Thema Vortrag
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2008-12-08: Vortrag 
Orchesterkonzert im Görreshaus,
Dezember 2008

Konzerteinführung am 7.12. 2008 (Unkorrigiertes Vortragsmanuskript).

Ausführende: Staatsorchester Rheinische Philharmonie unter Daniel Raiskin. Solist: Torleif Thedéen. Programm: Mozart Ouvertüre zu "La clemenza di Tito". Vieuxtemps Cellokonzert Nr.1, Dvorak "Waldesruhe" op. 68/5 und Rondo op. 94, Beethoven 2. Sinfonie.




Meine sehr verehrten Damen und Herrn, liebe Musikfreunde
                                   
seien Sie an diesem 2. Advent herzlich begrüßt zum ersten von vier   „Orchesterkonzerten im Görreshaus“ in der Saison 2008/2009. Für mich ist es das vierte Jahr im Amte des Aufwärmers oder – wenn Sie so wollen – Eintänzers. Damit bin ich für die meisten von Ihnen inzwischen ein alter Bekannter, um nicht zu sagen ein alter Hut. Den Neulingen in dieser Runde muss ich mich natürlich vorstellen:

Mein Name ist Andreas Pecht, mein gewöhnlicher Brotberuf ist der des freischaffenden Kulturjournalisten und Kritikers vor allem auf den Feldern Theater, Literatur und klassische Musik. Bei den Görreshauskonzerten bleibt die Kritikerfeder allerdings in der Schublade, denn in diesen Fall hat die Intendanz der Rheinischen Philharmonie mich engagiert. Wofür? Um Sie, das Publikum, mit einem möglichst schönen und möglichst interessanten Vortrag ein bisschen aufs nachfolgende Konzert einzustimmen.

Eine knappe halbe Stunde dauert das gewöhnlich, und soll für Sie kein dröges musikwissenschaftliches Hauptseminar sein, sondern eine ebenso informative wie kurzweilige Angelegenheit. So versuche ich denn, den scharfen Wechsel von der gehetzten Welt da draußen ins Refugium der Kunst dort drinnen als sanften Übergang zu gestalten. Wie dieses Foyer, in dem wir uns befinden, die Schleuse zwischen Draußen und Drinnen für den Körper ist, so soll meine Plauderei über dies und das aus dem Umfeld der jeweiligen Konzertprogramme das Foyer für den Geist sein. Wenn's gut läuft, auch ein bisschen das Foyer fürs Herz.

Zur heutigen Sache nun.
Auf dem Programm stehen Werke von vier Komponisten. Alle vier sind seit mehr als 100 Jahren teils mehr als 200 Jahren tot. Woraus naturgemäß folgt, dass es sich um sogenannte Klassiker handelt. Drei davon sind Berühmtheiten bis heute und wohl auch in alle Zukunft, solange Menschen gute Musik lieben. Der Vierte war zwar zu seiner Zeit als Geigenvirtuose ein regelrechter Superstar in der Musikwelt, geriet nachher aber doch ziemlich in Vergessenheit. In der Reihe ihres heutigen Auftretens handelt es sich um:
-    Wolfgang Amadeus Mozart (1756 bis 1791). Der eröffnet das Konzert passenderweise mit einer Ouvertüre, nämlich der zur Oper „La Clemenza di Tito“.
-     Danach kommt besagter Geigenvirtuose namens Henri Vieuxtemps, geboren 1820 in Belgien, gestorben 1881 in einem Sanatorium in Algier.
-    Es folgt Antonin Dvorak mit zwei Stücken. Dvorak hat gelebt von 1841 bis 1904 und ist damit der historisch jüngste unserer heutigen Runde.
-    Den Schlusspunkt setzt Ludwig van Beethoven mit seiner 2. Sinfonie. Zur Auffrischung der Erinnerung: Beethoven kam 1770 nebenan in Bonn zur Welt und starb völlig ertaubt 1827 in Wien.

