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2005-06-12: Vortrag
Einführung in 4. Görreshauskonzert
Schubert Ouvertüre D-Dur, Beethoven 3. Klavierkonzert, Sibelius 3. Sinfonie
 
Einige von Ihnen haben am vergangenen Dienstag miterlebt, wie das kunst- und geistvolle Wort, wie die hohe Philosophie und Literatur diese sonst vorwiegend der Musik gewidmeten Hallen in Beschlag nahmen. Das Görreshaus war Austragungsort für den ersten Abend des so genannten 3klang-Festivals. Dieses drei Veranstaltungen umfassende Minifestival im Rahmen des diesjährigen rheinland-pfälzischen Kultursommers wurde den am 1. Juli beginnenden Mittelrhein Musik Momenten quasi als Prolog vorangestellt. Als Prolog, der in fachübergreifender Diskussion Musik, Literatur und Philosophie miteinander in Berührung bringen sollte.

Ich möchte versuchen, eine Brücke von dieser Veranstaltung zu unserem heutigen Konzertnachmittag zu schlagen. Schließlich ist, was die Herrschaften da betrieben, für unsere Runde hier schiere Selbstverständlichkeit: Konkrete Musik im Lichte ihrer Entstehungshistorie und Wirkungsweise betrachten; konkrete Musik also verbinden mit Musikgeschichte, Kulturgeschichte, politischer Geschichte, mit Soziologie, Psychologie, Ethnologie und  Philosophie - das ist es doch eigentlich, was wir hier allweil tun, bevor wir uns dem Kunsterlebnis zuwenden.

An besagtem Dienstagabend saßen der Dirigent und Pianist Dirk Joeres, der Philosoph Gerd Achenbach sowie dessen weit bekannterer philosophischer Kollege Rüdiger Safranski  hier diskutierend beisammen. Star des erstaunlicherweise sehr gut besuchten Intellektuellenabends war natürlich Safranski, Verfasser eines jüngst überaus populär gewordenen und in der Tat sehr guten Buches über Friedrich Schiller und die Erfindung des deutschen Idealismus. Bei  Vortrag, Lesung und Diskussion erfuhren wir so allerlei. Manches war nicht ganz neu, einiges allerdings geradezu erstaunlich.

Zu Letzterem zählt die Mitteilung, dass unser aller geliebter Denker, Dichter und Stückeschreiber Friedrich Schiller sich zwar einerseits von Freunden oder der Ehefrau beim Schreiben ganz gern musikalisch begleiten ließ. Musik war für ihn ein Arbeitsstimulans, wie – das mag einem nun gefallen oder nicht - Kaffee, Tabak, Wein und Bier, denen er fortwährend und reichlich zusprach. Andererseits aber nahm Schiller der Musik gegenüber im Grundsatz zeitlebens eine distanzierte Haltung ein. Die Macht der Musik über das Herz, ihr ungeheurer Einfluss auf die Emotionen waren ihm nicht geheuer.

Bekannt ist, dass Schiller Musik von Johann Sebastian Bach mochte, sofern sie nicht zu sehr die Emotionen kitzelte, sondern vor allem auf Ordnung, strengen Aufbau und strukturelle Schönheit abhob. Überliefert ist, dass er beispielsweise Haydns „Schöpfung“ grässlich fand. Hinter dieser Haltung steckt kein geringerer als Immanuel Kant, dem die Musik wegen ihres libidinösen Charakters und ihrer vermeintlichen Geist-Ferne nicht minder suspekt war, als dem Kant-Verehrer Schiller. Beide mochten es nicht sonderlich, wenn eine äußere Macht, wie die Musik eine ist, über die Anrührung, die Mobilisierung von Instinkten, Trieben und Fleischlichkeit Einfluss auf ihr Befinden, damit auf ihre Gefühlsbeherrschung nahm.

