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2008-04-21 Konzerteinführung:
Viertes Orchesterkonzert
im Görreshaus Koblenz

Programm: Felix Mendelssohn Bartholdy Sinfonia Nr. 8 D-Dur (Fassung mit Bläsern), Ludwig van Beethoven Violinkonzert op. 61 D-Dur.

Ausführende: Staatsorchester Rheinische Philharmonie unter
Daniel Raiskin, Solistin Jennifer Frautschi

(Unkorrigiertes Vortrags-Manuskript der Konzerteinführung vom 20. April 2008)
 
 
Meine sehr verehrten Damen und Herrn, liebe Musikfreunde,

ich darf sie wie immer recht herzlich begrüßen; diesmal zum vierten und damit letzten Orchesterkonzert im Görreshaus für diese Saison.

Gestatten Sie mir vorweg eine Bemerkung in eigener Sache. Ich wurde während der drei Jahre, die ich diese Konzerteinführungen hier nun schon mache, gelegentlich gefragt, ob ich nicht mal ohne vorgefertigtes Redemanuskript sprechen wolle. Man habe von mir die freie Rede anderweitig als lebhaftes und auch vergnügliches Ereignis in guter Erinnerung.

Das mag so sein, und gewiss würde es Spaß machen, unsere 25 Vortragsminuten hier im Görreshaus in permanentem Blickkontakt, und frei Schnauze sprechend, zu verbringen. Doch nehme ich lieber Abstand davon – weil: Ohne Manuskript pflegt mich mein Kopf, erstens, mit allerlei spontanen Eingebungen zu verführen, also vom Hölzchen aufs Stöckchen zu leiten. Was, zweitens, zur Folge hätte, dass die Musiker zur vorgesehenen Anfangszeit des Konzertes  nochmal Kaffeetrinken gehen könnten. Drittens müsste ich gewiss nach jedem Frei-Vortrag entsetzt feststellen: Von zehn wichtigen Punkten hast du mal wieder sechse vergessen. Und schließlich viertens: Weder Sie noch die Musiker könnten dann, den Vortrag später im Internet noch mal nachzulesen. 

Ergo, bleibe ich auch in der kommenden Saison lieber beim  Manuskript. Womit zugleich angedroht sei, dass Sie es auch künftig weiter mit mir zu tun haben werden.

Nun zur heutigen Sache.
Auf dem Konzertprogramm stehen zwei Kompositionen. Die Urfassung der einen stammt von einem zwölfjährigen, zart besaiteten Knäblein. Nein, nicht Wolfgang Amadeus Mozart. Es gibt auch noch ein paar andere sehr gute Komponisten, deren besonderes Talent für die Musik sich bereits in frühem Kindesalter Bahn brach. Felix Mendelssohn Bartholdy war ein solches Kind – und seine Sinfonia Nr. 8  ist ein Beweis dafür.

Zur Orientierung, wo in der Geschichte Werk und Schöpfer zu verorten sind: Felix Mendelssohn Bartholdy wurde 1809 in Hamburg geboren und starb 1847 in Leipzig. Er wurde nur 38 Jahre alt. Die Erstfassung seiner Sinfonia Nr. 8 entstand 1822 und gehört zu einer Gruppe von insgesamt ZWÖLF Streichersinfonien, die Felix als Bub zwischen 1821 und 1823 aufs Notenpapier sprudelte, also zwischen seinem 12. und 14. Lebensjahr.

Nun schicken wir beim heutigen Konzert die Bläserbänke nicht gleich  wieder in die Kantine, um uns dieser Streichersinfonie hinzugeben. Wie sich das so verhält bei pubertierenden Kindern: Wenig ist von Dauer, Geschmäcker und Ansprüche verändern sich in rasender Eile. Kurzum, schon ein Jahr nach Fertigstellung der Nr. 8 war der halbwüchsige Komponist mit dem Werk nicht mehr glücklich. Felix schuf eine zweite, breiter orchestrierte Fassung, in der nun auch Bläser und Pauken zu tun bekommen. Und diese zweite Fassung werden wir gleich hören.

