Kritiken Theater
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2005-11-11: Ballett
Sehnsucht nach Grundvertrauen
Programm XIX beim ballettmainz: Europäisches Rätselmosaik und eine Zweisamkeit bedingungsloser Hingabe
 
ape. Mainz. Es ist und bleibt auch über den Weggang von Intendant Georges Delnon Ende dieser Saison die herausragende Kunstschmiede in Rheinland-Pfalz: das ballettmainz unter Martin Schläpfer. Sein neues Programm XIX verlangt dem Publikum allerhand Mit- und Nachdenken ab - über Ballettkunst ohne Musik, über Verwerfungen in Europa, über das Sehnen nach bedingungslosem Vertrauen in einer Zeit wütender Vereinsamung.
 
"Tänze", die jetzt uraufgeführte jüngste Choreografie von Martin Schläpfer, verursacht Irritationen. Nicht nur, weil sich der übergreifende Sinn zahlloser, wunderbar ausgeführter Einzelaktionen kaum erschließen lässt. 75 Minuten dauert der erste Teil von Programm XIX, nur 20 davon durch kleine Klaviermusiken grundiert. Über den großen Rest ist das Ballett einer seiner tragenden Säulen gänzlich beraubt, der Musik. Ein Experiment? Eines, das Befremden bewusst provoziert? "Ich glaubte, die Musik zu hören; ich glaubte, dass Sie froh wären, mich zu sehen", sagt ein Protagonist nach einer halben Stunde - die sich in ihrer Musiklosigkeit schmerzhaft leer anfühlte. Nein, wir hörten auch im Geiste keine Musik und wurden des bis dahin Gesehenen - wie von Schläpfer offenbar beabsichtigt - nicht recht froh. Weshalb zu attestieren wäre: Experiment gelungen.

Die folgende Dreiviertelstunde sei fürs Erste übersprungen, um baldigst von einem so nicht erwarteten, schier zu Tränen rührenden Höhepunkt im zweiten Abendteil zu künden. Deshalb auch zum dritten Teil, der Schläpfer-Uraufführung "Streichquartett", nur dies: Eine sehr sauber in neoklassischer Strenge gehaltene Arbeit mit einigen Persiflage-Momenten auf historische Tanzstile.

Der junge Franzose Eric Oberdorff ließ seine Choreografie "A Momentary Lapse Of Being" vom ballettmainz uraufführen. Im Zentrum tanzen Yuko Kato und Nick Hobbs ein einsames Pas de deux, das im Augenblick wohl zu den zärtlichsten und bewegendsten Hervorbringungen des zeitgenössischen Balletts gerechnet werden darf.

Arvo Pärts Musik "Spiegel im Spiegel" steckt in seiner berührenden Schlichtheit den Rahmen für eine Zweisamkeit, die in tänzerischer Buchstäblichkeit auf ein Grundvertrauen baut, nie fallen gelassen, stets aufgefangen und getragen zu werden. Dies selbst dort, wo der Fall Folge einer Abwendung des Einen vom Anderen ist.

Kato und Hobbs sind in langsamen, konzentrierten Figuren ganz bei sich, ganz beieinander. Und sie sind völlig frei von Scham gegenüber "uncoolen" Gesten Schutz suchender Zärtlichkeit, Wärme und Trost erbittender Hingebung. Dieses so leise, so große Pas de Deux ersteht als Kontrast zu einer düsteren Szenerie aggressiver Vereinsamung bei einer Gruppe junger Leute. Die rennen gegen eine schwarze Wand an, gehen tatsächlich "die Wände hoch". Daraus kann nur die Sehnsucht nach dem erwachsen, was Kato und Hobbs sich zu eigen machen.

Zurück zu Schläpfers Experiment, das mit einer humorigen, aber fast politischen Tanztheater-Sequenz schließt. Im verstolperten Humtata-Marschtritt pflanzen Burschen ein EU-Fähnlein auf. Darum versammeln sich die EU-Nationen (Tänzer mit Flaggen auf der Brust, Deutschland im schwarzen Trauerflor), um die in Demutshaltung angetretenen EU-Neulinge auf Mitgliedswürdigkeit zu prüfen. Der Türke (Bogdan Nicula, der insgesamt einen großen Abend tanzte) muss sich nackt inquisitorischen Blicken stellen. Die Schweiz kreuzt derweil im feschen roten Minikleidchen (Kostüme: Marie-Thérèse Jossen) ungerührt die Szene, wird von der übrigen Bagage mit erhobenem Stinkefinger abgestraft.

Vom Ende aus betrachtet, gewinnt das opulente Rätselmosaik dieser Choreografie plötzlich neue Interpretationsdimensionen. Wir hatten zuvor Menschen gesehen, die sich nicht nur voneinander unterscheiden, sondern auch in sich sehr verschieden waren: Mal tanzend in klassischer Eleganz, mal archaisch, mal folkloristisch, mal bis zur Hässlichkeit entstellt. Schläpfer konfrontiert mit einer Fülle an Varianten, die an einem Abend kaum alle erfassbar sind. Europa? Menschen in Europa? Vielfalt, die zueinander finden soll, der jedoch die polyphone Toleranz als Zentrum ebenso sehr fehlt wie dem Ballett in dieser Choreografie die Musik? Dem Befremden folgt das Denken. Gut so.
 
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