Sie alle kennen das: Man wird in der Konzertpause oder nachher auf dem Weg zur Garderobe von Mitbesuchern gefragt: „Na, wie fanden sie es?“ Die Frage ist, so gestellt, etwas problematisch, denn sie kann sich auf zweierlei beziehen:  Erstens auf Ihren Eindruck von der Qualität des musikalischen Vortrags durch Orchester und Solisten oder aber, zweitens,  auf Ihre Ansicht zu einem der Musikwerke selbst. Vielleicht ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass man interessanterweise meistens   auch ohne nähere Erklärung sofort weiß, worauf der Fragende abzielt: Qualität des Vortrags oder Qualität der Komposition. Woher aber weiß man das? Meine Erklärung: Es ist die Musik selbst, die im Zusammenspiel mit einer Art allgemeinem Publikumsbewusstsein in diesem speziellen Publikumskreis die entsprechenden Prioritäten setzt.

Beispiel:
Wenn sie gleich Mozarts Opern-Ouvertüre hören, wird die Frage „Wie fanden sie es denn?“ hier unter den regelmäßigen Besuchern der Görreshauskonzerte wohl kaum der Qualität der Mozartschen Komposition gelten. Unter passionierten Klassikfreunden ist das Werk bekannt, anerkannt, wiederholt oder vielfach gehört. Vermutlich vor vielen Jahren schon haben sie es auf ihrer persönlichen Werteskala klassifiziert. Weshalb eine Frage nach der Qualität dieser Komposition Ihnen unsinnig vorkäme. Sie würden deshalb ganz selbstverständlich annehmen, dass die Frage sich auf die konkrete Orchesterleistung und Interpretation durch den Dirigenten Daniel Raiskin bezieht.

Ein ähnliches Selbstverständnis würde sich quasi als stillschweigende Konvention über den hiesigen Publikumskreis legen, stünde ein weithin oder völlig unbekanntes Stück auf dem Konzertprogramm. Nur diesmal mit umgekehrten Vorzeichen: Jeder von uns wüsste dann sofort, dass die Frage „Wie fanden sie es denn?“ sich zuerst und vor allem auf das Werk selbst bezieht.

Denken sie nur an Uraufführungen und örtliche Erstaufführungen zeitgenössischer Kompositionen, oder denken Sie an  Wiederaufführungen sehr lange nicht mehr gespielter historischer Werke. Da verhält es sich mit dem Fragen wie mit unserem eigenen Hören: In erster Linie wollen wir das unbekannte Werk im Großen und Ganzen kennenlernen; die Feinheiten der Interpretation bleiben da erstmal von sekundärer Bedeutung. Zumal uns bei einer Erstbegegnung mit einem unbekannten Stück schlichtweg die Kriterien fehlen, um überhaupt die Qualität des konkreten Musizierens richtig zu beurteilen. Hand aufs Herz: Wir sind doch beispielsweise bei modernen Werken, die die klassische Harmonik teilweise oder ganz verlassen haben,  jedes Mal verunsichert, ob die schrägen Töne so schräg komponiert wurden oder ob nur falsch gespielt wird. 

Nach der bis hierhin entwickelten Logik, dürfte in der heutigen Konzertpause die Frage, wie Sie es denn fanden, mit ziemlicher Sicherheit  NICHT dem Mozart gelten. Es sei denn, Herr Raiskin und das Orchester legten eine derart befremdliche Interpretation hin, dass wir die bekannte Ouvertüre zu „La clemenza di Tito“ gar nicht mehr wiedererkennen würden. Das wäre dann eine Ausnahmesituation, eine Sensation quasi, die natürlich alle Aufmerksamkeit auf sich zöge.

Einen normalen Konzertverlauf  unterstellt, dürfte das Gesprächsinteresse in der Pause sich aber auf das Cellokonzert von Henri Vieauxtemps richten. Dafür sprechen zwei Gründe:
A) Es ist selbst für unsere Runde hier ein vergleichsweise wenig vertrautes, für viele vielleicht sogar unbekanntes Stück.
B) Es ist ein Solist mit im Spiel, in diesem Fall mit Torleif Thedeen sogar ein nahmhafter – und solistische Leistungen ziehen per se immer  besondere Aufmerksamkeit der Zuhörer auf sich. Weshalb die Frage „Wie fanden Sie es denn?“ sehr wahrscheinlich das Cellokonzert meint und zugleich aber auch die Frage einschließt „Wie fanden Sie IHN denn?“, den Cellisten.