Das andere Werk des heutigen Konzerts ist von einem 36-jährigen, oft grobschlächtig und polternd auftretenden Mann geschrieben, der aus unserer Nachbarschaft stammt, und sowohl verwandtschaftlich wie freundschaftlich mit Koblenz verbunden war. Ich spreche von Ludwig van Beethoven.  Der wurde am 12. Dezember 1770 in Bonn getauft, das ist urkundlich belegt; mit Sicherheit auch in Bonn geboren, bloß an welchem Tag, das ist nicht so ganz klar. Man geht davon aus, dass Geburtstag und Tauftermin nicht weit auseinander liegen – die Menschen jener Zeit hatten es nämlich eilig mit der Taufe, denn die Säuglingssterblichkeit war noch im 18. Jahrhundert kaum niedriger als im alten Rom.

Kurze Zwischenbemerkung: Die Römer pflegten ihren Neugeborenen erst mit Vollendung des ersten Lebensjahres überhaupt einen Namen zu geben, weil mehr als die Hälfte ohnehin vorher wegstarben. Zu Beethovens Geburtszeit – also zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts – erlebten in hiesigen Regionen noch immer mehr ein Drittel der Kinder ihren ersten Geburtstag nicht.

Gestorben ist Beethoven Ende März 1827 in Wien. Er wurde also gerade 57 Jahre alt, für die damalige Zeit kein schlechtes Alter.  

Theoretisch hätten die beiden sich also Mitte der 1820er-Jahre durchaus begegnen können - der eben erblühende Mendelsssohn Bartholdy dem von tragischen Lebenslinien und Taubheit gezeichneten „Giganten“ Beethoven. Von einer solchen Begegnung ist mir allerdings nichts bekannt.

Indes hatte der andere Superstar der deutschen Klassik, der nicht musizierende, sondern dichtende Johann Wolfgang von Goethe, dem Vernehmen nach an Felix einen Narren gefressen: Mendelssohn Bartholdy durfte mehrfach für mehrere Tage unserem Geheimen Rat in Weimar Gesellschaft leisten. Das will was heißen, spricht für ein einnehmendes Wesen beim Musikus und für dessen hellwachen Geist, von dem gleich noch mal die Rede sein wird. Dummköpfe und hohle Schwätzer pflegte Goethe nicht tagelang um sich zu dulden, schon gar nicht mehrfach.

Aber wir waren bei Beethoven. Dass Polterei, Unleidlichkeit und  in Gesellschaft bisweilen ziemlich unpassendes Benehmen nur eine Seite seines Wesens waren, wird Ihnen nachher dessen Violinkonzert D-Dur opus 61 mit seiner Sensibilität, seiner Seelentiefe und Herzenswärme bewegend vor Ohren führen.

Just über dieses Violinkonzert gibt es dann doch noch eine zwar nur indirekte, aber nicht unbedeutende Querverbindung zwischen unseren beiden Komponisten. Um zu dieser vorzustoßen, müssen wir einen Ausflug zur Uraufführung des Beethovenschen Violinkonzertes machen. Wir begeben uns also nach Wien, der Kalender zeigt den 21. Dezember anno 1806. Beethoven sitzt noch immer über der unfertigen Partitur des Violinkonzertes, obwohl das schon zwei Tage später, am 23. Dezember. aufgeführt werden soll.

Der vorgesehen Solist, der berühmte Geiger Franz Clement, seines Zeichens Konzertmeister im Theater an der Wien, schleicht um den Komponisten herum wie ein angeschossener Löwe. Verständlich, der Mann hat bis zu diesem Zeitpunkt kaum ein paar Takte üben können. Bei der Uraufführung selbst muss er etliche ihm bis dahin völlig unbekannte Teile seiner Partie frisch vom Blatt spielen.

Hübsche Volte an dieser Episode: Es war Clement selbst, der sich von Beethoven dieses Werk gewünscht hatte. Und der Komponist konnte sich nicht verkneifen, dem Solisten mit der Widmung auch noch einen Knuff mitzugeben. Er schrieb auf die Titelseite des Manuskripts „Concerto par Clemenza pour Clement“, was heißt: Konzert aus Barmherzigkeit für Clement.

