Thema Wissenschaft / Bildung
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2007-06-14 Wissenschafts-Feature:
Wenn Gelehrte über den
"Mythos Rhein" diskutieren

Zum "Jahr der Geisteswissenschaften":
Eine geistreiche Sonderveranstaltung im Mainzer Landtag
 
ape. Mainz. Sieben Mal in Folge seit 2000 waren Naturwissenschaften Zentrum des jeweiligen „Wissenschaftsjahres“. 2007 nun rief das zuständige Bundesministerium  zum „Jahr der Geisteswissenschaften“ aus. Mit einer Vielzahl von Veranstaltungen versuchen seither deren  Fakultäten  ihre Arbeit und Bedeutung für die Menschheitskultur der Öffentlichkeit nahe zu bringen. In diesen Rahmen fügte sich jetzt  eine Podiumsdiskussion, bei der im Mainzer Landtag sechs Gelehrte über den „Mythos Rhein“ sprachen.
 
Der Plenarsaal des rheinland-pfälzischen Landtages liegt nur einen Steinwurf vom Rhein entfernt. Von der zugehörigen Terrasse aus öffnet sich ein schöner Blick auf den in dunstiger Sommerschwüle breit dahinströmenden Fluss. Drinnen hat ein kleines Auditorium von Bürgern das parlamentarische Rund besetzt. Menschen, für die der Rhein seit Jahr und Tag Lebensbegleiter ist. Macht es Sinn, dass vor solch einem Kreis renommierte Geisteswissenschaftler sich die gescheiten Köpfe zerbrechen über den „Mythos Rhein – Kulturraum, Grenzregion, Erinnerungsort“?

Ja. Mehr noch: Vielleicht gibt es kein passenderes Publikum für diesen Disput als Einheimische. Denn ihnen steht dies Gewässer und sein Tal täglich vor Augen, sind die damit verbundenen Sagen, Mythen und historischen Begebenheiten oft von Kindesbeinen an vertraut. Ihnen gilt der Rhein nebst mythologischem Beiwerk als Selbstverständlichkeit. Und Selbstverständlichkeiten kritisch zu hinterfragen, das ist nunmal eine der vornehmsten Pflichten der Geisteswissenschaft. Darin gleicht sie ihrem nächsten Verwandten, der Kunst.

ALFRED GROSSER PROVOZIERT

Zu den Diskutanten, die die Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur in den Landtag geladen hat, gehört als prominentester Vertreter der Soziologe und Publizist Alfred Grosser. 1925 nebenan in Frankfurt geboren, 1933 nach Frankreich emigriert und nachher französischer Staatsbürger geworden: Er ist Kind einer Zeit, da dem Rhein der Mythos anhing, nationaler „Schicksalsfluss“ zu sein, Frontlinie zwischen den „Erbfeinden“ Deutschland und Frankreich.

Vor diesem Hintergrund wird Grossers provokante, die Runde auch irritierende Forderung verständlich: „Entmythologisierung ist notwendig!“ Der Deutsch-Franzose erläutert seinen Traum eines gemeinsamen Geschichtsbewusstseins ohne Mythen, die Deutsche von Franzosen, aber auch von Polen oder Israelis trennen. Vor Jahren habe man ihn am Fuße der Germania zu Rüdesheim einmal gebeten, zu erklären, was dieses „gewaltige, vollbusige Frauenmonument“  bedeute. In Mainz sagt Grosser jetzt, er habe sich schon damals gewünscht, man würde zu Schülern statt von Germania, lieber von der Entwicklunglinie sprechen, die vom Hambacher Fest über die Revolution 1848 nach Weimar, Bonn und zuletzt Berlin führte.

