Kritiken Theater
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2008-05-21 Ballettkritik:  
Wedekinds Monstretragödie "Lulu"
als erschütterndes Tanzstück

Stuttgarter Ballett mit Christian Spucks Choroegrafie
bei den Maifestspielen Wiesbaden
 
ape. Wiesbaden. Die Frage ist eine Dauerbrenner in der Kunstdiskussion seit mehr als 20 Jahren: Kann uns das abendfüllende Handlungsballett in Moderne und Postmoderne noch etwas sagen, oder ist seine Funktion heute auf museale Repertoirepflege und Tanzkulinarik beschränkt?  Zwei Gastabende des Stuttgarter Balletts bei den Maifestspielen in Wiesbaden verdeutlichten jetzt: Da geht noch was. Christian Spuck hat der von John Cranko gegründeten Compagnie eine „Lulu“ nach Frank Wedekinds gleichnamiger „Monstretragödie“ choreografiert, die in ihren entscheidenden Teilen auch abgebrühte Modernisten bis ins Mark erschüttert.
 
Man könnte nun streiten, ob die kräftigen Anleihen beim spätromantischen Ballett dem Wedekind-Stoff nicht ein bisschen viel Salon- und Ballhaus-Ästhetik aufladen. Man könnte auch mäkeln, dass für eine der besten Compagnien Europas die großen Formationen etwas unsauber ausfielen. Was wohl zu tun hat mit der Bühne, die in Stuttgart ungleich größer ist als selbst im Großen Haus des Wiesbadener Staatstheaters. Überhaupt könnte einem das ganze äußere Drum-und-Dran mit Kronleuchtern, Fernorchestrion zwischen plüschig-opulenten Showtreppen, Kostümen der vorletzten Jahrhundertwende und viel launig-elegantem Gesellschaftstanz auf Spitze missfallen.

Dies und mehr ließe sich einwenden -  es bliebe dennoch das Phänomen, dass der Abend einen schier den Schlaf raubenden inneren Aufruhr hinterlässt. Das Fundament dafür legt bereits die Musikauswahl, die Stücke von Schostakowitsch, Berg und Schönberg sinnfällig zu einer tragenden wie interpretierenden Ballettmusik montiert; vom Wiesbadener Staatsorchester unter James Tuggle in wunderbar dramatischen Brechungen ausgeformt. Mannigfache Brechungen auch auf der Bühne: Im historischen Ballsaal Lulus Gesicht ganz nah auf Videoleinwand; in die schönste Walzerseligkeit hinein verliest eine Stimme aus dem Off Befunde, wie Jack the Ripper seine Opfer zugerichtet hat.

Brechungen auch durch Unterbrechung der Musik: Dann tanzt die Gesellschaft zur Stille; Walzer wird Totentanz. Und mittendrin sie, die Kleine, Lulu; blondes Mädchen in weißem Kurzhemd; nicht Vamp, die Männer fällt, sondern hier unschuldige Urgewalt, die unter die Männer fällt wie einst im Kino Jodie Fosters Waldfrau „Nell“ unter Städter und Politiker. In Wiesbaden ist am einen Abend Katja Wünsche, am andern Laura O’Malley in dieser Rolle die einzige Frau auf der Bühne, die nicht auf Spitze, sondern auf Sohle und Halbsohle tanzt.

Welch eine gewaltige Partie hat Spuck mit der Lulu da choreografiert! Eleganz und Verspieltheit, fordernder Sexus und weiches Anlehnungsbedürfnis, naturwüchsiges Selbstbewusstsein und existenzielle Verunsicherung, Zorn und Angst, Trotz und Schnurren  fließen tänzerisch ineinander. Heraus kommt eine ebenso faszinierende wie gefährdete Persönlichkeit, die Traumfrau oder Albtraumfrau sein kann, indem sie einfach ist wie sie ist – ein aus den Wolken gefallenes, lustvolles wie zuwendungsbedürftiges Naturwesen, das auch beißen muss, weil es von Mannesgier so wenig weiß wie von gesellschaftlicher Konvention und Ranküne.

Natürlich, ein solches Wesen kann in unserer Welt nicht überleben, wird benutzt, missbraucht, schließlich zerstört. So interpretiert dieses Ballett Wedekinds „Lulu“. Und das Können von Katja Wünsche oder Laura O’Malley stürzt den Betrachter schließlich in tiefes Mitleid für das Mädchen. Ein Mitleid, das die (Tanz-)Kunst zu nachwirkendem Leiden am Stand der menschlichen Dinge verdichtet.                                                          Andreas Pecht   

(Erstabdruck 22. Mai 2008)


"Lulu" vom Stuttgarter Ballett, Gastspiel im Staatstheater Wiesbaden, Kritik, Choreografie Christian Spuck        

 
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