Die Mehrheit des Publikums seit Beethoven, spätestens seit der Romantik und bis heute erhofft, erwartet, ja fordert von der Musik geradezu, sie möge anrühren, möge ergreifen, möge aufregen, bestürzen oder in  Entzücken versetzen. Was schließlich wäre uns beispielsweise der heutige Konzertnachmittag, würden nicht wenigstens hie und da Sinne, Herz und Seele in Schwingung versetzt? Langweilig, öde, allenfalls noch interessant. Kant und Schiller jedoch sahen in den gefühlsaktivierenden Eigenschaften der Musik eine Art außengesteuerter Überwältigung des Ichs. Der Weimarer „Freiheits-Trompeter“, wie Friedrich Nietzsche den Schiller durchaus abfällig nannte, sah in der sinnlichen  Wirkkraft der Musik gewissermaßen einen Anschlag auf das in geistiger Selbstbestimmung zur Freiheit strebende Individuum. Diese Lust-Feindlichkeit im sonst so schwärmerischen, so pathetischen  Idealismus ist von heute aus betrachtet und nach meinem Dafürhalten eine der absurdesten Erscheinungen in der deutschen Geistesgeschichte.

Schiller kam 1759 in Marbach am Neckar zur Welt, war also nur 11 Jähre älter als der 1770 in Bonn geborene Beethoven. Dennoch sind die beiden, nach allem, was ich weiß, sich nie begegnet. Ob der Dichter je ein Werk des Musikgiganten gehört hat, ist ungewiss. Dass umgekehrt Beethoven von Schillers Werken begeistert war, ist verbürgt – die Verwendung von dessen „Ode an die Freude“ für den Schlusschor der 9. Sinfonie kein Zufall. Die Diskutantenrunde vom Dienstag hatte kurz die spekulative Frage aufgeworfen, was für geniale Funken eine Begegnung, gar ein Zusammenwirken der beiden großen Männer wohl hätte schlagen können? Ich bin allerdings ausgesprochen skeptisch, ob die zwei sich vertragen hätten. Zumindest ist es sehr wahrscheinlich, dass Schiller mit der Beethovenschen Musik nicht richtig warm geworden wäre.

Setzen wir doch einfach mal das dritte Klavierkonzert Beethovens, das wir nachher zu hören bekommen, in Beziehung zu der vorhin entwickelten Haltung Schillers oder auch Kants zur Musik generell. Es handelt sich bei dem um 1800 entstandenen Klavierkonzert um ein großartiges, im buchstäblichen Wortsinn „überwältigendes“ Klangwerk. Der Komponist selbst wusste, dass er einen wirklich großen Wurf in der Hinterhand hatte, als er die beiden Vorgänger, das erste und das zweite Klavierkonzert, verkaufte. Seinem Verleger gegenüber soll er dabei geäußert haben, er besitze auch noch besseres, wolle das aber einstweilen für eine Konzertreise behalten. Er meinte das 3. Klavierkonzert.

Mit einem simplen, zweitaktigen Dreiklangmotiv, gefolgt von einem ebenfalls zweitaktigen punktierten Rhythmus-Abklang führt das c-Moll-Konzert sein Hauptthema ein. Tiefe Streicher stellen es vor, Holzbläser greifen es in erhöhter Lage leicht verändert auf. Schiller hätte bis dahin gewiss keine Einwände gehabt – das hat seine Ordnung, provoziert keine Beunruhigung, lässt dem Geist seine Freiheit. Schon Sekunden später freilich beginnt Beethoven mit dramatisch sich steigernden Vollklängen sein geniales Spiel mit der menschlichen Empathie. Düstere, tragische bis kämpferische Zungenschläge wechseln mit zauberhaft schlichten, leichten bis melancholischen Liedmotiven. Dies extrem kontrastierende Wechselspiel prägt das gesamte Klavierkonzert.

Bleiben wir noch einen Moment beim ersten Satz, dem Allegro con brio. Zu den Kontrasten des mit 111 Takten damals unglaublich langen Orchestervorspiels, gesellt sich dann das Klavier. Mit donnernden C-Dur-Tonleitern und dem Eingangsmotiv tritt es an, um alsbald schwärmerisch, melancholisch, zart anrührend eine ganz eigene Thematik zu entfalten. Das wurde immer wieder als eine Art Liebesdienst oder Hommage an den Prinzen Louis Ferdinand von Preußen verstanden, dem Beethoven das Werk gewidmet hat und mit dem er auch befreundet war. Dieser Neffe Friedrichs des Großen soll ein heftig bewegter Frühromantiker gewesen sein.

