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2007-11-21 Buchbesprechung:
Mainz in Flammen

Goethes "Belagerung von Mainz": Ein erstaunlicher Text -
von Oliver Kemmann und Hermann Kurzke wunderbar präsentiert.

Gastbeitrag von Reinhard Bender
 
Wer hätte gedacht, dass dieser unscheinbare Text im Gewande eines Tagebuchs, den der 73jährige Goethe über Ereignisse schreibt, die er mit 44 Jahren erlebte, ein literarisches Kleinod sein könnte und gleichzeitig ein Zauberstab, der eine für uns versunkene, für Goethe selbst schon weit entfernte, ungeahnte Welt erstehen lässt.
 
Worum geht es? In Anwesenheit gekrönter Häupter wird Mainz im heißen Sommer 1793 belagert – nicht von fremden Mächten, nein, von Deutschen und Österreichern. Eine Koalition von Reichsfürsten will mit einer Armee, bestehend aus preußischen, österreichischen, sächsischen, hessischen sowie pfalzbayrischen Kontingenten, die Festung Mainz den revolutionären französischen Truppen und ihren idealistischen und opportunistischen Verbündeten, den Mainzer „Klubisten“, entreißen. Auf Einladung des Großherzogs Carl August von Weimar, den fürstlichen Freund, ist Goethe mit dabei.

In seinem späten Tagebuch erinnert sich Goethe zurück, wie die Menschen umgegangen sind mit jenem schrecklichen, gleichzeitig kuriosen, jenem unerhörten Kriegsereignis, hält Begebenheiten fest, die er oft als „Schauspiele“ bezeichnet. „Liebenswürdig“ und „traurig“ sind sie, diese Schauspiele, die sich dem alten Goethe wieder nahen und festgehalten sein wollen, „himmlisch“ auch, „ekelhaft“, „schrecklich“ und „bedeutend“.

Spröde, knapp, unanschaulich, eher abweisend als verlockend geht es in den Text hinein. Erst nach und nach werden „bedeutende“ Begebenheiten zu Bildern ausgestaltet. Unter dem 28. Juni 1793 erwähnt Goethe das „schreckliche Schauspiel“ des Doms in Flammen. Nur wenige Zeilen widmet Goethe diesem Ereignis. Eine ballistische Neuigkeit, dass die Feuerkugeln „in einer gewissen Höhe parabolisch zusammenknickten“, ist noch 1822 präsent und wird vermerkt. Das Gleichzeitige im Ungleichzeitigen scheint auf, wenn Goethe von der „Neuanlage des Lagers von Ihro Majestät dem König“ berichtet, bei der „geschickte Gärtner .... die gefälligste Parkanlage mit wenig Bemühung bildeten.“

Zu einem grotesken Hörbild gerinnt dieses Gleichzeitige im Ungleichzeitigen, wenn Goethe die Schüsse des Fronleichnamstags knallen lässt: Das Kleingewehrfeuer, mit dem die Bauern den Fronleichnam feiern, mischt sich unter die Viktoriaschüsse, mit denen ein Sieg in den Niederlanden begangen wird, und gesellt sich zu den scharfen Schüssen aus der Stadt heraus und in sie hinein. Als Coda dieser Kakophonie am Nachmittag erinnert Goethe ein Donnerwetter.

Goethe zeigt uns eine alte Frau vom Format einer Mutter Courage, die er im zerstörten Mainz antrifft, und er zeigt uns „himmlische Erscheinungen im Kriegsgetümmel“: Zwei Prinzessinnen wandeln vor seinem Zelt auf und ab. Kemmann und Kurzke vergegenwärtigen das Schwesternpaar, die spätere Königin Luise und Prinzessin Friederike von Preußen, in der bezaubernden Doppelskulptur, die Schadow 1795 schuf.

Die Kriegshäuptlinge, die nicht verhindern können, dass da auf die eigenen Leute geschossen wird, sind kein Thema für Goethe. Zu den Isegrims steht genug im Reineke Fuchs, an dem Goethe während der Belagerung von Mainz arbeitet. („Den 8. Juni setze ich meine Arbeit an Reineke Fuchs fleißig fort.“) Goethe schreibt asketisch, das Nichtgesagte, aber Mitgemeinte ist viel umfangreicher als das Gesagte. Behutsam wollen die schwankenden Gestalten behandelt sein, die in der Erinnerungen, hinter den Kulissen lauern und das innere Gleichgewicht bedrohen.

