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2005-12-01:
Neurobiologie stellt die Maxime
"üben, üben, üben!" in Frage

Hirnforschung stärkt der Musikpädagogik den Rücken, verlangt zugleich die Revision manch ehrwürdiger Übepraxis – Ein Kongress in Mainz
 
ape. Mainz. Die Musikpädagogik hat einen einflussreichen Verbündeten aus der Naturwissenschaft bekommen: die Neurobiologie und ihre Anverwandten. Wo und wann immer derzeit die Diskussion auf die Qualitäten des Lernens kommt, kann die positive Wirkung des Musizierens auf den schulischen Alltag sowie die individuelle Aufnahmefähigkeit von Schülern in allen Fächern mit den Ergebnissen der jüngeren Hirnforschung untermauert werden.
 
Doch dieser Verbündete,  der dem Fach Musik und dem Musizieren vor allem im Pisa-Folgediskurs zu neuem Gewicht verhilft, ist zugleich für die Musikpädagogen selbst ein  unbequemer Partner. Stellt er doch auch scheinbar bewährte, eherne oder nur unausrottbare Praktiken des musikalischen Lehr- und Lernbetriebes in Frage. Dies verdeutlichte eine Tagung am Mainzer Peter-Cornelius-Konservatorium (PCK), die Neurowissenschaftler und Sportpsychologen mit Musikpädagogen ins Gespräch brachte.

Das Tagungsmotto „Üben, üben, üben ... – Erfolgsrezept von  Musikergenerationen?“ weist auf eines der Kernprobleme hin: Ohne Üben geht in der Musik bekanntlich gar nichts, doch das Bestehen auf mehrstündigen Instrumental-Drill am Stück sei Unsinn, ja kontraproduktiv. Diese vom Neurowissenschaftler Victor Candia vorgetragene Ansicht wurde vom Sportpsychologen Jürgen Beckmann mit dem Hinweis auf das im Sport wohlbekannte Phänomen des Leistungsabfalls infolge Übertrainierung gestützt.

Das Gehirn, weiß man heute, ist eine sich selbst organisierende Giga-Maschine, deren Leistungsvermögen auch den modernsten Großrechner locker in den Schatten stellt. Es mag Wiederholungsübungen seines Besitzers bis zu einem gewissen Grad ganz gern, und baut sie als Erfahrung in sein Verschaltungssystem ein. Der Lernerfolg ist da. Wird das Üben aber zu viel, zu einseitig, zu verkrampft, versucht das Organ den Gesamtorganismus durch Schaltungsverweigerung und Umschalten zu schützen. Der Lernerfolg bleibt aus.

Was bedeutet ein solcher neurologischer, vom bewussten Wollen kaum beeinflussbarer  Mechanismus für die musikalische Praxis? Übe- oder Lernblöcken können nicht beliebig ausgedehnt werden. Der Lernerfolg fällt anfangs am größten aus, nimmt mit zunehmender Dauer des Wiederholungsübens ab, bis er schleißlich –  individuell verschieden - bei Null ankommt. Eine weitere Ausdehnung der Übezeit wäre völlig sinnlos, blindwütiges Repetieren über Stunden eine Tortur mit allenfalls negativen Ergebnissen. Konsequenz für die Musikpädagogik: Es geht nicht vorrangig um das Quantum des Übens, sondern um die Qualität des Übe-Prozesses.

Eine der zentralen Anregungen des Mainzer Kongresses lautet deshalb: Wie der zumeist nur wöchentliche Unterricht, so muss auch das tägliche Üben didaktisch durchstrukturiert sein. Das wiederum heißt: Schüler, Instrumentalschüler zumal, müssen im Unterricht auch lernen, wie man tagtäglich in eigener Verantwortung „richtig“ übt. Im Übe-Prozess lommt Planmäßigkeit eine ebenso große Rolle zu wie Spontaneität, Abwechslung durch Methoden- und Stoffwechsel, Wertschätzung des spielerischen wie kreativen Tuns. Für die jüngere Didaktik mag das zwar keine revolutionäre Offenbarung sein. Aber erstens sieht die Alltags-Routine dann wieder ganz anders aus. Und zweitens ist die jetzt auch naturwissenschaftliche Fundierung der Forderung nach dem so genannten „differenziellen Lernen“ doch ziemlich neu.

Bisher weitgehend unterschätzt wurde nach Ansicht der meisten Referenten in Mainz die Bedeutung der Entspannungs- und Ruhephasen. In diesen nämlich geschieht das Entscheidende: die nachverarbeitende Verankerung der beim Üben begegneten Gegenstände und Bewegungen im Gehirn. Das vollbringt deutlich bessere Lernleistungen, wenn  nicht widerwillig in wuchtigen Blöcken, sondern in kleinen,  auf den Tag  verteilten Zeitfenstern lustvoll und in eigener Verantwortung abwechslungsreich gearbeitet wird. Eines der erstaunlichsten Forschungsergebnisse der Neurobiologie sagt sogar: Richtige Spitzenleistungen des Nach-Lernens erzielt das Gehirn in Schlafphasen.

Damit käme der Mittagsschlaf und das Lernen/Üben während der Abendstunden wieder zu Ehren. Damit verdienen auch all jene Methoden wieder gesteigerte Aufmerksamkeit, die das spielerisch-kreative Element im Unterricht und beim Üben stärken. PCK-Direktor Gerhard Scholz plädierte beispielsweise für eine Renaissance des Improvisierens. Die Kölner Musikhochschul-Dozentin Linda Langehein hält Entspannungsübungen vor und während des Musizierens für unverzichtbar. Ihre Spezialität, das „mentale Üben“ - also etwa das nur gedankliche Durchspielen von besonders schweren Stellen –, stellt eine viel versprechende Abwechslung im instrumentalen Exerzitium dar.

Ein interessanter Hinweis Langeheins gilt der Angst vor solchen Stellen: Sie wird, so neuere Erkenntnisse, beim Üben mitgelernt und im Hirn abgespeichert. Selbst wenn die Stelle später klappen sollte, die Angst davor lauert weiter in den Tiefen des Gehirns. Dies kann verhindern, wer von vornherein die Problempassage in möglichst einfache Kleinteile zerlegt und sich ihrer möglichst entspannt annimmt. In eine ähnliche Richtung geht die Züricher Konservatoriums-Dozentin Brigitte Bryner-Kronjäger, die beim Üben der Wiederholung von Erfolg höchsten Stellenwert beimisst und das Experimentieren für wichtiger hält als die ausschließliche Fixierung auf den zwanghaften Durchmarsch zum Richtigen.          

Lernerfolg durch Anwechslung, Umwege, Fehler oder vom Kernstoff scheinbar ablenkende Spielereien und Experimente, durch Ruhe und Entspannung: Hierin fanden in Mainz Neurowissenschaft, Sportpsychologie und jüngere Musikpädagogik erstaunlich viele Übereinstimmungen. Sind also künftighin Schüler  der Notwendigkeit des Fleißes enthoben? Mitnichten. Aber sie, mehr noch Pädagogen und Eltern müssen wohl ein anderes Verständnis von Fleiß entwickeln. Und das ist, auch das wurde bei dieser Tagung deutlich, um einiges anspruchsvoller als die simple Lernmaxime „üben, üben, üben“.
 
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