Thema Gesellschaft / Zeitgeist
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2008-12-22a Essay:

Suche nach einer Bürgerlichkeit für das 21. Jahrhundert:

 

Fortschritt entsteht aus dem Rückgriff
auf die Wurzeln in der Aufklärung

 
Der  nachfolgende Aufsatz entstand im Sommer 2007 und wurde im Sommer 2008 als Schlussbeitrag in der Festschrift "Durch alle Zeiten - 200 Jahre Casino zu Coblenz" abgedruckt. Die Festschrift enthält weitere Beiträge u.a. von Peter Voss, Hanna Renate Laurin, Peter Glotz, Dieter Stolte... und ist als Buch erschienen (Garwein Verlag Koblenz, ISBN 978-3-936436-13-6).

 
ape. Mit dem Beginn des dritten Jahrtausends hob im öffentlichen Diskurs Deutschlands Rumoren an über eine vielleicht oder wahrscheinlich heraufziehende Renaissance der Bürgerlichkeit. Erst verhalten, dann in Wellen sich aufschaukelnd, erreichte diese Diskussion im Herbst 2005 mit dem Erscheinen von Udo di Fabios Buch „Die Kultur der Freiheit“ einen ersten Höhepunkt. Dem  folgten 2006 eine Flut von Zeitungsartikeln zum Thema und andere Bücher, darunter Eva Hermans umstrittenes „Eva-Prinzip“. Schlagzeilen wie „Die Rückkehr der Bürgerlichkeit“ oder „Die neue Bürgerlichkeit“ suggerierten eine Zeitenwende, einen grundlegenden Gesellschaftswandel. Der bringe, so die verbreitete These, jene Werte wieder zu Ansehen, die dereinst das Selbstverständnis des Bürgertums ausgemacht hätten.

Das Problem jener Diskussion war von Anfang an: Mit ihrer schieren Beliebigkeit verunsicherte sie mehr, als dass sie orientierte. Jens Jessen sprach in der Wochenzeitung „Die Zeit“ von einer „wirren Debatte“. Was nicht ausbleiben kann in einer gesellschaftspolitischen Großwetterlage, in der Protagonisten mit recht unterschiedlichen Weltbildern sich vor der Schwierigkeit sehen, teils völlig gegensätzliche Tendenzen miteinander versöhnen zu müssen. Da ist die Globalisierung, deren Eigendynamik die Gewissheiten bislang nationalstaatlich gebundener sowie sozialhistorisch gewachsener Selbstverständnisse in Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Kultur unterminiert. Das provoziert  bei den Menschen als Gegenbewegung ein Sehnen nach Grundorientierung, Verlässlichkeit, Überschaubarkeit, Beheimatung. Und so entstand ein eigentümliches Spannungsgefüge: Global denken und handeln zu sollen, ja zu müssen, zugleich aber national bis regional fühlen zu wollen. Ist das ein neuartiger Spagat, den auszuführen wir erst noch lernen müssen? Oder ist es eine absurde, weil mit menschlicher Kraft nie und nimmer zu bewältigende Konfliktstellung?

Da sind ferner die Anforderungen der modernen Wirtschaft nach umfassender Mobilität, Flexibilität und optimaler Ausbildung des Personals. Gleichzeitig greift eine Generalmeinung um sich, die einer Renaissance von Familiengeist und Kinderreichtum das Wort redet. Es ist dies ein Konsens im Geiste und im Herzen. Er bleibt jedoch die Antwort schuldig, wie das gut gemeinte Wünschen in Erfüllung gehen soll – ohne ein gerüttelt Maß an Sesshaftigkeit, ohne längerfristige Planbarkeit des Lebens, bei unsicherer werdenden Arbeitsbiografien und immer längeren Ausbildungsgängen.