Bleiben wir für einen Moment bei diesem Henri Vieuxtemps. Ich hatte eingangs schon kurz angedeutet, dass der gebürtige Belgier zu seiner Zeit als Geigenvirtuose ein Star war. Vom Vater, einem Geigenbauer, erhielt er den ersten Unterricht. Als Sechsjähriger gab er erste Konzerte in seiner Heimatregion. Die folgenden 47 Jahre bis zu einem Schlaganfall 1873 war Konzertegeben seine Hauptbeschäftigung – neben dem eigenen Studium und neben dem Unterrichten: Vieuxtemps galt/gilt auch als bedeutender Violinpädagoge.

Konzerttourneen führten ihn durch ganz Europa, nach Amerika und nach Russland. Dort gefiel dem Zaren, es war  Nikolaus I., das Spiel des Belgiers so gut, dass er ihn in St. Petersburg für einige Jahre als Hofmusiker und Solist an seinem Theater engagierte. Vieuxtemps war auf der Höhe seiner Karriere ein gefeierter, ein umjubelter Virtuose. Robert Schumann schrieb in der Neuen Zeitschrift für Musik über ihn: „Wie ein Blume duftet und glänzt sein Spiel zugleich. Wenn man von Vieuxtemps spricht, kann man an Paganini denken.“

Der Vergleich mit Paganini wird in der Literatur häufig bemüht, was allerdings einen etwas schiefen Eindruck von der musikalischen und  musikhistorischen Stellung Vieuxtemps erzeugen kann. Er nimmt nämlich eine gemäßigte Position zwischen zwei violinistischen Extremen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein. Auf der einen Seite die dem Erbe der Klassik verpflichteten Konservativen um Giovanni Batista Viotti,  Pierre Rode oder Rodolphe Kreutzer. Auf der anderen Seite der Dämon, der Teufelsgeiger, der verhext-überirdische Akrobat auf der Violine: Niccolo Paganini.

Obwohl Vieuxtemps die circensische Exaltiertheit Paganinis nicht teilte, verehrte ihn doch sehr. Die Chronisten berichten von einer Begegnung des noch jugendlichen Belgiers mit dem gut eine Generation älteren italienischen Wundergeiger: Das Treffen habe tiefen Eindruck auf den jungen Burschen gemacht und ihm die Kniee weich. Das Ausmaß der Beeindruckung lässt sich gut vorstellen, wenn man bedenkt, das Henri Vieuxtemps schon von sich aus eine ziemlich sonderbare Type gewesen sein muss. Eduard Hanslick, einer der herausragenden Vertreter der Kritikerzunft und wahrscheinlich der bedeutendste Musikritiker des 19. Jahrhunderts überhaupt, sagte über ihn: „ Ein wunderbarer Künstler mit der Violine in der Hand – ohne die Violine ein wahres Kind, naiv, unerfahren, ungeschickt, begriffstutzig.“

In seinen autobiografischen Notaten erzählt Hanslick eine Episode, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte:
   „Vieuxtemps, der im praktischen Leben wirklich einen Vormund brauchte, hatte auch einen: seine Frau; eine gescheite, kalte, kerzengerade Dame, die ihn unerbittlich regierte. Wenn Vieuxtemps in seiner kindischen Naivität zu laut lachte oder etwas Ungeschicktes sagte, traf ihn sofort ein fürchterlicher Blick seiner Gebieterin, – und Henri krümmte sich zusammen, wie ein gescholtenes Hündchen. Madame Vieuxtemps begleitete ihn in seinen Konzerten auch ganz gut auf dem Klavier. In einem Konzertbericht erlaubte ich mir die unschuldige Bosheit, ihr Zusammenspiel als das Abbild einer Musterehe zu rühmen, wo der Mann den Ton angibt und die Frau sich bescheiden unterordnet. Da in den Wiener Gesellschaftskreisen Vieuxtemps' Pantoffelheldentum bekannt war, so verstand man den Spaß und lachte herzlich. Aber Madame hatte ihn auch verstanden und schenkte mir nie mehr einen Blick.“

