kann.
 
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