Das Dilemma der Moderne

Hier haben wir es mit zwei von mehreren zentralen Dilemmata zu tun, aus denen letztlich weder idealistisches Wunschdenken noch sozialstaatliche Alimentationen heraushelfen. Ernsthaftes Nachdenken darüber führt vorderhand zu einer gewissen Ratlosigkeit. Einfache Lösungen haben nur zwei Gruppen schnell parat: Die eine, die von vornherein den ökonomischen Automatismen unbeeinflussbare Vorfahrt einräumt; die andere, die ein an hehren Werten orientiertes Sozial- und/oder Privatleben einfordert, ohne die makroökonomischen Verhältnisse und die von ihnen ausgehenden Zwänge überhaupt in Betracht zu ziehen. Gangbare Lösungswege für besagte Dilemmata bedürfen aber geistiger Kräfte, die Ökonomie UND Humanitas, wirtschaftliches Streben UND Gemeinsinn, Pragmatismus UND sozial-ethischen Idealismus in ihrer dialektischen Bedingtheit denken können, derart Zukunft auch (mit)gestalten wollen. Und wo finden wir solche Fähigkeit und Haltung? Im Bürgerlichen – sofern es sich seiner Wurzeln in der europäischen Aufklärung noch oder wieder bewusst ist. Schließlich war das Bürgertum einst jene neue Klasse, die dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt ebenso aufgeschlossen gegenüberstand wie sie die  geistig-moralischen und emanzipativ-demokratischen Dimensionen der Aufklärung zur eigenen Sache machte.         

Eine so beschriebene bürgerliche Haltung hat freilich wenig zu tun mit der Art und Weise, wie sich vor allem die Boulevard- und Lifestyle-Medien 2006/2007 des Themas „Rückkehr der Bürgerlichkeit“ oder „neue Bürgerlichkeit“ annahmen. Die nämlich waren fixiert auf   Äußerlichkeiten und Trends, die sich in vielen Fällen als bloß rasch vorübergehende Moden einiger Milieus entpuppt haben. Gefeiert wurde beispielsweise die Wiederkehr von Krawatte und Anzug bei jungen Leuten, von Smoking und  Abendkleid bei älteren. Gefeiert wurde das Vordringen von Standardtänzen auf dem Disko-Parkett, die Wiedergeburt des Benimmunterrichts oder eine neue Freude junger Paare, Hochzeit wieder als feierlichen Ritus mit allem Drum und Dran zu begehen. Derartige Verhaltensweisen sind aber per se weder sinnstiftend noch können sie als urtypisch bürgerlich gelten. Dem Anlass angemessenes Outfit, Putz und ritueller Pomp bei Festivitäten waren nie besonderes Merkmal nur des Bürgertums, sondern sind den meisten Gesellschaftsschichten in fast allen Kulturen eigen.

Das Missverständnis von den Sekundärtugenden

Es war schon in der Geschichte einer der großen Irrtümer bürgerlicher Selbstdefinition – und gerade innerhalb des Bürgertums stets heftig umstritten –,  äußere Merkmale in den Vordergrund zu stellen. Das gilt umso mehr für die so genannten „Sekundärtugenden“ wie Sauberkeit, Ordnungssinn, Strebsamkeit oder Fleiß. Gegen die ja nichts einzuwenden ist;  aber es handelt sich dabei eben nicht um genuin bürgerliche Eigenschaften. Sie können genauso von kommunistischen Parteifunktionären oder Kadern einer religiösen Sekte gepflegt werden. Die Aufrufung der Sekundärtugenden als Bestandteil des nationalsozialistischen Deutschtum-Begriffes ist der wahrscheinlich tragischste Ausdruck jenes Irrtums.

Bürgerlichkeit, verstanden von ihren Ursprüngen her als aufgeklärte, der Freiheit des Individuums und universellen Menschenrechten verpflichtete Haltung, schließt  Ordnung und Sauberkeit nicht aus, beginnt aber ureigentlich und substanziell jenseits davon: bei Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit; bei Anständigkeit und Toleranz gegenüber Anderen und Andersdenkenden; bei freiwilliger Selbstbescheidung und Gemeinwohlverpflichtung  auch und gerade angesichts des eigenen lobenswerten Erfolgsstrebens; bei kritischer Hinterfragung von Normen, Konventionen, Trends und Moden nebst der freien wie selbstbewussten Individualentscheidung, sich diesen zu fügen, sie zu ignorieren oder sich ihnen zu widersetzen...  Bürgerlich sein, meint auch: Einen eigenen Kopf, eigenen Stil, eigene Ansichten zu haben, mag der Mainstream trommeln, wofür immer er will.