Soweit Hanslick über den Belgier, der als Konzertvirtuose Furor machte und auch ein durchaus bemerkenswerter Kompositeur war. Bis zu seinem Schlaganfall im Alter von 53 Jahren komponierte Vieuxtemps vor allem für den eigenen Bedarf: Stücke also, in denen er mit der Geige so richtig glänzen konnte – etwa seine sieben Violinkonzerte. Der Schlaganfall beendete seine Konzertkarriere, die beiden Cellokonzerte (von denen wir heute das erste hören werden) entstanden danach, während einer kurzen Phase relativer Genesung. Sechs Jahre nach dem Anfall musste er sich dann ganz aus dem Musikleben zurückziehen. Henri Vieauxtemps starb 1881 in einem Sanatorium in Algerien, das von seinem Schwiegersohn betrieben wurde.

Zum Cellokonzert eine Anmerkung: Wie in fast allen Werken dieses komponierenden Virtuosen, steht das Soloinstrument deutlich im Vordergrund. Das Orchester spielt gewissermaßen nur die Rolle eines dramatischen Verstärkers für das ausgesprochen gesanglich angelegte Spiel der Solopartien. Insbesondere für den Andante-Satz des Cellokonzerts werden in der Literatur immer wieder Begriffe wie lyrisch, meditativ oder improvisatorisch verwendet. Ob das Naserümpfen der Nachwelt, Vieuxtemps Musik sei doch eher simple Unterhaltungsmusik, berechtigt ist oder nicht, das, meine Damen und Herrn, möchte ich ganz Ihrem Urteil überlassen.

Das war nun recht viel über Henri Vieuxtemps. Aber er ist schließlich auch der unbekannteste unter unseren vier heutigen Komponisten. Auf sein Cellokonzert folgen nachher zwei Stücke des Böhmen Antonin Dvorak ebenfalls für Cello und Orchester: Waldesruh opus 68 Nr. 5 und das Rondo g-Moll opus 94. Beide Stücke haben wir dem Umstand zu verdanken, dass Dvorak im September 1892 wie Sie wissen in die USA umsiedelte, um in New York die Direktorenstelle am National-Konservatorium anzutreten. Für die Monate davor hatte er eine große Konzerttournee geplant zwecks Abschied von seinem europäischen Publikum. Begleiten sollten ihn dabei der Geiger Ferdinand Lachner und der Cellist Hanus Wihan.

Da stand Dovrak allerdings vor einem Problem: In seinen Schubladen herrschte zwar kein Mangel an eigenen Komposition für Klaviertrio sowie für Klavier und Geige; für die Duo-Besetzung Klavier und Cello hatte er allerdings gar nichts in petto. Was macht ein kreativer und produktiver Komponist in solchem Fall? Richtig, er nimmt Notenpapier und Feder zur Hand und schafft sich das Benötigte. So entstand am 25. und 26. Dezember 1891 das „Rondo“ als ganz neue Komposition. Am 28. Dezember entlieh sich Dvorak dann „Waldesruh“  von seinem Klavierzyklus „Aus dem Böhmerwald“ und arrangierte das Stück für Cello und Klavier um.

Der Vollständigkeit halber sei erwähnt: Am Tag dazwischen, am 27. Dezember, unterzog er den achten slawischen Tanz der gleichen Umarbeitungsprozedur. Arbeitsreiche Weihnachten im Hause des ehemaligen Metzgergesellen und durch die Wirtshäuser tingelnden Zitherspielers.

