Kritiken Theater
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2008-12-02 Ballettkritik:

"Zwischen Mitternacht und Morgen: Schwanensee" von Stephan Thoss am Staatstheater Wiesbaden

Ein berückendes Tanzspiel über
Liebeslust und Menschenleid
 
ape. Wiesbaden.

Wer Augen hat, zu sehen, und ein mitfühlend Herz, den kann das Ballett „Zwischen Mitternacht und Morgen: Schwanensee“ von Stephan Thoss am Wiesbadener Staatstheater nicht kalt lassen. Wer der Tanzkunst ästhetische Legitimation auch jenseits des klassischen Reglements zugesteht, der wird diese Neuinterpretation des legendären Ballettmärchens "Schwanensee" unschwer als bedeutend anerkennen. Sie erzählt die Geschichte vom Schmerz verratener Liebe als Erleben junger Leute von heute.

 

Nicht Prinzen-Fest im Schlosspark nebst Bauernfolklore und Nationaltänzen. Der Wiesbadener „Schwanensee“ beginnt an einem Ort moderner Abstraktheit, wo Jugendliche zusammenkommen (Ausstattung: Tina Kitzing): Zwei Bänke an diesem Bühnenrand, ein Bar-Tresen am andern, hinten eine Art Skulptur in Form eines übergroßen Sitzsackes. Aus dem wird, um die Längsachse gedreht, nachher ein Tropfen: Tränensymbol, dem Odette nackt entsteigt, um ins Schwanen-Tutu zu schlüpfen. Kein billig-frivoler Effekt, sondern schlüssiger und berührender Ausdruck schmerzgetriebenen Abstreifens ihres vorherigen Lebens.


Der Tragik geht seit der Uraufführung des Werkes 1877 am Moskauer Bolschoi die Lebensfreude voraus. Von Tschaikowskys wunderbarer Musik angetrieben, entfaltet  Choreografie von Thoss lebendig, humorig, vielgestaltig das allfällige Spiel des Liebeswerbens. Da werden freie Formen des Ausdruckstanzes kunstvoll mit Elementen zeitgenössischen Discotanzes verwoben. Ausgelassenheit reichlich beim Tändeln und Turteln: Es reizen die kurzberockten Mädchen mit neckischem Schwofen, es gockeln die Jungs mit Kraft-Gehabe.


Aus quirligen Übergängen entwickeln sich Soli, Gruppen, Formationen, deren affektive Kleinteiligkeit Thoss diesmal zu fabelhaft konzentrierten, klar strukturierten und dem Auge Halt gebenden Sequenzen bündelt. Das gilt für den gesamten Abend, der zum temperamentvollen Anfang mit dem Wesen des Geschlechterspiels vergnügt: Lust an der Lust. Das Ballett hält es mit Shakespeare, nach dem Liebe zwar nicht nur Libido ist, aber ohne Fleischeslust wäre wie ein Bad ohne Wasser. Die Erotik wirkt stark in dieser Choreografie, gerade weil sie nie demonstrativ daherkommt, sondern als naturgesetzlicher Lebensstrom mitschwingt.


Dann verdichtet sich die Tanzparty zum Liebesernst. Rotbart, Mann unter den Jünglingen und Matador des Parketts, betört Odette. Kenneth Pettitt und Anna Herrmann bauen flirrende Spannung zwischen abgefeimter Verführung durch ihn und liebend flammender Hingabe bei ihr auf. In stillem Gram verfolgt ein ernster Siegfried (Sandro Westphal) den absehbaren Gang der Tragödie, in die „seine“ Odette von jenem eitlen Macho gestürzt wird. Der brave Bub tappt bald in die gleiche Falle: Xanthe Geeves zieht ihn als raffinierte Verführerin Odile in den Bann der Begierde – er meint Liebe, sie spielt süffisant die Trümpfe des ewig lockenden Weibes aus.


Das sind jeweils berückende Tanzmomente, deren emotionale Intensität durch das kongeniale Musizieren des Hausorchesters unter Wolfgang Ott atemberaubende Vertiefung erfährt. Zu Tränen rührender Höhepunkt wird Odettes Leidenssolo im zweiten Akt. Ein Faszinosum dabei ist, wie das Spiel der Muskeln und Knochen von Anna Herrmanns nacktem Rücken als unmittelbarer Ausdruck inneren Empfindens mitchoreografiert wurde.


Wo im traditionellen „Schwanensee“ märchenhafte Spitzentänze ihren Platz haben, sehen wir hier eine psychologische Metapher: Frauen wie Männer in zerknitterten Tutus, die Brüste in barmender Schutzgeste notdürftig mit Händen bedeckend. Menschen, die in der realen Welt so verletzt wurden, dass sie sich von ihr zurückgezogen haben – leidend aber auch zornig, verloren und doch suchend. Weshalb das Ballett blanc in Wiesbaden dem klassischen Primat überirdischer Grazie entsagt und stattdessen irdische Verstörtheit verhandelt. Ja, der „Schwanensee“ des Stephan Thoss ist ganz anders als der Klassiker. Das aber mindert die dramatische wie tänzerische Größe von „Zwischen Mitternacht und Morgen“ nicht im geringsten. 

                                                                                    Andreas Pecht

Infos/Karten: www.staatstheater-wiesbaden.de


(Erstabdruck am 3. Dezember 2008)


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