Für eine ernsthafte Auseinandersetzung um den Wert des Bürgerlichen im Hinblick auf die Zukunft der Gesellschaft ist die Fixierung auf Äußerlichkeiten und Sekundärtugenden so wenig hilfreich wie das Schwärmen von der lupenreinen Bewahrung dessen, was sich in Wahrheit ständig verändert. Die Euphorie über eine Renaissance des Bürgerlichen hat weder die Scheidungsraten sinken, noch die Geburtenraten steigen lassen. Und kein ernst zu nehmender Beobachter geht davon aus, dass sich in dieser Richtung über absehbare Zeit signifikant etwas bewegen wird. Es ist wie bei der viel beschworenen Renaissance der Religiosität, die den christlichen Kirchen auch keine nachhaltige Stärkung des Mitgliederbestandes oder Kirchenbesuches verschafft: Zwischen dem subjektiv vielleicht Wünschenswerten und dem objektiven Gang der Dinge tun sich gewaltige Klüfte auf.

Gibt es das Bürgertum überhaupt noch?

Diesem Aufsatz liegt die Fragestellung zugrunde: Welche Rolle soll und/oder kann  das Bürgertum im eben begonnenen 21. Jahrhundert spielen? Die Frage ist noch nicht richtig ausgesprochen, stellt sich ihrer zügigen Erörterung ein grundsätzliches Problem in den Weg. Was darf man in unserer Gegenwart unter dem Begriff  „bürgerlich“ verstehen? Und nicht minder wichtig: Welche konkreten Menschen, Bevölkerungsteile, Klassen können heute und fortan Träger und Vertreter des Bürgerlichen sein? Bei näherer Betrachtung gewinnt diese Frage rasch eine Bedeutung, die weit über gewöhnliche Begriffsklärung hinausreicht.

Denn folgt man der Soziologie seit den 1950er-Jahren, gibt es „das Bürgertum“ gar nicht mehr. Jedenfalls nicht mehr als objektiv greifbaren, klar konturierten Bevölkerungsteil oder gar als historisch eigenständige Klasse. In der jungen Bundesrepublik schien mit dem Wirtschaftswunder und dem neuen Selbstverständnis des Landes als sozialpartnerschaftlichem Wohlfahrtsstaat das Ende der Klassengesellschaft besiegelt. Helmut Schelsky, einer der führenden Soziologen der Nachkriegszeit, beschrieb damals die neue Gesellschaft als „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“.  In der Tat: Wo angesichts einer signifikanten „Verbürgerlichung“ im Kern der Arbeiterschaft von Proletariat im vorherigen Sinne kaum mehr die Rede sein konnte, musste auch die Auflösung des Bürgertums zwingend angenommen werden.

Und ist es nicht tatsächlich so gekommen?! Zwar sind auch in der Bundesrepublik soziale Unterschiede nicht verschwunden. Im Gegenteil begann bereits in den 1970ern sich die Schere zwischen den ärmsten Teilen der Gesellschaft und ihrem wohlhabenden Antipoden immer weiter zu öffnen. Kennzeichnend für die Entwicklung des Landes und seines Selbstverständnisses war allerdings nicht das steile Gefälle vom Oben der Sehr-Reichen und Superreichen zum Unten der neuerdings Prekariat genannten Armen. Kennzeichnend wurde vielmehr die stete Ausweitung und Verallgemeinerung des soziologischen Feldes zwischen den beiden Polen: die gesellschaftliche Mitte oder die Mittelschicht.

Allfälliges Gerangel um "bürgerliche Mitte"

Die Bezeichnungen für diese Bevölkerungsmehrheit sind so diffus wie deren überaus heterogene Zusammensetzung selbst. Der jüngst stark bemühte Terminus von der „bürgerlichen Mitte“, um die unsere politischen Parteien von CSU bis Grüne allesamt vernehmlich buhlen, schafft da keineswegs größere Klarheit. Auf konkrete Menschen bezogen, kann er allenfalls dienlich sein zur Abgrenzung von Randerscheinungen wie rechtem und linkem Extremismus, religiösem Fundamentalismus oder skurrilem Aussteigertum. Allein aus solcherart Abgrenzung lässt sich indes nicht hinreichend ableiten, was „bürgerliche Mitte“ denn nun ist. Nachgefragt, was darunter zu verstehen sei, ergeben sich je nach Standort des Befragten gänzlich disparate Definitionen. Da existieren Vorstellungen von einer Art exklusivem, deutschlandweitem Club der Führungskräfte aus Politik, Wirtschaft und Kultur. Da gibt es Definitionen über das Einkommen - nach der Devise, wer mehr als 50 000 oder 100 000 Euro im Jahr verdient, ist bürgerlich. Oder: Die Leistungsträger vom Selbständigen über angestelltes Führungs- und Fachpersonal bis zum qualifizierten Kern der Arbeiterschaft bilden die bürgerliche Mitte. Am weitesten verbreitet ist wohl die Ansicht, Bürgerlichkeit sei eine ideelle  Geisteshaltung eher wertkonservativer Natur im Verbund mit einem Lebensstil von gewisser Solidität bis hin zur Gediegenheit.