Jedenfalls konnte am 3. Januar 1892 die Abschiedstournee mit hinreichend Material für jedwede Besetzungskombination der drei Musiker beginnen. Bis Ende Mai folgten rund 40 Auftritte. Die Bearbeitungen der beiden Stücke für Cello und Orchester, wie sie Gegenstand des heutigen Konzertprogramms sind, nahm Dvorak ein Jahr später in den USA vor. Da mag bereits das bei ihm schnell einsetzende Heimweh nach Böhmen mitgespielt haben, das ihn trotz verlängerten Vertrages schon nach zweieinhalb Amerika-Jahren wieder nach Hause trieb. Berühmtester Ausfluss jener Zeit in Übersee ist die Ihnen allen bekannte wunderbare  9. Sinfonie Dvoraks unter dem Titel „Aus der Neuen Welt“.

Übrigens: Wenn Sie gleich diese „Waldesruhe“ hören, dann lassen Sie sich  vom musikalischen Schwärmen des Komponisten für die Natur seiner böhmischen Heimat keine falschen Vorstellungen davon vorgaukeln. Der Böhmerwald war zu Dvoraks Zeit keine liebliche Parklandschaft mit planierten Wanderwegen, unverirrbarer Ausschilderung und gemütlichen Sitzbänken wie unten an unserer Rhein-Promenade oder oben im Koblenzer Stadtwald. Dieser Böhmerwald war vor allem ein Urwald: wild, unzugänglich und für die meisten Zeitgenossen damals eine ziemlich düstere, ja fast unheimliche Angelegenheit. Mit einem Wort: Genau das Richtige, um die romantische Avantgarde in Entzücken zu versetzen.

„Wie fanden Sie es denn?“ Hinsichtlich des letzten und umfangreichsten Programmpunktes am heutigen Nachmittag wird sofort wieder völlig eindeutig sein, was gemeint ist: Der Vortrag des Orchesters. Denn niemand im Saal würde auch nur einen Gedanken daran verschwenden, die musikalische Qualität einer Beethovenschen Sinfonie irgendwie in Frage stellen zu wollen. Und sei es die bedauernswerte Zweite in D-Dur. Warum bedauernswert? Weil sie, ähnlich wie die 1. Beethoven-Sinfonie, vom gigantischen Schatten der Sinfonien 3 bis 9 ungerechter Weise allzu sehr an den Rand gedrängt wurde.

Ich möchte Ihnen, liebe Musikfreunde, die 2. Sinfonie betreffend, eine  interessante Aufgabe mit ins Konzert geben: Empfinden Sie die Grundfarbe dieser Musik eher als heiter-vergnügt oder eher als düster-tragisch?
       

Denn - „merkwürdig, sehr merkwürdig“ würde Marcel Reich-Ranicki an dieser Stelle sein rethorisches Ausrufezeichen einfügen – die Musikliteratur berichtet mal von so herum, mal von andersrum angemuteten Hörern. Seien es nun normale Konzertbesucher, Kritiker oder Musikwissenschaftler. Zur Uraufführungszeit 1803 fanden die Leute die 2. Sinfonie in der Mehrzahl überhaupt nicht heiter, sondern vor allem zu lang (30 Minuten!), zu künstlich, düster, schwierig, schwermütig, exzentrisch, um nur einige der Urteile zu zitieren. Die romantisch gestimmte Nachwelt hingegen zeigte sich von der Fröhlichkeit, Leichtigkeit, Lebhaftigkeit bei gleichzeitiger Seelentiefe entzückt.
 
Dasselbe Werk löste also bei Zuhörern, die nur ein paar Jahrzehnte auseinander liegenden, völlig konträre Empfindungen aus. Merkwürdig, sehr merkwürdig, wie groß doch der Einfluss von Zeitgeist, Zeitgefühl und jeweiliger Epochenkultur auf die menschliche Wahrnehmung, auf Deutungsmuster und emotionale Strukturen ist. Weshalb nun eben interessant ist, wie es sich mit uns verhält, den modernen Menschen – oder auch postmodernen, wie es heißt.
   
