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2006-10-11 Buchkritik:
Bruderliebe auf dem Dach der Welt

Christoph Ransmayrs Roman "Der fliegende Berg" ist ein riskanter, aber grandioser Balanceakt auf dem schmalen Grat zwischen Kitsch und Kunst 
 
ape. „Ich starb / 6840 Meter über dem Meeresspiegel / am vierten Mai im Jahr des Pferdes.“ Dies  sind die ersten Verse, ist die erste Strophe von Christoph Ransmayrs neuem Buch „Der fliegende Berg“. Elf Jahre nach „Morbus Kitahara“, 18 nach „Die letzte Welt“ und 22 nach dem Erstling „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ endlich wieder einer seiner so seltenen, stets so seltsam berührenden Romane. Dieser schaut ungewöhnlich aus, wirkt mit seinem linksbündigen Flattersatz, der teils rhythmisierten und poetisch überhöhten Sprache eher wie ein Versepos. Die äußere Form ist anfangs gewöhnungsbedürftig, erleichtert dann aber das sinnhafte Lesen; zum lauten Vorlesen ideal.

Eine Heldensaga im alten Mythenstil? Davon hat das Werk über zwei ungleiche Brüder auf Abenteuertour im Himalaya allerhand. Ransmayr erzählt nicht einfach eine Geschichte herunter, das tat er noch nie. Seine Romane ertasten vielmehr im Wechselspiel zwischen akutem Erleben und Biografie der Erlebenden Momente und Fragen grundhumaner, existenzieller Bedeutung. Der obige erste Satz entfaltet gleich zum Auftakt das gesamte Panorama des jüngsten Romans: Das reicht vom Meer zum Dach der Welt; das umfasst europäische und asiatische Kultur; das handelt vom Sterben, also auch vom Leben zwischen Extremen.

Das Meer brandet an die irische Küste, wo der robuste Liam und sein schwächlicher Bruder Pad, der Ich-Erzähler, ihre Kindheit unter einem Vater verbrachten, der völlig dem anti-englischen Iren-Patriotismus ergeben war, aber keiner Seele etwas zu Leide tun konnte. Ein knorriger Maulheld des Befreiungskampfes, dogmatisch in einem Ausmaß, dass es fast schon wieder liebenswerte Spleenigkeit ist. „Manöver“ nannte „Captain Daddy“ die Trekking-Ausflüge mit den Söhnen ins Hügelland. Liam immer abenteuerlustig vorweg, Pad als „Kleiner“ eher lustlos hinterdrein: Zwei Brüder in Hassliebe vereint, dann von Lebenswegen getrennt, als Erwachsene zum Himalaya-Projekt wieder vereint. 

Von der irischen See zu den Weidengründen eines osttibetischen Nomadenstammes auf über 4000 Meter Höhe, von dort zum Gipfel des auf noch keiner Karte verzeichneten „fliegenden Berges“ -  der Abenteuerweg auf der Vertikalen wird für die Brüder auch ein Weg bald rückwärts, bald vorwärts durch die Zeit, ihre Zeit des Miteinander, Gegeneinander, Ohneeinander. Der Weg gabelt sich mehrfach, droht sie auseinander zu bringen, weil „Master Kaltherz“, wie Liam vom Bruder genannt wird, nur die Ersteigung des Berges im Kopf hat, während Pad aus einer Liebe zur Nomadin Nyema neue Priorität erwächst.     

„Ich starb“, erinnert sich der Ich-Erzähler zum Romananfang an ein Gefühl in der letzten Phase der Bergbesteigung, zu der die Brüder dann doch gemeinsam aufgebrochen sind. Er, der Schwächliche, stirbt nur beinahe, der Andere, der Starke, kommt im Sturm um. Wie Ransmayr seine Figuren in extreme Lagen hoch droben im eisigen Reich der Götter treibt, in das keiner der Nomaden jemals einen Fuß setzen würde, so treibt er sie auch in extreme Gefühlzustände.

Dafür scheint dem Autor extremer Sprachausdruck angemessen. Erhabenheitsrhetorik vereint Berglandschaft und Liebe, Offenbarungspathos begegnet Esoterik-Honig, kreatürliche Sterbensangst fasst sich an höhenluftiger Lebenseuphorie ein jubilierendes Herz. Der Vorgängerroman „Morbus Kitahara“ war aus Worten wie in Marmor gemeißelt, sprachlich überirdisch schön – und wohl deshalb auch von einer irritierenden Kälte. Ransmayr ist ein begnadeter Sprachartist, weiß genau, was er wie bewirkt. Also tanzt „Der fliegende Berg“ ganz bewusst in überschäumender Gefühligkeit auf dem schmalen Grat zwischen Kitsch und Kunst.

Da geht auch mal ein Schritt daneben, greift vor allem der Ton im ewigen Eis endlich gefundener Bruderliebe allzu hoch hinaus in astrale Sphären und allzu tief hinein ins Ruf-der-Berge-Sentiment. Meist aber stellt der Autor eben noch die rechte Balance her – und schafft ein Werk, das dem Inhalt wie der Form nach aus dem steten Risiko des Absturzes die Energie gewinnt, sich zu einem faszinierenden literarischen Höhenflug aufzuschwingen. 
Andreas Pecht

Christoph Ransmayer: „Der fliegende Berg“. S.Fischer, 359 S., 19,90 Euro              
 
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