Diesen und vielen anderen gegenwärtigen Vorstellungen von Bürgerlichkeit ist eines gemeinsam: Sie umfassen ein sehr breites Spektrum von Menschen, das etwa Begrenzungen nach parteipolitischer Orientierung weitgehend ausschließt. Ob CDU, SPD, FDP oder Grüne, kernbürgerliche Maßstäbe des abendländischen Wertekanons aus antikem Menschenbild, jüdisch-christlicher Philosophie und europäischer Aufklärung haben in jeder dieser Parteien Heimstatt – mögen im politischen Alltag  unterschiedliche Gewichtungen nach Wirtschaftsliberalismus, staatspolitischem Liberalismus,  Gemeinwohlverpflichtung oder Naturbewahrung auch scharfe Kontrastform annehmen.     

Keine politische Partei kann mehr ein Monopol auf Bürgerlichkeit für sich beanspruchen. Erst recht lässt sich im 21. Jahrhundert Bürgertum nicht mehr als „besitzende Klasse“ verstehen. Die einst in Deutschland sehr enge Bindung des Bürgerlichkeits-Begriffes an Wohlstand, der aus Unternehmertum und Kapitalbesitz erwächst, existiert im Grunde nicht mehr. Die Moderne hat weite Bereiche der lohnabhängigen Bevölkerung vom tagtäglichen Kampf ums nackte Überleben entlastet. Damit steht es auch vormals nichtbürgerlichen Schichten offen, mit Teilen ihrer Lebenszeit nach Gusto etwas anzufangen, das über Erwerbsarbeit sowie die dafür notwendige Mindesterholung deutlich hinausreicht. Dieser historisch begrüßenswerte Wandel wurde oft etwas abschätzig als „Freizeitgesellschaft“ tituliert. Vorderhand aber geht es um Zeit und Ressourcen, die immer mehr Menschen über den lebensnotwendigen Broterwerb hinaus zur Verfügung stehen. Zeit und Ressourcen, die sie nunmehr in freier Entscheidung und eigener Verantwortung verausgaben dürfen, worauf sie wollen.

Vom Umsichgreifen der Chancengleichheit

Das können abgeschmackte Vergnügungen sein oder kulturelle Bereicherungen; das kann die Sucht nach profanen Statussymbolen oder die Lust auf Bildungserwerb sein; das kann sich in privater Befriedigung erschöpfen oder zu wertvollem gesellschaftlichem Engagement aufschwingen. Die objektiven Unterschiede zwischen „altem Bürger“ und „neuem Kleinbürger“ reduzieren sich auf die Quantitäten der einsetzbaren Mittel. Ob ich jeden Monat etliche Tausend Euro über das zum Leben Notwendige hinaus zur freien Verfügung habe oder nur ein paar Hundert, macht natürlich einen Unterschied. Was jedoch die Qualität der Entscheidungsfreiheit und Selbstverantwortung angeht, sind sich beide erst mit den Lebensbedingungen des mittleren und späten 20. Jahrhunderts im Sinne des „Égalité“-Gedankens der Französischen Revolution zumindest im Grundsatz ebenbürtig geworden.

Das wird kaum irgendwo deutlicher als auf dem Felde der Bildung. Sie ist längst kein Privileg der gehobenen Stände mehr. Kinder von kleinen Beamten, Angestellten, Arbeitern können  heute „Bildungsbürger“ werden. Bei aller berechtigten Kritik an der im internationalen Vergleich noch immer zu geringen sozialen Durchlässigkeit des deutschen Bildungswesens, bleibt in der historischen Perspektive festzuhalten: Niemals zuvor hatten so große Teile der hiesigen Bevölkerung Zugang zu so umfassender Bildung wie heute. Und niemals zuvor eröffneten sich so vielen Menschen eben durch diese Bildung so gute Möglichkeiten, über ihre ursprüngliche Milieuherkunft hinauszuwachsen. Die enorme Ausweitung der „bürgerlichen Mitte“ im Verlaufe der bundesrepublikanischen Geschichte ist nicht allein Ergebnis von pralleren Lohntüten und sozialstaatlicher Absicherung. Diese bildeten zugleich die Ausgangsbasis dafür, dass eine permanent wachsende Zahl von Kindern „einfacher Leute“ in den Genuss höherer Schulbildung bis hin zu akademischen Ehren kommt. Die  besonderen Mühen und Opfer, die dabei von Familien mit vergleichsweise schmalem Portemonnaie noch immer erbracht werden, haben gerade aus bürgerlicher Sicht Achtung und Anerkennung verdient.   

