Kritiken Theater
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2007-08-24 Schauspielkritik
Gedanken eines Amokläufers

Anne Tismer spielte in Idar-Oberstein Lars Noréns Monolog „20. November“
 
ape. IDAR-OBERSTEIN. Auch so kann Theater gehen. Im Partykeller des Jugendzentrums von Idar-Oberstein brüllt eine junge Schauspielerin dem Publikum entgegen: „Das hier ist Krieg!“ Die 60 Zuseher beim szenischen Monolog „20. November“ bekommen ihn stellvertretend für die verhasste Konsumgesellschaft erklärt. Eine Stunde dauert die erschütternde Konfrontation mit der Gedankenwelt des Amokläufers von Emdstetten. Jenes Sebastian B., der 2006 schwerbewaffnet über Schüler und Lehrer an seiner früheren Schule herfiel.    

Die da brüllt,  anklagt, hasst, mit Pistole und Gewehr herumfuchteltend den Amokläufer mimt, ist Anne Tismer. Klein an Gestalt, aber eine Große in der deutschen Theaterwelt. 2003 war sie Schauspielerin des Jahres. Mit ihrem Solo ist sie seit der Uraufführung bei den Ruhrfestspielen 2007 auf Tour. Das Gastspiel beim Theatersommer Idar-Oberstein war der einzige Stop in Rheinland-Pfalz.

Was denkt, wie fühlt ein Jugendlicher, bevor er ein Blutbad anrichtet? Diese Frage steht unausgesprochen über dem Stück von Lars Norén, das der renommierte Dramatiker selbst Anne Tismer auf den Leib inszeniert hat. Es geht nicht um Verständnis, sondern um Begreifen. Die Antworten, auf die das Spiel insistiert, klingen  vertraut: Der Täter ist stets auch Opfer, ist Ergebnis seiner Sozialisation, Produkt gesellschaftlicher Einflüsse.

Doch dies Stück basiert nicht auf sozialpsychologischen Gutachten, sondern auf einem Tagebuch, in dem Sebastian Internet-öffentlich über Kränkungen, Ausgrenzungen, Zumutungen im Laufe seiner Jugend und Schülerlaufbahn räsoniert hat.  Was Tismer mal mit eiseskalter Mördermiene in Kriegerpose dem  Publikum entgegenschleudert, mal stotternd,  verzagt, wehmütig wie vor sich selbst ausbreitet, sind  Befunde über Schattenseiten unserer Gesellschaft. Menschenwert bloß als Geldwert, Individualität bloß als Marken-Hörigkeit,  Schule bloß als Anpassungsinstitution ... – und wer nicht mitmacht, dem ergeht´s schlecht.

Das Erschreckendste an diesem Stück ist, dass die Analysen des Amokläufer oft schmerzlich zutreffend sind. Was allerdings auch Norén und  Tismer nicht erklären können, ist der Schritt vom hasserfüllten Außenseitertum zur pathologischen Selbsterhöhung in den Stand des Racheengels. Bedrückender Schluss im Jugendzentrum  Idar-Oberstein:  Anflüge von Begreifen, Mitleid und Zuwendung kommen jetzt, am Ende dieser Stunde, zu spät: Es war die letzte im Leben des  Sebastian B.               Andreas Pecht


 
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