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2006-10-31 Feature:
Frank Schirrmachers ernste Plauderei

"FAZ"-Herausgeber mochte bei "Literatur live" in Koblenz nicht aus seinen Büchern lesen -  Stattdessen hielt er einen Vortrag über demographischen Wandel

 
ape. Koblenz. Mit dem „FAZ“-Herausgeber Frank Schirrmacher hatte die Koblenzer Buchhandlung Reuffel jetzt bei ihrer Reihe „Literatur live“ einen der einflussreichsten Publizisten Deutschlands zu Gast. Erwartet worden war, dass er aus „Minimum“, dem jüngeren seiner beiden Sachbuch-Bestseller, liest. Es kam anders: Der Autor hielt einen launigen Vortrag über Wirkungen und Herausforderungen des demographischen Wandels.
 
Tags zuvor sprach er in China mit Chinesen, jetzt spricht er in Koblenz zu deutschen Lesern seiner Bücher. Worüber? Beiderorts über einen eben stattfindenden,   nie dagewesenen Umbruch  in der Menschheitsgeschichte: Noch zu unseren Lebzeiten werden erstmals mehr alte als junge Menschen leben. Nicht nur in Deutschland, denn der Geburtenrückgang ist hier zwar besonders stark, aber im Grundsatz ein „epochales Phänomen“. Schon 2020 wird es so viele Chinesen jenseits des 60. Lebensjahres geben wie ganz Deutschland heute Einwohner zählt: 80 Millionen. Bis dahin sind allerdings die Deutschen schon wieder weniger geworden und  70-Jährige der am schnellsten wachsende Bevölkerungsteil.
 
Die Fakten und Fälle, mit denen Frank Schirrmacher dem Auditorium in der ausverkauften Reuffelschen Buchhandlung den demographischen Wandel vor Augen führt, sind dramatisch. Sie entstammen seinem 2004 erschienen Buch „Das Methusalem-Komplott“. Dessen Mischung aus Analyse und Alarmismus  hat der Demographie-Diskussion seither ordentlich Dampf gemacht.

Der oft kritisierte Aufregungs- und Missionars-Ton, zu dem Schirrmacher des Ernstes der Lage wegen durchaus steht, geht ihm vor dem Koblenzer Publikum völlig ab.  Im gemütlichen braunen Cordsakko steht er locker am Pult, liest nicht, sondern hält im Plauderton frei einen Vortrag zur Alterung der Gesellschaft. Bei aller Gelassenheit ist ihm das Thema doch sichtlich Herzenssache.
 
Bald fließt in die Darstellung der „Transformation einer Welt, in der wir groß geworden sind“ ein unerwarteter Satz ein: „Was da auf uns zukommt ist nicht die Apokalypse, sondern ein großes Abenteuer.“ Das ist live ein Zungenschlag, den es in Schirrmachers Büchern nicht gibt oder der überlagert wird vom zwischen allen Zeilen geisternden Trauergesang auf den Verlust des gesellschaftlichen Gestern. Besonders sein zweites Buch, „Minimum“, kann  trotz opulenter Basis solider Sozialuntersuchungen auch als großes Lamento gelesen werden: über die schwindende Bedeutung der Groß- und  Kleinfamilie.
 
Ein schweizer Kritiker schrieb, Schirrmacher gehöre „zu jenen, die in grellen Farben an die Wand malen, was sie eigentlich verhindern wollen“. Dem möchte man beim Lesen der Bücher  zustimmen. Beim Zuhören in Koblenz kommen einem zumindest in der Altersfrage Zweifel. Denn: Schirrmacher räumt unmissverstandlich ein, dass es ein Zurück zum demographischen Früher nicht gibt.  Nicht geben kann, selbst wenn jetzt alle gebärfähigen Frauen in Deutschland noch drei bis vier Kinder zur Welt brächten. Der Zug ist abgefahren, weil seit dem Pillenknick der 1960er-Jahre einige Millionen Eltern nicht mehr geboren wurden, die seither viele Millionen Kinder hätten zur Welt bringen können.

Schirrmacher spricht an diesem Abend fast ausschließlich über den Alters-Stoff. Den Schwenk zum Familienthema von „Minimum“ schafft er zeitlich nicht. Leider, denn hier schwingt viel stärker als im „Methusalem-Komplott“  ein restauratives Sehnen mit.  Familienbande sind die stärksten aller Bande und Frauen das natürliche Instrument, sie zu knüpfen und zu erhalten. Dies hält Schirrmacher offenbar  für so universal grundlegend, dass er außerfamiliäre Schicksals- und Solidargemeinschaften erst gar nicht in Augenschein nimmt.

Eva Herman könnte durchaus auch das Schirrmachersche „Minimum“ benutzen, um ihr gegenemanzipatorisches, ihr illusionär rückwärts gewandtes Eva-Prinzip zu begründen. Was der Mittvierziger aus Frankfurt  wohl als Missbrauch seiner Gedanken qualifizieren würde. Oder?

Der Vorhang zu und viele, auch und gerade kontroverse Fragen offen – so gewinnt zum Schluss ein sehr politischer Abend mit einem gescheiten und interessanten „Referenten“ doch fast wieder litarischen Charakter. Schöner Zug anbei: Schirrmacher verzichtet aufs Honorar; eine Koblenzer Schule möge sich davon Bücher kaufen.
Andreas Pecht
 
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