Neben der Erringung von Demokratie und Rechtstaatlichkeit ist die relative Chancengleichheit in der Bildung das wohl wichtigste Langzeitergebnis der von Bürgern angeführten Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts. Und wenn Bürgerlichkeit aus der eigenen Tradition heraus Zukunft gestalten will, so fiele ihr als erste und vornehmste Aufgabe zu, Chancengleichheit in Sachen Bildung sowie die Qualität dieser Bildung zu sichern, zu fördern, zu stärken. Denn Bildung ist heute mehr denn je grundlegende Voraussetzung dafür, dass ein jeder mit entsprechender Leistungsbereitschaft etwas aus seinem Leben machen kann. Ohne das Recht und die objektive Möglichkeit des Zugangs aller zu allen Bildungswegen bliebe auch die Forderung des klassischen Wirtschaftsliberalismus,  „Freie Bahn dem Tüchtigen!“, bloß hohles Pathos. Erst wenn selbst schwierige Umstände – etwa ärmliche  Herkunft oder zerrüttete Elternhäuser – den daran unschuldigen Kindern Bildungszugänge und –möglichkeiten nicht länger verschließen, nähert sich die bürgerliche Losung von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit ihrer Vollendung.

Liberté! Égalité! Fraternité!

Der Rückgriff auf die Französische Revolution kommt nicht von ungefähr. Denn sie ist die Wiege des europäischen, ja des Welt-Bürgertums schlechthin – mag diese Herkunft gerade bei deutschen Bürgern bisweilen auch verdrängt worden sein. Wenn im modernen Diskurs um die Bürgerlichkeit oft und viel die Rede von Freiheit ist, muss die Besinnung auf deren ursprüngliches Verständnis als Liberté angemahnt werden. Erst aus dem Dreiklang Liberté, Égalité, Fraternité erwächst jenes wahrhaft bürgerliche Wertegefüge, in dessen Zentrum das mit universellen Menschenrechten ausgestattete Individuum steht. Besinnung auf dieses Herkommen ist mehr als bloß eine abstrakt philosophische Forderung. Sollte das Bürgerliche  Relevanz für Gegenwart und Zukunft erlangen wollen, dann aus dem Rückgriff auf diesen seinen geistig-moralischen Urbestand.

Wie modern und unverzichtbar dieser ist – nicht nur für die innere Gerechtigkeit der deutschen Gesellschaft, sondern ebenso für das Bestehen Deutschlands im Getriebe der globalisierten Welt –, macht die Bildungsdiskussion in der ersten Phase des 21. Jahrhunderts deutlich. Darin sind Bildungsfragen untrennbaren verwoben mit den Perspektiven des Standortes Deutschland. Nur wenn es dem Land gelingt, seine intellektuellen Ressourcen sämtlich zu mobilisieren, kann an eine rosige Zukunft gedacht werden. Profane Notwendigkeit und bürgerliches Ideal gehen ein Zweckbündnis ein: Auf dass soziale Brüderlichkeit – in diesem Falle vermittelt durch den Staat – für alle die tatsächliche Freiheit schaffe, gleiche Bildungschancen wahrnehmen zu können und so das Qualifikationsniveau der Individuen wie des Gemeinwesens insgesamt nachhaltig anzuheben.

