Kritiken Theater
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2008-10-20 Ballettkritik:

"Das Auge der Welt": Ballett Wiesbaden schaut ins vielgestaltige Innere des menschlichen Ichs

Die gehetzten Träume
des Stephan Thoss
 
ape. Wiesbaden.  Das Ballett des Staatstheaters Wiesbaden „sollte sich mehr trauen und weniger machen“. Diesen scheinbar widersprüchlichen Satz sagte ein Zuseher bei der Premiere des jüngsten Tanzabends von Stephan Thoss. Unter dem Gesamttitel „Das Auge der Welt“ blicken zwei Choreografien ins zerrissene Innere des menschlichen Ichs: „Tosende Stille“ zu Musik (vom Band) von Vivaldi sowie „heim suchen“ zu Klängen von Philip Glass.

Der dritte und am lautesten beklatschte Teil des Abends ist eine humorige Persiflage auf Ravels „Boléro“. Anders als sonst überall im Tanz, ist diesmal nicht die Entfaltung junger Libido zu erleben. Thoss stellt stattdessen sechs ergraute Mütterchen auf die Bühne, denen der Bolero zuckenden Leichtsinn in die rheumatischen Glieder treibt.

Doch zuvor „Tosende Stille“: Drei Schläfer vor einem Horizont aus Regenschirmen. Dazwischen stolziert eine Frau im Rokoko-Outfit herum.  Ihre Funktion bleibt ein Rätsel, wie so manch anderes auch. Still ist Schlaf nur von außen betrachtet. Drinnen im Menschen läuft das Hirn derweil zu autonomer Hochleistung auf. Dies Tosen packt die Thoss-Compagnie in einen wirbelnden Strom  kleiner Tanzszenen, die sich ihrerseits aus Fluten schnellstmöglich variierender Figuren und Bewegungen bei jedem Tänzer zusammensetzen.

Das rauscht so dicht und schnell vorbei, dass bestenfalls noch Splitter des Gemeinten aufzuschnappen sind. Im Traume werden die anderen, auch die geheimen Aspekte des Individuums lebendig. Hyde wird Jekyll, Jekyll Hyde; der Gemäßgte zum Extremisten; der Schüchterne zum Lusttier, die Frau zum Krieger, der Mann zur Gebärerin . . .

Mag sein, die Choreografie spricht von solchen Grenzräumen und -übertritten im Traum. Wirklich erfassen können wir’s nicht: Zu hurtig geschnitten sind Bilder und Bewegungen, zu wenig trennscharf, zu wenig sinnfällig, zu vage und auch zu unanstößig die Legionen von Andeutungen in allzu gleichförmiger Bewegungsästhetik.

Thoss scheut offenbar szenisch-tänzerische Polarisierung und Benutzung des Tanzes als Ausdruck von Extremen. So auch in der Uraufführung mit dem wunderbar doppeldeutigen Titel „heim suchen“. Darin wird eine Frau (Emilia Giudicelli) nächtens von Gesichten heimgesucht. Durch diverse Türen stürmen Variationen ihres eigenen Ichs auf sie ein, mit denen sie in spiegelbildlichen Tanzszenen konfrontiert wird. Hier sie selbst als Mann in Frauenkleidern. Da sie als Schmiegeweibchen, dort als zeternder Hausdrache.

Was hingeschrieben nach scharfen Kontrasten klingt, bleibt auf der Bühne indes  wieder nur ein gehetztes Spiel  mit Nuancen.  Dieses Ballett sollte sich mehr trauen und weniger machen. Mehr sowohl die große Abstraktion als auch den sinnbildlichen wie sinnlichen Griff in die widersprüchliche Substanz des Menschlichen wagen.  Weniger sich im Dauerschnellfeuer hoher Tanzschwierigkeiten verausgaben. Konzentration!

Wiesbaden hat jetzt alles, was es dazu braucht: Tänzer von hohen Graden und einen Choreografen, der ein großer Bewegungskompositeur ist. Wenn er das nun auch noch mit fürs Betrachterauge erfassbaren Bildschnitten sehen ließe – es könnten bewegende und beglückende Ballettmomente sein. Andreas Pecht

Info: www.staatstheater-wiesbaden.de



(Erstabdruck am 21. Oktober 2008)


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