Thema Gesellschaft / Zeitgeist
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2005-06-03: Analyse
Soziale Frage lässt EU-Gebälk krachen
Gedanken über Europa nach den Widerspenstigkeiten der Nachbarn
 
ape. Das Projekt "Vereinigtes Europa" scheint durch Volksentscheide gefährdet. Der Katzenjammer, der das offizielle Europa nach den Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden befallen hat, legt diesen Schluss nahe. Doch das Gegenteil ist der Fall, meint unser Autor. Die Renitenz der Nachbarn richte sich nicht gegen Europa, sondern gegen dessen Bürgerferne und neoliberalen Ausverkauf.
 
Wie würde ein Referendum über die EU-Verfassung in Deutschland ausgehen? Niemand weiß es, weil nicht abzuschätzen ist, welche Wirkungen eine monatelange Massendiskussion aufs Meinungsbild hätte. Während Millionen in Frankreich und den Niederlanden sich dieser Mühe unterzogen, wurde in Deutschland der EU-Verfassungsentwurf vom Bundestag geschäftsmäßig "durchgewinkt". Letzteres ist die Art, wie Europapolitik seit Jahrzehnten daher kommt: Als abstrakte Staats- oder völlig verbürokratisierte Wirtschaftspolitik fernab bürgerschaftlichen Mitwirkens oder auch nur Verstehens.

Rote Karte für die Führung

Die Abstimmungen offenbaren ein Phänomen: In beiden Ländern hatten die Führungen fast aller großen Parteien aufgerufen, die Verfassung zu befürworten. Doch ihre Anhänger verweigerten zu großen Teilen die Gefolgschaft. In Sachen Europa zeigten deutliche Mehrheiten der Franzosen und Niederländer ihrem politischen Establishment die kalte Schulter. Mehr noch: Vermutlich stellvertretend für die Bevölkerungsmehrheit sämtlicher EU-Altmitglieder zeigten sie dem europapolitischen Konsens der gesamten staatstragenden politischen Klasse Europas die rote Karte.

Man stelle sich das Szenario für Deutschland vor: Die Vorstände von SPD, Grünen, Union und FDP hätten unisono aufgerufen, in einem Plebiszit für die EU-Verfassung zu stimmen, aber am Ende wäre eine gegenteilige Mehrheit herausgekommen. Eine solche "Katastrophe" haben Frankreich und die Niederlande jetzt erlebt. Von Katastrophe kann allerdings nur reden, wer unterstellt, unsere Nachbarn seien Demagogen aufgesessen oder in dumpfen Nationalismus verfallen. Beides mag an den radikalen Rändern eine Rolle gespielt haben. Im Durchschnitt jedoch sind Franzosen und Niederländer mit einem ausgeprägten Problembewusstsein zur Urne geschritten. In Frankreich etwa wurden Millionen Exemplare des Verfassungsentwurfs an die Haushalte verteilt, gleich vier erläuternde Bücher darüber halten sich seit Wochen an der Spitze der Bestsellerlisten. Bei allem unvermeidlichen Getrommel und Krakeel - so viel Information und inhaltliche Diskussion über Europa wie im Vorfeld des Referendums gab es in der Bevölkerung beider Länder noch nie und auch sonst nirgends. Dass die Abstimmung von den Menschen als Chance genutzt wurde, mehr den gesamten derzeitigen EU-Kurs abzustrafen, als über die Verfassung zu urteilen lässt sich nicht verdenken. Denn eine ultragroße Europa-Koalition der "hohen Politik" hat den Bürgern bisher wenig Möglichkeit gegeben, ihre Einwände geltend zu machen: gegen eine zu schnell zu weit wachsende, zu wirtschaftsliberal und unsozial werdende, zu bürokratisch und bürgerfern gewordene EU.

"Wir sind nicht gegen Europa, sondern für ein soziales Europa" beteuern jene Franzosen, die zahlreiche bürgerliche Wähler, 60 Prozent der Wähler der Grünen, 58 Prozent der Wähler der Sozialisten und 100 Prozent der Kommunisten für ein "Non" gewinnen konnten. Zu den "Nein"-Sagern gehört die Mehrheit der abhängig Beschäftigten, der Bauern, der Bevölkerung in den einstigen Industrie-Zentren, der jungen Leute unter 35, der Frauen oder der Kleinstädter.

Eine der Hauptkritiken am Verfassungsentwurf lautete: Er würde nichts ändern an der Generallinie, die die EU zu einem sich völlig dem Globalismus unterwerfenden Gefüge macht, in dem soziale Werte nichts mehr zählen. Von fundamentaler EU-Gegnerschaft kann da keine Rede sein. Wohl aber davon, dass eine Menge EU-Bürger mit der angelsächsisch-marktliberalen Richtung nicht einverstanden sind, der die EU-Politik nach ihrer Ansicht folgt. Eine solche Art inhaltlicher Bürger-Opposition ist neu auf dem europäischen Parkett. Und ihre Wucht macht der Politik stures "weiter so" unmöglich.

An der Wiege der EU stand der Wille, eben noch im Krieg gegeneinander liegende Nachbarvölker zu versöhnen. Die Friedensgemeinschaft hat geklappt, nicht zuletzt dank einer Wirtschaftsgemeinschaft zum gegenseitigen Nutzen. Mit dem "schweren Problem" (Barroso), dem "Rückschlag" (Schröder), die die Abstimmungen in Frankreich und den Niederlanden angeblich verursachen, kam allerdings ans Licht, was die hohe Politik bislang noch nicht in ganzer Tragweite begriffen hat: Die Soziale Frage wächst sich objektiv und im Bewusstsein vieler Bürger mehr und mehr zum neuen Zentrum des Einigungsprozesses aus. "Wir sind nicht bereit, auch noch die letzten sozialen Errungenschaften Europas einem Kurs zu opfern, der nur einen einzigen Wert kennt: Profitmaximierung." So beschrieb ein Teilnehmer der Siegesfeier auf dem Pariser Platz der Bastille die Motive der "Non"-Mehrheit jenseits von Le Pens rechtsradikalen Nationalisten.

Eine Solidargemeinschaft

Damit hört die Einheit Europas auf, bloß hehres Ideal zu sein, das in Festreden beschworen wird, sich ansonsten zwischen labyrinthischer Bürokratie verflüchtigt. Die Volksabstimmungen sprechen einem Paradigmenwechsel im europäischen Selbstverständnis das Wort. Sie sprechen unter anderem für einen Wandel der EU hin zur Solidargemeinschaft. Diese müsste ihre Bürger auch vor den Entwurzelungen durch eine "Globalisierung" schützen, der nationale Interessen, soziale Strukturen und kulturelle Identitäten völlig gleichgültig sind.

Dass heutige EU-Politik oder der Verfassungsentwurf einem solchen Verständnis von europäischer Einheit entsprächen, wird ernsthaft niemand behaupten wollen. Was nicht der einzige Grund, aber für viele EU-Bürger der wichtigste war, "Non" oder "Nee" zu stimmen - und so für ein anderes Europa zu sprechen.
 
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