Stete Sorge um die Qualität des Schul- und Hochschulwesens gehört ebenso zu den herausragenden Traditionen und modernen Herausforderungen bürgerlichen Selbstverständnisses wie die Sorge um den Zustand des kulturellen Lebens im Land. Denn wie eine genuin bürgerliche Weltsicht Bildung nicht auf bloße Berufsqualifizierung reduziert, sondern als universelle Menschenbildung begreift, so gelten ihr Kunst und Kultur nicht bloß als unterhaltsame Zerstreuung, sondern als Instrumente zum Weltverständnis und für zivilisierte Menschen unverzichtbare Lebensmittel. In der Bundesrepublik Deutschland steht der Staat in der Pflicht, Bildung und Kultur für alle zu garantieren. Eine zeitgemäße Bürgerlichkeit hätte darüber zu wachen, dass er sich auch in Zeiten knapper Kassen aus dieser Pflicht nicht davonstiehlt. Denn würde der Staat anfangen, Bildung und Kultur als frei disponible Größen nach Gusto oder Tageslage zu betrachten, die Republik würde sich von ihrem Grundverständnis her verändern.

Der Staat sind wir!

Sich in dieser wie anderen Fragen kritisch und selbstbewusst in die Staatsgeschäfte einzumischen, ist, sollte sein, ein Wesenszug bürgerlicher Haltung. Im Französischen gibt es für das Wort „Bürger“ zwei sehr verschiedene Begriffe: Bourgeois, womit der Geschäftsmann oder Erwerbsbürger gemeint ist, und Citoyen, was in etwa unserem Staatsbürger entspricht –und doch etwas anderes meint als den brav seine Steuern zahlenden Wähler. Citoyen ist der kritisch mitredende, der sich einmischende, der selbstbewusst auch jenseits der Wahlkabine seine Rechte wahrnehmende, der sich im Gemeinwesen engagierende, aufgeklärte Bürger. Der Citoyen ist das Gegenteil eines Untertanen. Er versteht sich als politischer Bürger, der zusammen mit anderen politischen Bürgern ausruft: Der Staat sind wir! 

Sich interessieren für und kümmern um das, was in staatspolitischen Gefilden geschieht, war in der Frühzeit des aufgeklärten Bürgertums die eine Seite seines Selbstverständnisses. Die andere war: Nicht immer auf den Staat warten, ihm nicht alle Verantwortung auch für das ganze zivile Leben aufbürden. Will sagen: Das eigene Engagement im öffentlichen Raum, in persona und/oder als Mäzen, zählt zu den markantesten und im Einzelfall auch verdienstvollsten Traditionen des Bürgerlichen. Die amerikanischen Universitäten wären den Namen nicht wert, würden ihnen ehemalige Studierende nicht ansehnliche Teile ihres späteren Einkommens, sei es groß oder klein, stiften. Klassische Musik und Bildende Kunst hätten in deutschen Landen ohne das Engagement rühriger Bürger während der vergangenen 200 Jahre nicht solche Höhen erreichen können.

Soll Bürgerlichkeit ein Zukunft gestaltendes Ingredienz sein, muss der Bürger als öffentlich handelnde Kraft in die Geschichte zurückkehren – stamme er nun von einer alteingesessenen Bürgerfamilie ab oder aus einem „verbürgerlichten“ Arbeiterhaushalt. Die letzten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts hat er den eher gegenteiligen Weg eingeschlagen: Unter „bürgerlich“ wurde, wird noch, nachgerade der völlige Rückzug ins Private verstanden. Je turbulenter die Arbeitswelt, je unübersichtlicher die Gesellschaft insgesamt, umso ausgeprägter offenbar der Hang zum Einigeln auf der kleinen, Geborgenheit versprechenden Privatinsel. Die Wiederkehr biedermeierlicher Familienidylle als Idealvorstellung von privatem Zusammenleben ist wohl vor allem diesem Umstand geschuldet. Die Angst vor einem Zusammenbrechen der Sozialsysteme oder einem „Aussterben der Deutschen“ in Ermangelung hinreichenden Nachwuchses liefert bloß die vermeintlich sachliche Begründung für eine ideelle Sehnsucht, bei aller Individualität doch in eine emotional geprägte, familiäre  Solidarstruktur eingebettet zu sein.

Pluralität der Lebensformen

Wie aber Ende des 18. Jahrhunderts nicht absehbar war, dass das mit Macht heraufziehende  bürgerliche Zeitalter im 20. den großfamiliären Haushalt durch die Kleinfamilie ablösen würde, so ist zu  Beginn des 21. Jahrhunderts völlig offen, welche private Sozialform in einigen Jahrzehnten die vorherrschende sein wird. Der anhaltend schnell wachsende, in manchen Großstädten schon das Übergewicht stellende Anteil von Single-Haushalten ist eine der am meisten beunruhigenden Entwicklungen. Denn sie zeugt, stärker noch als die anhaltend  wachsende Ehescheidungsrate, von einer zunehmenden Verflüchtigung des Solidarprinzips im privatgesellschaftlichen Raum. Gegenüber dieser Herausforderung könnte eine neue Bürgerlichkeit die eigene Inhomogenität, oder nennen wir es: Pluralität, in die Waagschale werfen.