Die Spannung zwischen extremen Stimmungskontrasten durchwirkt nicht nur beide Ecksätze des Konzertes, sondern bestimmt auch deren Verhältnis zum Largo-Mittelsatz. Beethoven verlässt dort das c-Moll, das im dritten Klavierkonzert eine Schwere und Ernsthaftigkeit des Denkens und Fühlens zeigt, wie es noch keinem seiner vorherigen Werke eigen war. Der Mittelsatz steht in E-Dur, entfernt sich allein dadurch atmosphärisch himmelweit von den beiden Nachbarn. Im Largo „träume Beethoven sich schwermütig, schwerblütig weg“ heißt es irgendwo in der Literatur.
 
Sie bemerken inzwischen sicherlich, dass solche Art Musik Schiller hätte in hohem Maße irritieren müssen. Man kann ihn förmlich Richtung Bonn wettern hören: „Aber um Gottes Willen, wozu nur, Freund Beethoven, warum nur machst du uns das Herz derart rasen, die Hände schwitzen, die Augen tränen und das Gemüt schwer? Welche Sache, welche Angelegenheit, welches Vorkommnis, welches Verhältnis oder  welches Ziel, verehrter Ludwig, begründet solch einen inneren Aufruhr?“ So oder ähnlich würde ausgerechnet jener Dichter insistieren, dessen Gesamtwerk nicht zuletzt von Gefühlswallung und Pathos lebt, wie kaum ein anderes. Das Toben des Herzens indes braucht für Schiller einen geistig durchdringbaren, damit perspektivisch beherrschbaren Gegenstand als Anlass - andernfalls wäre es nur kreatürliche Tobsucht.

Schiller würde vielleicht noch die von Beethoven bis dahin nie erreichte Höhe der formalen Gestaltung, der konzertanten Struktur des Werkes honorieren können. Er würde vielleicht erkennen, dass mit dem dritten Klavierkonzert die Tradition des gezierten Austausches musikalischer Gedanken zwischen Orchester und Solist überwunden ist - und dass Beethoven an dessen Stelle den bisweilen durchaus auch geharnischten Widerstreit musikalischer Ideen stellt. Aber es bleiben eben absolut-musikalischeIdeen, damit für unseren Denker und Literaten leidlich irrelevante, in denen das Bauch-Gefühl wuchert, die allein auf das Bauch-Gefühl einwirken und auch bloß Bauch-Gefühle zur Folge haben. Pathos auf solch vermeintlich geistloser Grundlage fiel bei Schiller gewöhnlich unter die Kategorie „falsches Pathos“.

Shakespeare wusste es dank genauer Lebensbeobachtung noch und wir wissen es dank der Wissenschaften wieder: Der Mensch ist eine Ganzheit aus profanen Körperbedürfnissen, lüstlich-affektiven Abgründen, sozialen Vernetzungen und geistigen Potenzialen. Dass auch Beethoven sich dessen gewiss war, darf angenommen werden. Die multiplen Schichten seiner Werke sprechen dafür. Der letzte Satz des dritten Klavierkonzerts etwa kann auch als Kaleidoskop menschlicher Ambivalenz gehört werden: Diese hochvirtuose Konstruktion, die den Musikern, insbesondere dem Solisten allerhand abverlangt, diese Konstruktion verbindet romantisierendes Schwärmen mit Ironie und bärbeißigem Witz, ebenso mit teils rüder Trotzköpfigkeit, mit Zorn oder bizarr auftrumpfender Dämonie.

Die Meisterschaft Beethovens besteht darin, die oft feindlich gegenüberstehenden Aspekte in einer kunstvollen Synthese miteinander zu verschmelzen. Und das, ohne die dialektischen schwierigen Beziehungen zwischen Rausch und Ratio, zwischen Natur und Kultur zu vernebeln. Beethoven wäre wohl kaum wie Schiller auf den Gedanken gekommen, die Niederringung natürlicher Libido durch den Geist zum Veredelungs-Programm zu verklären. Erlauben Sie mir, diesen Abschnitt meines Vortrags mit einem vielleicht ketzerisch anmutenden Gedanken zu beschließen: Im Verständnis der dialektischen Eigenart des Menschlichen war Herr Beethoven dem Herrn Schiller - dank der Musik - ein gutes Stück voraus.

