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2006-11-07:
Mozart hören macht nicht schlauer

Musiklehrer erörtern bei ILF-Tagung in Mainz die Bedeutung
der Neurobiologie für ihr Fach

ape. Mainz.  „Musikhören und Musizieren verbessern das kognitive Leistungsvermögen erheblich, stärken sprachliche und mathematische Fähigkeiten enorm.“ Diese These tauchte erstmals 1993 in den USA auf. Frei nach der Devise „Mozart hören macht schlauer“ ist daraus in Amerika ein riesiger Markt für pseudopädagogische Kinderförderung durch Musikprodukte entstanden. Auch in Deutschland gilt die These mittlerweile in der Öffentlichkeit und teils auch unter Pädagogen als quasi gesichertes Forschungsergebnis. Ernüchterung deshalb bei rund 90  Musiklehrern aus Rheinland-Pfalz, als sie jetzt in Mainz erfahren mussten, dass in Wahrheit nicht allzu viel dran sein soll an der Behauptung, Musik sei ein idealer Wachstumsbeschleuniger für die individuelle Intelligenz.
 
Das Mainzer Institut für Lehrerfort- und -weiterbildung (ILF) hatte zum Symposium „Musik mit Köpfchen“ geladen, damit Musiklehrer aller Schultypen sich mit der Bedeutung moderner Hirnforschung für den Unterricht auseinandersetzen können. Dort sorgte Referent Ralph Schumacher von der Humboldt-Universität Berlin für besagte Ernüchterung. Er hatte im Auftrag des Bundesbildungsministeriums zahlreiche Untersuchungen über den Zusammenhang von Musik und Intelligenz unter die Lupe genommen. Sein Befund: Kaum ein Experiment hält wissenschaftlicher Überprüfung stand. Auch der berühmt-berüchtigte Mozart-Effekt konnte bislang von niemandem außer seinen amerikanischen „Entdeckern“ bestätigt werden.

Laut Schumacher gibt es derzeit nur eine Studie (Schellenberg 2004),  die einigermaßen ernsthaft eine gewisse positive Beeinflussung des kognitiven  Leistungsspektrums durch Musikunterricht feststellt. Der Effekt ist allerdings so minimal, dass er zwar statistisch eben noch erfasst, neurobiologisch aber nicht dargestellt werden kann. Sind damit die Hoffnungen ehrgeiziger Eltern dahin, musikalische Frühförderung ihrer Sprösslinge sei die beste Voraussetzung für die Aufzucht auch naturwissenschaftlicher oder fremdsprachlicher Intelligenzbestien? Ja.

Müssen Musikpädagogen nun ihre Hoffnung auf  Bedeutungszuwachs ihres Faches durch naturwissenschaftlichen Zuspruch aufgeben? Jein. Denn was Schellenberg untersucht hat, war lediglich die Wirkung von Musikunterricht auf die Fähigkeit zur Beantwortung standardisierter Intelligenz-Tests. Ob und wie Musikunterricht die kreativen, sozialen, psychologischen Lernfaktoren beeinflussen kann, darüber gibt es viele Ansichten, aber nach Schumacher bislang keine eindeutigen Untersuchungsergebnisse.

Was Wilfried Gruhn, Altmeister in Sachen neurobiologisch fundierter Lerntheorie, in Mainz ausrufen lässt: Der Musikunterricht sollte seinen Selbstwert nicht abhängig machen von einer irgendwie wohlfeilen Bedeutung für den Mathematik- oder Englischunterricht. Kein anderes Fach käme auf diese Idee, bis hin zum Sport behaupten sie alle ihren Wert an sich. Und schaut man auf die Bedeutung der Musik für das menschliche Leben, lässt sich eine grundlegende Bedeutung des Musikunterrichts für den schulischen Raum schlechterdings nicht bestreiten. 

Welche Relevanz kommt nun neurobiologischen Erkenntnisse für die Unterrichtspraxis zu? Wie schon im vergangenen Jahr eine ähnliche Tagung am Mainzer Peter-Cornelius-Konservatorium, so macht das jetzige ILP-Symposium klar: Die Hirnforschung hat das Rad nicht neu erfunden. Sie bestätigt vor allem diverse Maximen der modernen Pädagogik und Didaktik:  Dass handlungsorientierte, abwechslungsreiche, kleinteilige, spielerische und stressfreie Lernprozesse den Anforderungen des menschlichen Gehirns besser gerecht werden als theorielastiges, abwechslungsarmes Pauklernen. Für alle Fächer gilt: Jedes Gehirn ist Produkt seiner individuellen Vita, d.h. jedes Gehirn lernt anders; spielerisch lernt das Gehirn besser als unter Druck; wenn es immer dasselbe vorgesetzt bekommt, schläft es ein; variationsreiches Vertiefungslernen sichert Gelerntes besser als endloser Wiederholungsdrill. In diesem Sinne bringt mehr Üben wenig, richtiges Üben mehr.

 „Stress ist der Killer synaptischer Verbindungen“ spitzt Gruhn ein hirnphysiologisches Faktum zu und stellt damit zugleich Grundfesten unseres auf Leistungsüberprüfung und -benotung gründenden Schulsystems in Frage. Mit einem anderen Faktum greift er die Altersordnung unserer Schulen an: Altersheterogene, also aus Schülern unterschiedlichen Alters zusammengesetzte, Gruppen sind effektivere Lerngemeinschaften als Jahrgangsschulklassen. Auch dies ist für die Pädagogik nichts grundlegend Neues. Dass die Praxis dennoch anhaltend anders aussieht, darf als Politikum gelten.

Mehrfach wurde in Mainz die Bedeutung des Singens für das genuin musikalische Lernen im Unterricht hervorgehoben. Ohr und Stimme, Hören und Singen - das ist der Weg der Musik in den Kopf. Und wie Sprachgefühl mehr durch Sprachpraxis als durch grammatische Regeln entsteht, so auch musikalische Kompetenz mehr durch Musikpraxis als durch Theoretisiererei. „Die Theorie führen wir erst ein, wenn sie nicht mehr schaden kann“, plädiert Gruhn, „dann also, wenn wir schon können, was die Theorie erklären will.“

Wie gesagt: Die Hirnforschung hat das Rad nicht neu erfunden, aber sie erhöht den Druck,  unterrichtliche Praxis ebenso wie das Schulsystem selbst verstärkt kritischer Befragung zu unterziehen.   

Andreas Pecht

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Älterer Artikel zum Thema:

 2005-12-01:
Neurobiologie stellt die Maxime "üben, üben, üben!" in Frage


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