Denn offenbar hat der Mainzer Krieg doch traumatische Eindrücke hinterlassen. Goethe schreibt am 10. Juni 1822 an den deutschen Diplomaten in französischen Diensten Karl Friedrich Graf von Reinhard: "Es ward mir manchmal wirklich schwindelich, indem ich das einzelne jener Tage und Stunden in der Einbildungskraft wieder hervorrief und dabei die Gespenster, die sich dreißig Jahre her dazwischen bewegt, nicht wegbannen konnte; sie liefen ein- und das anderemal wie ein böser Einschlag über jenen garstigen Zettel."

Recht ausführlich schildert Goethe, wie er sich mit einigen Freunden „von der wilden, wüsten Gefahr angezogen“ in die vorderste Front vorwagt, um erneut jenen „Zustand“ zu spüren, „wo man sich, die Angst zu übertäuben, jeder Vernichtung aussetzt“, jenes „Kanonenfieber“, dem er schon von der „Campagne in Frankreich“, dem Frankreichfeldzug von 1792, bewusst ausgesetzt hat.

Einen Schwerpunkt in der Bilderfolge des späten Tagebuchs stellt eine Szene auf dem Platz vor dem Chausseehaus in Marienborn dar. Goethe, kein Freund der Revolutionäre, tritt einer wütenden Volksmenge entgegen, die an einem flüchtenden „Kollaborateur“ und seiner Begleiterin Selbstjustiz üben will. Die Menge, durch Goethes Auftritt „in ihrem Rachesinn irre gemacht“, weicht zurück. Die „beiden Figuren auf dem Pferd“ reiten davon. Was Goethe in der hitzigen Situation zu der wütenden Menge sagt, ist vom besten, was zur Frage von Recht und Rache, einer der rechtsphilosophischen Urfragen, gesagt wurde.

Am Ende des Textes berichtet Goethe von einem hitzigen Gespräch mit seinem Jugendfreund und Schwager Schlosser, in dem es um seine Methode ging, das Phänomen der Farben zu erforschen. In diesem Gespräch sagt Goethe, in einem „schwierigen Unternehmen“ sei es notwendig, „dass eine Gesellschaft verschiedenartiger Männer zusammen arbeite und jeder von seiner Seite mit eingreife.“

Ganz in diesem Sinne haben sich zwei „verschiedenartige Männer“ Goethes „Belagerung von Mainz“ angenommen: Oliver Kemmann, promovierter Ingenieur und Inhaber einer Internetagentur, und Hermann Kurzke, Professor der Germanistik, Feuilletonist und des Erzählens fähiger Forscher. Es gelingt den beiden Autoren Erstaunliches: Sie holen aus der Versenkung, was seit fast 200 Jahren auf dem Tisch liegt.

Kemmann und Kurzke erkunden in aller Behutsamkeit  und nicht ohne Witz Goethes Text, stellen ihn in seine geschichtliche Situation hinein, geben ihm seinen vieldimensionalen Resonanzraum zurück, erläutern kriegsgeschichtliche, geographische, historische, politische, wissenschaftliche, technische Zusammenhänge, stellen die Protagonisten in Wort und Bild vor, machen Unverständliches verständlich. Die Exkursionen ins Umfeld des Textes sind nie zu kurz und nie zu lang, bringen stets einen Zugewinn im Textverständnis. Sie werden wie auf Podien neben den Text gestellt, von wo sie als Scheinwerfer die Szenerie beleuchten.

Das Buch breitet Bilder, Karten, Graphiken aus in Hülle und Fülle – und dennoch kein Stück zuviel. Text und Erläuterungen in Wort und Bild werden graphisch perfekt aufbereitet und einander zugeordnet. Mit erfreulicher Sparsamkeit werden Bezüge zu weiterführenden geistigen Zusammenhängen hergestellt.
Eine bessere Präsentation, eine gelungenere Wiederbelebung eines bedeutenden Textes, eine schönere Literatur- und Geschichtsstunde kann man sich schwerlich vorstellen. Es ist eine Lust, dieses Buch zu lesen.                                                   

Oliver Kemmann/Hermann Kurzke (Hrsg.): Untergang einer Reichshauptstadt. Johann Wolfgang von Goethe. Belagerung von Mainz. Ein Bilderbogen, Societätsverlag Frankfurt am Main, geb., 176 S., 24,90 Euro.
 
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