Mag die eine Fraktion für die hergebrachte Kernfamilie als Nonplusultra des Zusammenlebens sprechen, so kann die andere sich auch davon abweichende Lebensformen vorstellen. Wenn Toleranz eine zentrale Urtugend des Bürgerlichen ist, wird sie der bereits existierenden und in Zukunft sich wohl verstärkenden Parallelität unterschiedlicher Familienformen die Akzeptanz nicht verweigern wollen. Dann können die bürgerlichen Fraktionen in der Familienfrage einen kleinsten gemeinsamen Nenner finden: Entscheidend für Individuen wie Gesellschaft ist, dass Menschen privat in Zuneigung zueinander und Solidarität miteinander Verantwortung füreinander übernehmen. Die traurige Alternative dazu wäre die Überhandnahme des kinderlos von Job zu Job und Wohnung zu Wohnung vagabundierenden Singles.

Toleranz, Freiheit, Verantwortung sind auch die zentralen Stichworte für den bürgerlichen Umgang mit Fragen der Religion, die zu Anfang des 21. Jahrhunderts kaum erwartete Virulenz gewonnen haben. In die Diskussion um eine „neue Bürgerlichkeit“ hat sich diesbezüglich ein Missverständnis eingeschlichen: Manche Diskutanten erwecken den Eindruck, als sei Religiosität selbst eine bürgerliche Urtugend und also das persönliche Bekenntnis zum christlichen oder jüdischen Glauben ein Wesensmerkmal europäischer Bürgerlichkeit. Wäre dem so, wir müssten einen beträchtlichen Teil der großen Philosophen, Künstler, Wissenschaftler der Neuzeit und ein Drittel der modernen Mittelschichtbevölkerung wegen Religionslosigkeit aus der bürgerlichen Welt ausschließen.

Das Missverständnis von der Religiosität

Mit Blick auf die Aufklärung wird deutlich, worin besagtes Missverständnis besteht: Nicht Religiosität selbst ist eine bürgerliche Urtugend, sondern religiöse Toleranz.  Letztere gehört tatsächlich zum Grundbestand einer aufgeklärten bürgerlichen Weltsicht, die auf ein friedliches und gedeihliches Miteinander ganz unterschiedlich orientierter Menschen abzielt. Was keineswegs ausschließt, dass auch nichtgläubige oder andersgläubige Bürger der geistig-kulturellen Prägung Deutschlands durch christlich-jüdische Tradition eingedenk bleiben, ebenso wie der Prägungen durch die Antike und die Aufklärung. Auch in der Religionsfrage ist es einmal mehr der Rückgriff auf den historischen Grundbestand bürgerlichen Selbstverständnisses, dessen die Moderne dringend bedarf: Zu wem immer einer betet oder auch nicht, die Würde seines Menschentums bleibt unantastbar, der Respekt vor der Person und seine Stellung in der Gesellschaft davon unberührt.

Bürgerlichkeit ist das Gegenteil von Einförmigkeit und Uniformität, ist die zivilisatorische Konterkarierung des Herdentriebes, ist Entfaltungsraum für ganz unterschiedliche Lebensentwürfe. Bürgerlichkeit ist ebenso eine Haltung, die sich zu freiwilliger Selbstbescheidung bekennt, wenn Vernunft sie gebietet, um ein Optimum an Freiheit für alle Mitglieder der Gesellschaft zu gewährleisten. Diese Sicht muss dringend in den Religionsdiskurs zurückkehren, sollen die kommenden Jahrzehnte nicht von antiquiertem Eiferertum und stets zu Intoleranz neigendem Missionierungsgeist geprägt sein. Mehr Toleranz täte auch der bisweilen überschießenden Patriotismusdebatte in Deutschland gut. Kein Mensch bezweifelt mehr, dass auch Deutsche ihre Heimat, ihr Land und, wenn sie im Einzelfall mögen, selbst die Nation lieben dürfen. Bestrebungen allerdings, Vaterlandsliebe und patriotische Symbolhandlungen quasi zur Bürgerpflicht zu machen, liegen in Wahrheit jenseits bürgerlicher Vernunft. Denn diese muss allemal berücksichtigen, dass es Menschen im Land gibt, die sich mehr als Europäer oder Weltbürger verstehen denn als Deutsche. Dass es Menschen gibt, deren Vaterlandsliebe sich in Verfassungspatriotismus erschöpft, und deren Nationalbewusstsein Deutschland in erster Linie als gleichberechtigtes Glied in einer Gemeinschaft freier Völker sehen möchte. Dazu mag man im Einzelnen stehen wie man will: Bürgerlichem Geist widerspräche es allerdings, Mitbürger durch die Setzung von Zwangsnormen zu ungewollten Bekenntnissen zu drängen.