Eine kleine Anekdote, das dritte Klavierkonzert betreffend, muss noch erzählt sein. Das Werk markiert eine Wende im Leben Beethovens – weg vom vorwiegend pianistischen Virtuosendasein,  hin zum Wirken vornehmlich als Komponist. Noch einmal übernahm Ludwig für die Uraufführung 1803 in Wien den Solopart. Er hatte Ignaz Xaver von Seyfried gebeten, ihm beim Konzert umzublättern. Was dieser nun schildert, zeigt uns: Da saß nicht einfach ein formidabler Klaviervirtuose am Piano, sondern mehr noch ein begnadeter, sich seines Talents und seiner Reife bewusster Musikerfinder. Seyfried schlug das Notenbuch auf – und geriet in nicht eben geringe Verlegenheit. Er schrieb: „Ich erblickte fast lauter leere Blätter, höchstens auf einer oder der anderen Seite ein paar mir recht unverständliche ägyptische Hieroglyphen hingekritzelt.“ Beethoven hat den gesamten Solopart während der Uraufführung improvisiert – und soll sich dabei auch noch herzlich über Seyfrieds Nöte amüsiert haben.

Wir verlassen nun Beethoven und wenden uns dem zweiten Großwerk dieses Nachmittags zu, der dritten Sinfonie des 1865 geborenen, 1957 gestorbenen Jean Sibelius.

Die Versuchung war und ist groß, die Werke von Sibelius als musikalischen Ausdruck der einzigartigen, herb-schönen Landschaft seiner finnischen Heimat zu erklären und zu interpretieren. Weit, einsam, kahl, vernebelt, windumtost und fest im Griff endloser Winter, scheint das von mystischen Wesenheiten und mythischen Figuren bewohnte Land die Musik dieses ersten großen Sinfonikers der Nordens maßgeblich inspiriert zu haben. Natürlich prägt die Lebensumgebung und deren Geschichte einen Komponisten. Doch darf man nicht vergessen, die musikalische Umgebung von Sibelius war vor allem die Musikwelt Europas. Was er spielte, was er hörte, was er analysierte, dies Repertoire unterschied sich kaum von dem seiner Musikkollegen in Deutschland oder Frankreich.

Der Befund „typisch finnisch“ für seine Musik ist ein Irrtum. Er rührt daher, dass Sibelius der erste bekennende, nationalstolze Finne war, der den Klangschätzen Europas Musik von Rang beifügte. Der Charakter dieser Musik ist eindeutig europäisch-spätromantisch, freilich mit einer Sibelius-eigenen Färbung. Dieser hängte man das Etikett „finnisch“ an, weil es andere nennenswerte Musik aus Finnland eben gar nicht gab. „Typisch finnisch“ meint eigentlich „typisch Sibelius“. Dessen Stärke lag auch gar nicht im illustrativen Genre; viel mehr als etwa musikalische Landschaftsassoziationen interessierte es den Komponisten, aus der Metamorphose winziger  Motivsplitter opulente Klangbilder und organische Werkstrukturen von starker emotionaler Wirkung zu entwickeln.

Er selbst beschrieb sein Tun folgendermaßen: „Es ist, als hätte der Allmächtige einige Bruchstücke aus dem Mosaikboden des Himmels herabgeworfen und mir aufgetragen, sie zusammenzufügen.“ Seine dritte Sinfonie beginnt mit einem ganz einfachen Motiv aus treibenden Sechzehnteln und Achteln. Aus dem heraus entfaltet Sibelius den ersten Satz als schier exemplarische klassische Sonatenform. Das rhythmische Treiben des Beginns durchzieht den gesamten ersten Satz, wird auch im dritten wieder aufgegriffen. Erst empfindet man
es als ziemliche Beunruhigung, bald jedoch geschieht, was wir aus der Minimalmusic der jüngeren Moderne kennen: die stetige Wiederkehr beginnt meditativ zu wirken. Sibelius lässt den Hörer in diesem Werk viel eher zur Ruhe kommen als in seiner vorherigen zweiten Sinfonie, in dem die Bläser noch im Vordergrund standen und eine spätromantische monumentale Überfülle an Motiven, Bildern Affekten herrschte.
             