Das ganze Tohuwabohu im Umfeld der Uraufführung war, wie sich gut vorstellen lässt, der Beziehung zwischen Komponist und Geiger nicht eben zuträglich. Die Missstimmigkeit zwischen beiden wurde noch angeheizt durch eine spezielle Forderung des Solisten: Der wollte zwischen den Sätzen von Beethovens Violinkonzert eigene Kompositionen vortragen – banale Show-Stückchen, zugeschnitten ganz auf den Blendeffekt virtuoser Saitenartistik.

Es darf angenommen werden, dass die Verwerfungen zwischen den Beteiligten und der Mangel an Probemöglichkeiten sich nicht eben positiv für  die Qualität der Aufführung waren. Mehr noch als dieser Umstand, dürfte jedoch die für damalige Ohren ungewohnten Eigenarten des Beethoven-Stückes selbst die Zuhörer  befremdet haben. Denn: Opus 61, das heute bekannteste und beliebteste Violinkonzert überhaupt, fiel im Urteil der Fachwelt jener Zeit gnadenlos durch.

Johann Nepomuk Möser, einer der führenden Musikkritiker der Epoche, schrieb in der Wiener Theater-Zeitung einen Uraufführungs-Verriss, der sich gewaschen hat. Sollten heutzutage hiesige Kritiker je Ähnliches aufs öffentliche Papier bringen, man würde sie wohl teeren, federn und zu den Stadttoren hinaustreiben. Was unsereins im frühen 21. Jahrhundert schreibt, ist, verglichen mit damaligen Kritiken, selbst  in der schärfsten Form bloß harmloses Gesäusel. Eine kleine Kostprobe aus Mösers Besprechung: „Über Beethovens Konzert ist das Urteil von Kennern ungeteilt, es gesteht demselben zwar manche Schönheit zu, bekennt aber, dass der Zusammenhang oft ganz zerrissen scheine, und dass die unendlichen Wiederholungen einiger gemeinen Stellen leicht ermüden könnten. Man fürchtet, wenn Beethoven auf diesem Weg fortwandelt, so werde er und das Publikum übel dabei fahren. Die Musik könne sobald dahin kömmen, dass jeder (…) schlechterdings gar keinen Genuss bei ihr finde.“

Das große Violinkonzert opus 61, dieser vielgeliebte Evergreen des heutigen Konzertrepertoires, verschwand nach der Wiener Uraufführung von 1806 für beinahe vier Jahrzehnte völlig von der Bildfläche. Und in dieser Situation kommt nun Mendelssohn-Bartholdy ins Spiel.

40 Jahre nach dem Durchfall in Wien holt er Beethovens vergessenes Violinkonzert wieder aus der Versenkung und drückt die Noten einem zwölfjährigen Wunderkind namens Joseph Joachim in Hand. Dieser Joachim sollte nach dem 1840 verstorbenen Paganini der bedeutendste Geigenvirtuose des 19. Jahrhunderts werden. Als Knabe verhalf er im Jahr 1844 bei einem von Mendelssohn Bartholdy dirigierten Konzert Beethovens Opus 61 endlich zum verspäteten Durchbruch.

Damit begann der noch immer anhaltende Triumphzug dieses Werkes durch die Konzertsäle weltweit. Den Anstoß gab Felix Mendelssohn Bartholdy, wie er schon 1829 mit einer anderen Pioniertat der Musikgeschichte einen wichtigen Anstoß gegeben hatte: Seine  Wiederaufführung der Matthäus-Passion in der Berliner Singakademie leitete eine Renaissance der fast völlig eingeschlafenen Rezeption des Oeuvres von Johann Sebastian Bach ein.

Bleibt die Frage: Was hat dem Uraufführungspublikum 1806 an Beethovens Violinkonzert so missfallen? Lassen Sie uns – Mösers Kritik von wegen überladen und ermüdend noch im Ohr –  ein bisschen mutmaßen: Zu jenem Zeitpunkt war Beethoven kein Unbekannter mehr, seine Sinfonien 1 bis 3 waren bereits aufgeführt, ebenso die Klavierkonzerte 1 bis 3. Das Publikum war mit dem sinfonischen Prinzip der Entwicklung eines großen Werkes aus der Durcharbeitung eines kleinen musikalischen Themas vertraut. Es kannte auch das dialogische Prinzip zwischen Solist und Orchester in der Konzertform, namentlich im Klavierkonzert. Und schließlich konnten damalige Musikfreunde alle Nase lang violinistische Virtuosenauftritte erleben.