Patriotismus ist so wenig eine Grundbedingung für das friedliche Zusammenleben gleichberechtigter Menschen wie Religiosität. Das Bürgerliche macht sich stark für das Recht eines jeden, patriotisch sein oder Religiosität nach je eigener Art leben zu dürfen. Weil aber die Menschen nicht gleich sind, nicht gleich denken und gleich fühlen, käme eine Pflicht oder ein Zwang zu Patriotismus oder Religiosität, zu einer normierten Lebensweise oder Ideologie der Aufgabe bürgerlicher Prinzipien gleich.

Welche Rolle also kann das Bürgerliche im 21. Jahrhundert spielen? Die gleiche, die es schon im 19. spielte. Die Freiheit des Individuums behaupten. Die Möglichkeiten zur Freiheit verbessern. Der allgemeinen Angst vor dem Andersartigen aufklärerisch entgegentreten. Normativen Ansprüchen auf Konformität begegnen. Die Verengung und Banalisierung des Denkens und Sprechens bekämpfen. Individuelle Leistungsbereitschaft ebenso wie soziale Verantwortung und Gemeinsinn von jedermann einfordern und vorleben. Nicht zulassen, dass Bildung zur bloßen Ausbildung und Kultur zum reinen Entertainment verkommt. Sich selbstbewusst, kritisch und auch mit zivilem Eigenengagement einmischen in die öffentlichen wie staatlichen Angelegenheiten. Dafür streiten, dass Solidarität und Mitmenschlichkeit Grundwerte der Republik und ihrer Bürger bleiben, dass die universellen Menschenrechte eingehalten werden und unsere Lebenssphäre nicht bis in die letzten Ritzen selbst der Kultur und des Geisteslebens von Rentabilitätsdenken und  Ökonomismus besetzt wird. Die Balance halten zwischen wirtschaftlichem Erfolgsstreben und humanistischem Lebensverständnis, das wäre die grundlegende Mindestforderung an eine „neue Bürgerlichkeit“.

Die bürgerliche Revolution ist in Gefahr

Diese verlängerbare Liste macht deutlich: Die Ideen und Ideale, mit denen das Bürgertum einst als weltverändernde Kraft die Bühne der Geschichte betrat, sind noch aktuell, teils  aktueller denn je. Allerdings müssen sie vielfach erst wieder in Erinnerung gebracht werden – zu sehr hat sich das alte Bürgertum im Nationalsozialismus selbst davon entfernt, zu sehr sich auch in der Nachkriegszeit das Verständnis von Bürgerlichkeit verengt auf ein Bild von steifer bis weltabgewandter Gestrigkeit. Daran kann eine „neue Bürgerlichkeit“ ebenso wenig anknüpfen wie an der modischen Begeisterung für ehrwürdige Benimmregeln oder der Hinwendung zu Sekundärtugenden. Will „neue Bürgerlichkeit“ zukunftsrelevante Substanz entfalten, muss sie wieder die Brücke schlagen zu den Ursprüngen des Bürgerlichen in der Aufklärung und im Aufbegehren gegen den Ständestaat. Dort findet sie jene Tradition begründet, die den Menschen unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Glaube, Hautfarbe, Nation um seiner selbst willen in gleiches Recht setzt – auf dass er die Möglichkeit gewinne, eingebettet in eine tolerante Solidargemeinschaft auf ganz unterschiedliche Art sein Glück zu suchen. Eine Tradition, die aufzugreifen überaus fortschrittlich wäre. Nicht nur, weil die  Vollendung jenes Ideals noch aussteht. Sondern weil  die Gegenwart gerade beginnt, manch schon Erreichtes wieder in Frage zu stellen.                                                       Andreas Pecht            


 
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