Die dritte Sinfonie gilt als das erste wirkliche Meisterwerk von Sibelius, weil die Musik konzentriert ist und in fast klassischer Klarheit abläuft. Der langsame zweite Satz ist für mich ein kleines Wunderwerk. Wie dort Empfindungsnuancen in einer wechselwirkenden Schwebe gehalten werden ist fantastisch.  Über ein geheimnisvolles, ganz leises Pochen und  Raunen in tiefen Registern legen zwei Flöten eine sehr schlichte Melodie. Damit ist die Grundstimmung gegeben: Melancholie. Eine gefährlich ambivalente Stimmung, wie wir aus der Literatur und die meisten wohl auch aus eigenem Erleben wissen. Melancholie kann das lächelnde Eins-Sein mit sich und der Umgebung bedeuten oder die weltentrückte, aber zufriedene Einsamkeit. Ebenso kann sie das Sehnen des Einsamen nach Zweisamkeit enthalten, kann dem Lächeln kleinere oder größere Portionen von Kummer beimischen. Und schließlich ist die Melancholie auch noch ein direkter Nachbar zum Weltschmerz.

Sibelius spielt auf geniale Weise mit all diesen und noch einigen anderen Nuancen. Da drohen dreifach geteilte Celli die Stimmung immer weiter ins bodenlose hinab zu ziehen. Im Gegenzug bemühen sich die Holzbläser mit Hingabe um Aufmunterung, ja um Heiterkeit. Beinahe wäre ihnen Erfolg beschieden – doch der Mittelsatz endet im Moll, das allerdings keineswegs alle Türen zu neuen Hoffnungen zuschlägt.

Lassen Sie mich an dieser Stelle noch einmal einen kleinen Exkurs zum 3klang-Festival machen. Und zwar zur zweiten Veranstaltung am vergangenen Donnerstag in der Koblenzer Universität. Dort erklärte  der Neurologe und Musikmediziner Professor Eckart Altenmüller manch Erhellendes aus den jüngsten Forschungen über die Wirkungen von Musik in unserem Hirn. Sie werden nachher mit ziemlicher Sicherheit beim Hören des zweiten Satzes der Sibelius-Sinfonie eine gewisse emotionale Anrührung erfahren. Hirnphysiologisch betrachtet haben sie dann – Achtung! – ein sexuelles Erlebnis. Das ist von Hörer zu Hörer verschieden stark ausgeprägt. Aber, so Altenmüller über die neuere Gehirnforschung, die Musik stimuliert unter anderem eindeutig dieselben Hirnzentren wie Sex oder auch Rauschmittelkonsum.

Diese Stimulation ist vom Individuum willentlich nicht steuerbar, niemand kann sich ihr entziehen – es sei denn, es verlässt fluchtartig den Konzertsaal. Shakespeare, Nietzsche oder Freud hätten sich darüber kaum gewundert – für sie gehörten die unbewussten Lüste zum Menschsein. Kant, Schiller, selbst Theodor W. Adorno würden mit den Zähnen knirschen über dieses anhaltende Geworfensein des Ichs ins Netzwerk unbewusster Natur. Für unsereinen ändert sich durch die Altenmüllerschen Erkenntnisse praktisch wenig: Oder wussten wir nicht schon immer, Hand aufs Herz, dass wahres Musikerleben stets auch mit Erregungs- und Beglückungszuständen, mit sinnlicher Überwältigung und Sich-Hingeben zu tun hat? Musik ist nun mal eine Himmelsmacht, wie die Liebe auch. Und der konnte man noch nie nachsagen, sie bleibe allweil nur gefasst am Spinnrad sitzen.    

Aber zurück zu Sibelius. Der Schlusssatz der dritten Sinfonie ist eine eigenartige Konstruktion, die sonst nirgends in Sibelius Lebenswerk eine Entsprechung hat. Er besteht aus zwei sehr verschiedenartigen, aber bruchlos miteinander verknüpften Teilen. Leicht, fast vergnügt hebt der erste an, tanzt scherzomäßig dahin. Die Stimmung stolpert allerdings immer wieder über momenthaft dazwischen fauchende Dramatiksplitter in Moll. Nachher beginnt sich, ein völlig neues Thema einzumischen,  das die treibende Rhythmik des ersten Satzes wieder aufgreift, um sich alsbald über einem wuchtigen Orgelpunkt zu einem imposanten majestoso-Schluss zu verdichten.