Jetzt das Interessante: Ausgerechnet die Vertrautheit mit diesen drei Elementen könnte für die Rezeption von Opus 61 ein Problem geworden sein. Ein Problem, das uns heutigen Hörern, die wir durch und durch in romantischer Ästhetik sozialisiert sind, völlig unbegreiflich ist. So hören und empfinden wir bespielsweise den ersten Satz als sehr klar strukturierten, sich harmonisch von einer emotionalen Phase zur nächsten entwickelnden Spannungsbogen. Ganz anders unsere durch Barock und Frühklassik geprägten sowie von seinerzeitigen italienischen und französischen Schulen beeinflussten Altvorderen: Der Umstand, dass Beethoven sich nicht auf das Durcharbeiten der üblichen zwei Themen beschränkt, sondern stattdessen eine Sammlung aus vielfältigen Motiven zum Werk verwebt, könnte damals für erhebliche Verwirrung, Unsicherheit und Befremden im Kopf der Zuhörer gesorgt haben.

Wie gesagt: Für uns ist das nicht mehr nachvollziehbar. Übrigens genauso wenig wie das damalige Herumgemäckel, das Violinkonzert böte dem geigerischen Solisten nur unzulänglich Gelegenheit, virtuos zu glänzen. In der Tat wurde das Werk nicht für instrumental-artistische Zwecke komponiert. Und tatsächlich unterscheidet es sich von den seinerzeit üblichen Virtuosenkonzerten durch einen vermeintlichen Mangel an technisch spektakulärer Kuriosität.

 Mein Stuttgarter Kollege Mattias Waltz beschreibt das, worauf Beethoven stattdessen abhob, in einem lexikalischen Beitrag folgendermaßen: „Er legt den Schwerpunkt auf kantable Linienführung und sinfonisch entworfene Einheit. Die Violine steht dabei ihrem Klangcharakter gemäß nicht dem Orchester gegenüber,“ -  wie das im Klavierkonzert häufig der Fall ist -  „sondern löst sich als führende Stimme oder Kommentator aus dem Gesamtklang heraus.“

Nun soll aber ja niemand meinen, Opus 61 sei deshalb für den Solisten spieltechnisch weniger anspruchsvoll. Sie, meine Damen und Herrn, werden nachher reichlich Gelegenheit haben, auch über die technische Virtuosität unserer heutigen Solistin Jennifer Frautschi zu staunen. Aber die wahre Kunst dieser Partie beginnt jenseits flincker Finger und raffinierter Bogenführung - bei Geist und Seele des musikalischen Ausdrucks im Solospiel, wie in der Korrespondenz mit dem Orchester. Ich bin gespannt wie es Jennifer Frautschi mit diesen eigentlichen Tiefen des Werkes hält.

Die Literatur über Beethovens Violinkonzert füllt viele Regalmeter, CD-Einspielungen gibt es eine Unzahl. Über Mendelssohn Bartholdys Sinfonia Nr. 8 findet man hingegen herzlich wenig geschrieben und  CDs auch nicht gerade im Übermaß. Sollte jemand von ihnen im Vorgriff auf den heutige Nachtmittag mal in einschlägigen Konzertführern geblättert haben, dürfte er zuerst über ein recht seltsames Phänomen gestolpert sein: Da hört die Zählung der Sinfonien von Mendelssohn Bartholdy mit Nr. 5, der Reformationssinfonie, auf – während uns heute hier eine Sinfonie Nr. 8 präsentiert werden soll. Ein Schelm, wer nun an einen  Streich von der Art denkt, dass man in Koblenz Stücke konzertiert, die es gar nicht gibt.

Das Rätsel lässt sich so auflösen: Erinnern Sie sich, dass ich eingangs von 12 Streichersinfonien sprach, die der kleine Felix im Alter von 12 bis 14 schrieb. Diese ganze Gruppe von Frühwerken hat ihre eigene Zählung. Folglich existieren im Oeuvre dieses Komponisten jeweils zwei Sinfonien 1 bis 5, einmal die später entstandenen fünf „richtigen“ Sinfonien meinend, zum anderen die erste handvoll der 12 Streichersinfonien des Kindes zählend.

