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2008-03-28 Romankritik:
Von der Normalität des Massenmordes

Jonathan Littells umstrittenes Buch „Die Wohlgesinnten“:
Ein schlechter Roman, der allerdings entsetzliche Wahrheiten enthält

 
ape. Jonathan Littels Roman „Die Wohlgesinnten“ ist das derzeit meistdiskutierte Buch. Und es scheidet die Geister, bisweilen entlang seltsamer Bruchlinien: Im französischen Literaturbetrieb 2006 hymnisch gefeiert, wird das jetzt in deutscher Sprache erschienene Werk hierzulande zerrissen als „widerwärtiger Kitsch“, „ekelhafte Pornografie“ oder „perfide Verharmlosung des Nationalsozialismus“.
 
Es dauert, „Die Wohlgesinnten“ zu lesen. Nicht nur der 1383 Seiten wegen. Auch, weil man das Buch immer wieder an die Wand schmeißen möchte. Denn die Geschichte vom gebildeten und kunstsinnigen SS-Obersturmbannführer Dr. jur. Max Aue in Diensten der „Endlösung“ ist das Fürchterlichste, was der Literaturbetrieb seit langem hervorgebracht hat.

Fürchterlich, weil Ich-Erzähler Aue in seiner reuelosen Lebensbeichte individuelle Schuld für die Greuel der Nazis generell negiert: „Warum sollte der an den Gashahn gestellte Arbeiter größere Schuld auf sich laden als der Arbeiter, der für die Heizung zuständig ist?“ Ärzte, Bürokraten, Eisenbahnler,  KZ-Mannschaften oder SS-Sonderkommandos im besetzten Osten: Rädchen im großen Getriebe der Endlösung, die der schiere Zufall hinter Schreibtische oder an die Erschießungsgruben brachte.

Dieser wertet im Amt Statistiken aus. Jener watet bei „Säuberungen“ in Galizien, in der Ukraine, im Kaukasus durch Blut. Aue ist überall dabei, je nachdem, wohin die Pflicht ihn stellt. Massenhinrichtungen geht er möglichst aus dem Weg, die schlagen ihm auf Magen und Gedärm. Er studiert lieber bei Ortsbegehungen von Babi Jar über Stalingrad bis Auschwitz die Lage – um Bericht zu erstatten, auf dass das NS-Räderwerk geschmiert werde.

Fürchterlich ist das Buch auch, weil man nicht davon lassen kann. Die Lektüre wird von der alten Frage vorangetrieben: Wie konnten Deutsche das NS-Regime dulden, bejubeln oder darin  schreckliche Verbrechen begehen? Darüber verspricht der Roman Erhellung, indem er aus der Täter-Perspektive erzählt. Eines Täters zumal, der kein tumber Totschläger ist, sondern weiß, was er tut.

Es geht so gar nicht diabolisch zu im „Alltag“ hinter den Kulissen des Systems. Wir begleiten Aue durch diverse Jobs in einer Apparatur, die sich kaum unterscheidet von großen Verwaltungszentren oder Industriebetrieben. Dort wird Effizienz-Analyse und Projektplanung betrieben, gibt es Vorgesetzten-Arroganz und Kompetenz-Gerangel, Kriecherei und Karrieregeilheit, Korruption und Unfähigkeit ebenso wie innovative Köpfe. Die Leute gehen ihrer  „Arbeit“ nach.

Littell lässt seine Kunstfigur eine Fülle historischer Fakten über Hunderte Seiten im Zungenschlag profaner Normalität darstellen. Darüber gerät einem manchmal der mörderische Zweck des Ganzen fast aus dem Blick. Dieses entsetzliche Faszinosum liegt womöglich in der Absicht des Autors. Denn lesend ergeht es uns fast wie vielleicht den Damaligen: Im Alltagsgetriebe verdrängen die eigenen  Sorgen das Gespür für die große Barbarei. Massenmord wird zur besser oder schlechter erfülten handwerklichen Aufgabe.

Aue sieht sich als klügerer Nazi. Die Vernichtung der Juden hält er für falsch, das Reich sollte besser ihre Arbeitskraft abschöpfen. Das Recht dazu leitet er aus der NS-Rassenlehre ab, deren wahnwitzigen Ausprägungen im Buch breiter Raum eingeräumt wird. Entweder wir oder die Anderen – die stärkere Rasse obsiegt. Jedoch nicht automatisch, das will erkämpft sein. Und dabei stellt sich der Nazi-Apparat nach Aues Dafürhalten oft nicht eben gescheit an.

Eine fürchterliche Lektüre! Aber Littell konfrontiert über die Täter-Sicht eben auch erbarmungslos mit einem System, das Denken und Handeln von Millionen prägte. Insofern bieten „Die Wohlgesinnten“ manche Möglichkeit, Lehren zu ziehen. Etwa diese: Das Nazitum war keine Geisteskrankheit, sondern ein System, in das jeder über ganz gewöhnliche Mechanismen hineinrutschen konnte – sofern er sich nicht bewusst dagegen stemmte.

Dennoch ist der Roman keine große Literatur. Wo  Aue das Leid der Opfer beschreibt, entsteht banal überhöhte Splatter-Prosa. Wo er über seine geheime Homosexualität und die inzestuöse Liebe zu seiner Schwester räsoniert, versinkt das Buch in schwer erträglichem Psycho- und Körperflüssigkeits-Kitsch. Und: Man merkt den 1383 Seiten das Kalkül wohlfeiler Tabuverletzung deutlich an. So ist „Die Wohlgesinnten“  schmerzlich-entsetzliches Faszinosum und entnervendes Ärgernis gleichermaßen.
                                                                                        Andreas Pecht

(Erstabdruck der Rezension am 28. März 2008)

 Jonathan Littell: "Die Wohlgesinnten",
 Berlin Verlag, 1383 S., 36 Euro


 
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