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2007-10-18 Analyse:
Tiefe Kluft zwischen Volk und Führung

In vielen Fragen wird Deutschland gegen Mehrheitsmeinungen regiert

 
ape. Meinungsforscher haben es herausgefunden, Kabarettisten schießen sich darauf ein, die Wirtschaft ist  besorgt und die Politik  verunsichert: Es geht ein tiefer Riss durch die Republik. Mit dem Ansehen von Parteien und Politikern steht es schon  länger nicht zum Besten. Jetzt richtet sich Volkes Meinung gar bei vielen Themen mit erdrückenden Mehrheiten direkt gegen Übereinkünfte der politischen Klasse. Eine Lagebeurteilung.

80 Prozent der Deutschen können sich nicht vorstellen,  einer der hiesigen Parteien beizutreten. So das eben verbreitete Ergebnis einer Forsa-Umfrage. Die ermittelte auch,  dass 71 Prozent von einer Rückkehr Gerhard Schröders in die deutsche Politik nichts halten. Was ist beiden Voten gemeinsam? Sie sind ablehnend: Einem Politiker gegenüber, der immerhin zwei Mal zum Bundeskanzler gewählt wurde, und der gesamten Parteienlandschaft gegenüber, die immerhin zum Kernbestand unserer Demokratie gehört.

Noch eines verbindet die beiden Umfrageergebnisse: Sie fallen exorbitant hoch aus. So hoch, dass ihre Mehrheiten nahezu unabhängig von den gewöhnlichen Parteipräferenzen der Befragten zustande gekommen sein müssen. Will sagen: Den Schröder wollen die meisten nicht zurück und zu den Parteien bleiben sie mehrheitlich auf Distanz, egal ob die Befragten zur Wählerschaft der CDU, der SPD oder einer der anderen Parteien gehören. Es sind solche von Parteiorientierungen unabhängige Stimmungs- und Meinungsmehrheiten, die zurzeit erheblich ins Kraut schießen, die Beobachter irritieren und Politiker schwindelig machen.

Über Parteigrenzen hinweg

Noch mehr ins Gewicht als die schwächelnde Bindung zwischen jeweiliger Partei und „ihrer“ Wählerschaft fällt: Selbst wenn sich CDU, SPD, FDP, Grüne mitsamt Wirtschaftsführern und Mediengrößen auf eine gemeinsame Marschrichtung einigen, garantiert das keine Mehrheit in der öffentlichen Meinung. Beredtes Beispiel ist die Rente mit 67. Sie wird von  einer derartigen hypergroßen Koalition befürwortet, von dieser auch durch ein Dauerbombardement an Erklärungen und Beschwörungen argumentativ flankiert. Und dennoch sprechen sich in Umfragen mehr als drei Viertel  dagegen aus.

Eine Emnid-Erhebung hat unlängst diese Ablehnungsfront nach Anhängern der Parteien aufgeschlüsselt. Danach votierten für eine Wiederabschaffung der Rente mit 67: SPD-Anhänger 82, CDU 80, Grüne 74, FDP 71 und Linke 94 Prozent. In Summa also eine erdrückende, parteiübrigreifende  Mehrheit der Bevölkerung gegen die Marschrichtung des „offiziellen Deutschland“ in Sachen Rente. Ähnlich das Bild für den Börsengang der Deutschen Bahn. Von den Regierungsparteien gewollt, aber in der Bevölkerung je nach Fragestellung mit Voten von 60 bis weit über 70 Prozent abgelehnt. Besagte Emnid-Studie ermittelte gar, dass 67 Prozent der Befragten der Meinung sind, Unternehmen wie Bahn, Telekom, oder Energieversorger sollten Staats-, nicht Privatbesitz sein.

Parlament votiert genau gegenteilig

Der Kreis der Fragen, bei denen die Marschrichtung der deutschen Führungsetage und die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung sich radikal widersprechen, ist erweiterbar. Für die Verlängerung des Arbeitslosengeldes I vor allem für Ältere sprachen satte Volksmehrheiten  lange bevor Rüttgers und Beck das Thema  entdeckten. Dass die Große Koalition generell zu wenig für soziale Gerechtigkeit tue, meinen 72 Prozent. Den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan halten je nach Umfrage komfortable Einfach- bis Dreiviertel-Mehrheiten für falsch. Die Abstimmung neulich im Bundestag zur Verlängerung des Afghanistan-Mandats erbrachte aber das genau umgekehrte Bild.

Was geht da vor sich? Ist das der jüngst oft gemutmaßte „Linksruck im deutschen Volk“?  Die Sache liegt anders, reicht tiefer: Bürger bedenken diverse Themen  unabhängig von parteipolitischem Kalkül, trauen den behaupteten strukturellen Zwängen so wenig wie den offiziellen Lösungsansätzen, stellen weltpolitische Staatsräson infrage. So gelangen sie, teils von der Warte des Betroffenen, teils vom Grundsätzlichen her vielfach zu ganz anderen Einschätzungen und Schlüssen als die „Führungseliten“ in Politik, Wirtschaft und Geistesleben. Viele Bürger denken zusehends mit, freilich auf sehr eigene Weise. Was im Grunde erfreulich ist, allerdings das Regieren auch schwieriger macht.

Oder ist das Volk einfach dumm, kurzsichtig, egoistisch? Kann oder will es die  politischen und wirtschaftlichen Notwendigkeiten der neuen Zeit nicht begreifen?  Dieses Erklärungsmuster wäre selbst ziemlich kurzsichtig. Wie ein bewährtes „mea culpa“ der Politik allzu simpel ist: „Wir haben unser Vorgehen nicht hinreichend erklärt“ macht die Überprüfung der eigenen Positionen überflüssig. Stattdessen wird, vielleicht, die Suche nach neuen Formulierungen für dieselben Sachverhalte angekurbelt.

Die Bürger ernst nehmen

Ein gefährliches Vorgehen. Denn es nimmt Bedenken der Bevölkerungsmehrheit nicht wirklich ernst. Die aber verdienen, ernst genommen zu werden. Nicht bloß dem Anschein nach, um der nächsten Wahlen willen. Zwar sind Ansichten nicht automatomatisch richtig, nur weil eine Mehrheit sie vertritt. Aber in vielen Bedenken steckt auch ein Quäntchen, manchmal ein ordentliches Quantum Wahrheit. Wahrheit, der gegenüber die  „Führungseliten“ bisweilen einfach betriebsblind geworden sind.

Die  Entfremdung zwischen ihrer Weltsicht und derjenigen „an der Basis“ hat jedenfalls höchst beunruhigende Ausmaße angenommen. Es ist nun an der politischen Klasse Deutschlands, die bröckelnden Brücken zu ihrer Bevölkerung wieder herzustellen. Andernfalls müssten sich die Regierenden, wie es in einem berühmten Vers heißt, am Ende womöglich ein neues Volk suchen.                                                                          Andreas Pecht
 
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