Eineinhalb Jahrhunderte lang hat diese Verwirrung keinen Menschen gestört, weil sich ohnehin niemand für die als „Übungsstücke“  entstandenen Arbeiten interessierte. Erst im Jahr 1962 begann im Rahmen der neuen „Leipziger Ausgabe der Werke von Mendelssohn Bartholdy“ mit der Sinfonia Nr. 9 C-Dur überhaupt die Herausgabe von Noten der 12 Streichersinfonien. 1972 wurden sie erstmals auf Schallplatte gepresst. Genau genommen aber war die Nichtbeachtung dieser frühen Stücke ganz im Sinne ihres Schöpfers. Denn auch Felix selbst betrachtete sie als Schularbeiten und hatte nie an eine Veröffentlichung gedacht.

Ich bin mir nicht ganz sicher, aber es wäre durchaus möglich, dass die heutige Aufführung der achten Streichersinfonie die Koblenzer Erstaufführung ist. Sie werden dabei, wie schon bei Frühwerken anderer bedeutender Komponisten,  wahrscheinlich zweierlei feststellen: Erstens, dass für unsereinen immer wieder erstaunlich ist, welche Qualitäten oft in Stücken stecken, die die komponierenden Wunderkinde  selbst nachher als bloße Fingerübung abtun.

Zweitens werden sie aber einmal mehr feststellen, dass auch Wunderkinder nicht als fertige Großmeister vom Himmel fallen, sondern wie jeder gewöhnliche Mensch einen Reifeprozess durchmachen. Einen Prozess, der ohne Mühen, Anstrengung, halbwegs vertretbare Lebensumstände und vor allem gute Lehrer selbst Genies nicht auf die Höhe ihrer Möglichkeiten führen würde.

Felix Mendelssohn Bartholdy hatte in Carl Friedrich Zelter einen ausgezeichneten Lehrer. Dieser bedeutende deutsche Musikpädagoge und Kirchenmusiker ließ seinen hoffnungsvollen Zögling nach eigenen Worten zwar „getrost von Kobolden und Drachen träumen“, also auch ganz normales Kind sein. Ebenso hielt er den Knaben jedoch konsequent „bei der Stange der kontrapunktischen Studien“. So kam auch die Orientierung an Johann Sebastian Bach über Zelter auf  Felix. Die intensive Beschäftigung mit dem Vorbild des großen Thomaskantors hat in der 8. Sinfonie ihre Spuren hinterlassen, ebenso der Einfluss der Wiener Klassik, insbesondere Mozarts, dessen „Prager Sinfonie“ wie ein fernes Echo durch den ersten der vier Sätze geistert.

Der junge Felix eifert den Großen nach, lernt, deren Werkzeuge zu handhaben und benutzt diese für eigene Zwecke. Daran ist überhaupt nichts auszusetzen, im Gegenteil. Doch der Bub hat auch einen eigenen Kreativkopf: die zwölf Streichersinfonien schäumen über vor originellen Einfällen. Der Verzicht auf Violinen und stattdessen der Einsatz dreifach geteilter Bratschen im zweiten, dem Adagio-Satz der Achten Sinfonie ist eine solcher Einfall. Achten Sie nachher doch mal auf den schönen Effekt, der sich daraus ergibt.

Ich will zum Ende kommen, bin Ihnen aber noch die vorhin versprochene Auskunft schuldig über den hellwachen Geist von Felix Mendelssohn-Bartholdy, der ihm die wiederholt mehrtägige Gastfreundschaft Johann Wolfgang von Goethes in Weimar eingebracht hat. Ursächlich für die künstlerische wie auch intellektuelle Lebhaftigkeit des Musikers war sein bildungsintensives und kunstsinniges Kindeheitsumfeld. Nicht zuletzt Dank der langjährigen Arbeit des Koblenzer Mendelssohn-Vereins weiß das hiesige interessierte Publikum recht gut Bescheid über die Lebensumstände der Familie Mendelssohn. Die besaß drüben in Koblenz-Horchheim ein Weingut, auf dem auch Felix und seine Schwester Fanny manch frohe Stunde der Sommerfrische erlebten. Aber das nur am Rande.