Sibelius wurde oft als einsamer Vollender der Spätromantik beschrieben. Vielleicht hätte er es werden können. Stattdessen aber nahm das Leben des Finnen eine in ihrer Stille überaus tragische Wendung: Mitte der 1920er-Jahre, bald nach den Uraufführungen seiner 7. Sinfonie, der Bühnenmusik zu Shakespeares „Sturm“ und der Tondichtung „Tapiola“ begann Sibelius musikalisch zu verstummen. Von 1926 an gelang dem Komponisten in seinem zurückgezogenen Domizil in Järvenpää bei Helsinki nichts mehr von Bedeutung. 1929 vernichtete er die Skizzen zur 8. Sinfonie. Von da an völliges Schweigen, fast zwei Jahrzehnte lang, bis zu seinem Tod am 20. September 1957.  Über die Ursachen für diese Entwicklung gehen die Meinungen in der Literatur auseinander. Von psychologischen Spätfolgen der Trunksucht, der Sibelius sich über viele Jahre ergab, ist die Rede. Von einer Depression, die das Versiegen der schöpferischen Kraft verursachte. Ebenso umgekehrt von einem Versiegen der Kreativität, das zu einer umfassenden Depression geführt hätte.

Das dritte Klavierkonzert als Wendepunkt im Schaffen Beethovens; die dritte Sinfonie als Meilenstein im Ouvre von Sibelius – solche Bedeutungsschwere fehlt dem ersten Programmpunkt des heutigen Konzerts. Sieht man davon ab, dass die Ouvertüre C-Dur 591 vielleicht das erste Orchesterwerk von Franz Schubert war, das öffentlich aufgeführt wurde. Das wäre dann am 1. März 1818 im Saal „Zum Römischen Kaiser“ in Wien gewesen. Möglicherweise wurde dort aber die Ouvertüre D-Dur 590 und nicht die 591 vorgestellt. Man weiß es nicht, es ist auch nicht so wichtig – denn beide Werke entstanden erstens) zur gleichen Zeit, nämlich 1817; tragen zweitens) den Zusatz „im italienischen Stil“ und gehen drittens) angeblich auf eine ziemlich großmäulige Wette unter jugendlichen Freunden zurück.

Laut Schuberts erstem großen Biographen mit Namen Kreißle von Hellborn besuchte der 20-Jährige mit Kumpanen in Wien eine Aufführung der Oper „Tancredi“ von Rossini. Die schwungvolle Musik des Italieners versetzte seinerzeit nicht nur die Wiener Gesellschaft in helle Begeisterung. Der junge Franz Schubert, nicht eben bescheiden, wettete nach der Aufführung angeblich darauf,  dass er es allemal und aus dem Handgelenk dem Herrn Rossini gleichtun könne. Er komponierte dann, ziemlich auf die Schnelle, die besagten beiden Konzert-Ouvertüren, von denen wir die in C-Dur jetzt zu hören bekommen. Dass sie erstaunlich treffsicher den italienischen Stil packt, ist unzweifelhaft. Ebenso unzweifelhaft ist, dass Schubert dem Werk zugleich den Stempel seiner Eigenart aufgedrückt hat. Ob es dem damals noch weitgehend unbekannten 20-Jährigen allerdings schon gelang, dem Superstar Rossini musikalisch auf gleicher Augenhöhe entgegen zu treten, das zu beurteilen, überlasse ich ganz Ihnen.

Womit ich am Ende meines Vortrages angelangt wäre. Bleibt mir nur noch, einen schönen Sommer zu wünschen. Das erste Görreshaus-Konzert der Saison 2006 ist für den 22. Januar im Kalender eingetragen, also 5 Tage vor Mozarts 250. Geburtstag. Sie werden bis dahin musikalisch gewiss nicht darben müssen, denn eine ganze Reihe von Musikfestivals in der Umgebung schüttet ein wahres Füllhorn von Konzertverlockungen aus.  Hingewiesen sei auf den Start des RheinVokal-Festivals am 18. Juni in der Kastorkirche sowie das Gala-Feuerwerkskonzert zur Eröffnung der Mittelrhein Musik Momente am 1. Julei vor dem Koblenzer Schloss.

Und ein letzter Hinweis: Der dritte und letzte Abend des heute mehrfach angesprochenen 3Klang-Festivals findet morgen ab 19.30 Uhr im großen Hörsaal, Gebäude D, der Universität Koblenz statt. Vorträge, Diskussion und orchestrale Musikbeispiele behandeln dort das Thema des geistigen und kulturellen Aufbruchs von der Spätromantik in die Moderne.

Nun viel Freude beim Konzert
Und herzlichen Dank für ihre Aufmerksamkeit
 
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