Kritiken Theater | |||
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2008-09-20 Schauspielkritik: | |
"Reiz und Schmerz" von Bruce Norris erlebte in Mainz sehenswerte Deutsche Erstaufführung Von Grund auf verlogenes Familienidyll |
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ape. Mainz. Der
US-amerikanische Autor Bruce Norris hat ein Stück geschrieben, das
einen Blick ins Wohnzimmer der oberen Mittelschicht seines Landes
wirft? „Reiz und Schmerz“ kam 2005 in Chicago zur Uraufführung und
jetzt im Mainzer Staatstheaters erstmals auf eine deutsche Bühne. Was
gehen uns die familiären Verrücktheiten saturierter Amerikaner an?
Könnte man fragen, lässt es aber schon nach den ersten Minuten
des an gallebitteren Pointen reichen Abends lieber. Denn: So anders als
wir sind diese Amis gar nicht, auch wenn wir’s nie und nimmer zugeben
würden. |
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Schick-modern
das Domizil, das Clay und Kelly mit Töchterchen Kayla (Julia Bremke)
und Säugling ihr Eigen nennen. Hellbeige Sitzgruppe, dunkelrustikale
Esstafel, dahinter Glasfront hin zur Veranda, großes Flachbild-TV,
breiter Treppenaufgang zum übrigen Haus. Susanne Maier-Staufens Bühne
strahlt Gediegenheit, Ordentlichkeit, Wohlstand heutiger Art aus.
Die junge Familie, die da lebt, hat es geschafft. Dass Clay den
Hausmann gibt, passt in die Zeit. Die Erfolgsgattin verdient reichlich. Der Regie führende Intendant Matthias Fontheim lässt vorderhand mit leichtem Boulevardton Familien-Idyll zum Traditions-Feiertag geben: Clays Mutter (Monika Dortschy) ist zu Besuch; Bruder Cash ebenfalls, nebst sexy russischer Kalina. In der Röhre brutzelt der Truthahn, auf die Veranda rieselt Schnee. Ach, wie traut. Wir ahnen früh: Das geht bös’ aus. Unter der neubürgerlichen Oberfläche brodeln Probleme und Widersprüche zuhauf. Clay ist nicht freiwillig Hausmann, die Ehe nur scheinbar glücklich, das Verhältnis zum Bruder von Kindheit an gespannt, die Mama nur auf den ersten Blick lieb, zwischen Kelly und ihrem Schwager steht ein düsterer Sündenfall. Und all das aseptische Gutmenschen-Getue um gewaltfreie, liebevolle, gesunde Erziehung des Töchterchen stinkt bald zum Himmel. In den schönen Familien-Schein schleichen sich erst kleine Spitzen ein, dann laute Streitereien – am Ende steht eine aller Lieblichkeit entzauberte Familienhölle aus Lebensangst, Sicherheitshysterie, Hass, Verlogenheit und Egomanie im Raum. Das Stück spielt auf zwei Zeitebenen. Besagter Feiertag erschließt sich in Rückblicken, als Bericht an einen älteren Herrn fremdländischer, arabischer Herkunft. Dieser Mr. Hadid (Morteza Mojtahedy) sitzt während der ganzen Aufführung zumeist ausdruckslos im Bühnenvordergrund. Er gibt am Schluss dem Geschehen eine überraschende Wendung. Eine, durch die sich die vorgeblich hohen Humanwerte in jener weißen amerikanischen Mittelklasse-Familie vollends als bigott diskreditieren. Tendenz und Machart des Stückes sind nichts Neues. Yasmina Rezas „Drei mal Leben“ oder „Der Gott des Gemetzels“ verfolgten zuletzt eine ähnliche Strategie. „Reiz und Schmerz“ ist eine härtere und tiefer gehende Variante dieses Genres, das im Boulevard-Gewand aufzieht, um als Zeit-Tragödie zu enden. Fontheim hat ein stringent realistisches Charakterspiel inszeniert, das die Eskalation in passenden Portionen aus den schmerzhaft zupackenden Gegenwarts-Dialogen von Bruce Norris entwickelt. Florian Hänsel lässt aus den frustrierten Tiefen seines Clay wellenartig Hysterie aufsteigen. Julia Kreusch balanciert auf des Messers Schneide zwischen souveräner bis eiskalter Hausherrin und abgründig verbitterter Frau. Stefan Walz gibt den Cash als personifizierten Zynismus und Johanna Paliatsou mit Schmackes das gebeutelte, aber nicht klein zu kriegende Russen-Girl. Alle sind trefflich auf realistisches Situationsspiel eingestellt. Kehrseite solch intensiver „Echtheit“ auf dem Theater: Man versteht im verbalen Getümmel bisweilen kein Wort. Fast wie im Leben. Andreas Pecht Karten/Infos: www.staatstheater-mainz.de (Erstabdruck am 22. September 2008) Theaterkritik, Deutsche Erstaufführung in Mainz, "Reiz und Schmerz" von Bruce Norris, Regie: Matthias Fontheim |
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