Felix Mendelssohn entstammt einer wohlhabenden und ebenso gebildeten Familie jüdischen Ursprungs. Die Mutter kunstsinniger Sproß einer Industriellen-Dynastie, der Vater ein Bankier, wuchs Felix im freigeistigen Umfeld der Haskala auf. Das ist jene jüdische Aufklärungsphilosophie, deren Wegbereiter und bedeutendster Vertreter der deutsche Philosoph Moses Mendelssohn war – der Großvater von Felix. Geistigem Diskurs und kultureller Aktivität kamen im Berliner Hause Mendelssohn herausragende Bedeutung zu.

Die achte Streichersinfonie wurde wahrscheinlich erstmals bei einer der „Sonntagsmusiken“ gespielt, die von den Eltern in ihrem Esszimmer regelmäßig abgehalten wurden. Was heißt hier Esszimmer: Dem Vernehmen nach sollen sich in diesem „Räumchen“ bisweilen mehr als 200 Zuhörer versammelt haben. Stellen sie sich also ein Esszimmer etwa DIESER GRÖSSE (deuten auf Foyer-Saal) vor. Dorthin war ein kleines Orchester aus Berliner Hofmusikern engagiert, mit denen zusammen Felix und auch Schwester Fanny ihr beider außerordentliches Musiktalent unter Beweis stellten.

Wir haben es bei den Mendelssohns demnach mit einer typischen deutschen Großbürgerfamilie des 19. Jahrhunderts zu tun, die auf einem starken Wohlstands- und Bildungsfundament konservative wie auch liberale Züge in sich vereint. Es ist dies das Umfeld, in dem  Assimilationstendenzen am schnellsten und weitesten um sich griffen. Will sagen, in solchem Umfeld gerieten jüdische Verwurzelungen ins Hintertreffen: Entweder wegen des Assimilierungsdrucks durch die deutsch-christliche Lebensart der Gesellschaftsmehrheit,  oder wegen des Lockrufes der atheistisch-polyglotten Lebensart des urbanen Liberalismus.

Die Zusammenhänge sind überaus komplex und würden hier zu weit führen. Bei den Mendelssohn-Eltern jedenfalls wurden die Verbindungen zu ihren jüdischen Wurzeln schwach und schwächer, sie ließen ihre Kinder christlich erziehen und 1816 taufen. Einige Jahre später konvertierten auch Vater und Mutter zum Protestantismus. Auf diesem  Wege kam Felix auch zu seinem umständlichen Doppelnamen Mendelssohn Bartholdy, ohne Bindestrich: Der Vater setzte dem jüdischen Namensteil Mendelssohn, den von einem italienischen Onkel  entliehenen „christlichen“ Namen Bartholdy einfach hinzu.

Wie im Falle Heinrich Heine bewahrte auch hier die Christianisierung nicht vor antisemitischer Anfeindung und nachher Ächtung oder Verbrennung des Werkes.

Das war’s von mir für heute und für diese Saison. Ich hoffe wir sehen uns im Herbst an gleicher Stelle wieder.
Wie immer der Hinweis, dass Sie von morgen Mittag an diesen Vortrag auf meiner Homepage www.pecht.info im Internet noch mal nachlesen können. Und nun viel Freude bei Felix Mendelssohn Bartholdys Sinfonia Nr. 8 und Ludwig van Beethovens Violinkonzert opus 61.

Danke für ihre Aufmerksamkeit. 

Andreas Pecht
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Alle Einführungen in die Koblenzer Görreshaus-Konzerte seit 2005 können Sie über die Startseite von www.pecht.info ansteuern. Setzen Sie dort am Kopf Ihren Kursor auf den Button "Archiv/Backlist"  und klicken Sie dann "Vorträge" an.
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Görreshaus-Konzert, Einführung, Beethoven Violinkonzert op. 61, Mendelssohn Bartholdy Sinfonia Nr. 8, Jennifer Frautschi, Daniel Raiskin, Staatsorchester Rheinische Philharmonie.
 
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