Doch geben Sie acht, Beethoven hat es keinem leicht gemacht. Die 2. Sinfonie steckt voller scharfer Gegensätze, Brüche, Ambivalenzen. Schlimmer noch: Der Ludwig legte 1801/1802 bei der Arbeit an dem nachher in Wien uraufgeführten Werk geradezu falsche Fährten aus. Fast könnte man sagen, er stellte den Zuhörern bewusst Fallen. Da meint man, die Melodie müsse sich jetzt logischerweise dorthin entwickeln oder ein harmonischer Vorhalt logischerweise dahin aufgelöst werden. Und was passiert? Herr Beethoven denkt nicht dran, der vermeintlichen Logik und den tradierten Kompositionsregeln zu folgen – er macht flugs kehrt und marschiert in eine völlig unerwartete Richtung weiter.

Unter der Hand habe ich jetzt natürlich eine Gemeinheit begangen. Indem ich mit meiner Aufgabenstellung – ob Sie die Zweite eher als heiter oder düster empfinden – Ihre Aufmerksamkeit auf einen besonderen Aspekt des Konzerterlebens lenke, verfälsche ich natürlich auch die Zielsetzung der Frage „Wie fanden Sie es denn?“. Könnte passieren, dass diese nun nicht mehr spontan - wie eigentlich zu erwarten wäre -  die Qualität des Orchestervortrages meint. Stattdessen zielt die Frage jetzt womöglich auf ihr persönliches Ergebnis bei der von mir eingeführten Aufgabe.

Um aus dieser Bredouille wieder herauszukommen, könnten sie als Konzertbesucher jene Haltung einnehmen, mit der Musikkritiker gewöhnlich ins Konzert gehen (sollten). Beurteile das Werk, beurteile Art und Qualität seiner Umsetzung, beurteile die Wirkung von Werk UND Umsetzung auf dich selbst und aufs Publikum. Denn ob die 2. Beethoven-Sinfonie auf Sie heiter oder düster wirkt (oder beides), hängt nicht nur vom Werk und Ihrer kulturellen Prädisposition ab. Die Wirkung hat in erheblichem Maße auch damit zu tun, welche Interpretationsschwerpunkte  Daniel Raiskin und das Orchester setzen.

Wenn DIE sich – beispielsweise -  entschlossen hätten (was ich nicht weiß), die heiteren Komponenten des Werkes aufzuwerten und die tragischen in milderes Licht zu tauchen, dann müssten Sie als Hörer schon eine sehr schlechte Laune mitbringen, um den Konzertvortrag schlussendlich als düster zu empfinden. Und umgekehrt umgekehrt.

Sie sehen, meine Damen und Herrn, die simple Frage „Wie fanden Sie es denn!“ kann eine ziemlich komplizierte Angelegenheit sein. Für Kritiker sowieso und das immer, denn von denen muss die Frage schriftlich vor aller Welt beantwortet werden und die Antwort auch noch begründet. Wir hingegen, also Sie und ich bei den Görreshauskonzerten ausnahmsweise auch, MÜSSEN gar nichts. Nicht mal diese Frage beantworten und auch nicht merkwürdige Aufgaben eines neunmalklugen Redners erfüllen. Wir können uns in den Saal setzen und kommen lassen, was kommt; genießen, was serviert wird. Das ist eine ehrenwerte Haltung, gehen die keinerlei Einwände bestehen – erst recht nicht am Sonntagnachmittag.

Allerdings gibt es die Möglichkeit, diesem Genuss noch ein bisschen Würze hinzuzufügen. Etwa durch die Frage „Wie fand ICH es denn?“ und vor allem „WARUM fand ich es so oder so?“ Auf diese Möglichkeit der Würzung wollte ich hingewiesen haben und wünsche nun, mit oder ohne Pfeffer, viel Freude beim Konzert.

Sollte Ihnen mein Vortrag gefallen haben, sagen Sie es weiter. Und sagen Sie gleich dazu, dass das nächste Orchesterkonzert im Görreshaus am 15. Februar stattfindet, der Einführungsvortrag um 15.15 Uhr beginnt.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Andreas Pecht
 
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