KEIN DEUTSCHER, EIN EUROPÄISCHER STROM

„Befreien, ohne zu entwurzeln“, diesen Satz formuliert der Publizist als Maxime, verweist auf Immanuel Kant und den Geist der Aufklärung: Man müsse sich stets selbst in Frage stellen, um sich von jenen Mythen und Identitäten zu trennen, „die Selbstgettoisierung bedeuten“. Den Rhein als „deutschen Strom“ zu betrachten, ist so eine Gettoisierung. Nimmt man seinen Verlauf  von der Quelle bis zur Mündung handelt es sich in Wirklichkeit um einen europäischer Strom.

Geht der Blick zurück in die Geschichte, verflüchtigt sich die mythologische Aufladung des Flusses sowieso. In Beiträgen der Historiker Falko Daim, Heinz Duchhardt, Gustav Adolf Lehmann und Johannes Fried wird deutlich: Die Mythologisierung des Rheins ist eine neuzeitliche Erfindung; bis in die Zeit der Französischen Revolution gab es gar keinen Rhein-Mythos.

Die Antike betrachtete seit dem Vordringen von Julius Caesar an den Rhein den Fluss ganz profan als natürliche Grenzlinie, die zugleich Handelsstraße ist. Noch stärker ausgeprägt war die Funktion des Rheins als pure Lebensader im Mittelalter, das sogar seine Bedeutung als Grenze geradezu marginalisierte: Die Gebiete der Bistümer Mainz, Trier, Köln lappten munter von einem Ufer zum andern – der Fluss trennte nicht, er verband, und das im durchaus lebenspraktischen Sinne. So trafen am Rhein diverse Mächte und Interessen aufeinander – weshalb er natürlich stets auch eine Konfliktzone war. Aber die großen Mythen, die romantischen wie die nationalen und nationalistischen, sie entstanden zuhauf erst im 19. Jahrhundert.

Politisch erfuhr diese Entwicklung mit der Rheinkrise von 1840 zwischen Frankreich und dem Deutschen Bund ihre erste nationale Zuspitzung. Das war der Beginn einer auch mythologisch überhöhten Nachbarschaftsfehde, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Kohle-Stahl-Pakt und der dazugehörigen Optimierung der Schiffbarkeit der Mosel zwischen beiden Ländern endete.

„Mythos Rhein“ – nach zwei Stunden auf dem Seziertisch der Geisteswissenschaft haben sich die populären Selbstverständlichkeiten in kritische Differenziertheit aufgelöst. So soll das auch sein, wird aus dem Beitrag der Philosophin Mechthild Dreyer verständlich. Denn Mythos und Wissenschaft sind kein Liebespaar, sie stehen sich gegenüber – und die Wissenschaft beäugt den Mythos misstrauisch, weil er das Gegenteil von Aufklärung ist. Grosser ergänzt: Die Wissenschaft soll aufklären, was am Mythos unglaubwürdig ist. Das führt zum logischen Ergebnis, dass der Rhein als Identitätsstifter zumindest fragwürdig erscheint.

UNIVERSELLES KULTURERBE

Der Beobachter denkt an die Loreley, an die Verse des Deutsch-Franzosen Heinrich Heine, der zeitlebens Deutsche und Franzosen einander näher bringen wollte. Der  Dichter würde sich noch im Grabe empören, wüsste er, dass seine Verse nachher als deutsches Lied vereinnahmt worden sind. „Man soll nicht“, meint einer der Diskutanten, „universalistische Funde entlang des Rheins auf Patriotismus oder gar Lokalpatriotismus zurückbinden“.

Das Loreley-Gedicht oder der Dom zu Speyer oder der Limes: Das ist kulturelles Erbe der Menschheit, und nur in diesem universellen Sinne sollten jene Artefakte als  identitätsstiftend verstanden werden. Anderes, Nationales etwa, wäre nach Grossers Lesart doch bloß wieder „Selbstgettoisierung“. Widerspruch liegt im Plenarsaal des Landtages in der Luft – aber da ist die Diskussion unter der wortreichen Leitung des FAZ-Feuilletonchefs Patrick Bahners schon zuende, noch bevor sie richtig begonnen hat.
                                                                                         Andreas Pecht
 
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