Kolumne »Guten Tag allerseits«
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Sie finden hier die gesammelten Intro-Texte aus der Startseite von www.pecht.info im Monat September 2008 (beginnend beim ältesten Text, abwärts zu den jüngeren fortschreitend)
2008-09-05
Guten Tag allerseits,
neulich durfte ich im Rahmen des Abschlusstages zum Projekt "Spurwechsels" des rheinland-pfälzischen Kultursommers eine Veranstaltung moderieren, in deren Zentrum ein Vortrag von Oskar Negt mit anschließender Podiums- und Publikumsdiskussion stand. Es ging dabei um  den "misslichen Zusammenhang zwischen Lebenswelt und Arbeitswelt". Aus diesen spannenden eineinhalb Stunden möchte ich nur einen Aspekt noch einmal kurz aufgreifen.

Negt hob mehrfach auf die Notwendigkeit einer Wiederherstellung der Würde und des Stolzes der arbeitenden sowie der aus der Arbeit verdrängten Menschen ab. Wie recht er damit hat! Wir merken es fast nicht mehr: Aber in den letzten Jahren ist Wertschätzung für normale Arbeit und für die Leistung der "proletarischen" Arbeitsbevölkerung aus dem öffentlichen Bewusstsein beinahe verschwunden. In all den Einlassungen über Sozialreformen, Globalisierung und Standortentwicklung werden Entlohnung und Stellung vor allem der "einfachen" Arbeit als leidige Kostenfaktoren behandelt. Die Malocher in Produktion und Dienstleistung geraten dadurch zusehends in die Position von Underdogs, ihre Schufterei nimmt den Geruch des Asozialen an. Ein Umstand, der durch vielleicht gut gemeintes Mitleid mit den Menschen in der unteren Gesellschaftshälfte bloß noch verschärft wird. Denn auch Mitleid leugnet die tatsächliche Unverzichtbarkeit und wertschaffende Bedeutung einfacher Arbeit für das Funtkionieren von Wirtschaft und Gemeinwesen.

Müllwerker, Reinigungspersonal, Produktionsarbeiter, Verkäuferinnen, ...  man nehme sie weg, und der ganze Laden bricht zusammen. Ohne sie sind alle Exzellenzinitiativen und Ingenieursoffensiven  vergebliche Liebesmüh, ohne sie würden die Herrschaften Manager blöd in die Röhre gucken. Auch (und gerade) einfache Arbeit ist meist schwere Arbeit; ist Arbeit, die individuelle Lebensenergie in einem Ausmaß verzehrt, das nicht selten jenes "gehobener" Tätigkeiten deutlich überschreitet. Deshalb gebührt auch einfacher Arbeit allgemeine Anerkennung und sowieso ordentliche Bezahlung. Deshalb dürfen auch einfache Arbeiter ihren Stolz haben. Es ist ein Unding, dass  viele von ihnen per Niedriglohn und Hartz-IV-Zuzahlung zu Sozialfällen degradiert, zu Almosenempfängern herabgewürdigt werden - und dass ihr öffentliches Ansehen entsprechend in den Keller fährt.

Missachtung und Herablassung gegenüber einfacher Arbeit ist ein Problem, das die gesamte Arbeitsbevölkerung angeht. Denn wie die Ausdehnung des staatlich alimentierten Niedriglohnsektors das gesamte Lohngefüge auch der Facharbeiterschaft sowie der Angestellten bis hinein in die untere Führungsebene nach unten zieht, so nagt die soziale Diskreditierung der einfachen Arbeit am gesamten Statusgefüge der Arbeitswelt. So gerät die Arbeitsgesellschaft zusehends in ein ideologisch obskures Fahrwasser, wo etwa Spekulation auch subjektiv eine höhere Wertschätzung genießt als die alle Reichtümer erst schaffende Arbeit. Dass Manager und Finanzjongleure ihre Leistung um das Tausendfache höher bewerten als die Leistung von Produktionsarbeitern oder Büroangestellten ist perfider Ausdruck jenes marktlibertinären Obskurantismus.


Wünsche anregende Lektüre,
Andreas Pecht
 
2008-09-18
Guten Tag allerseits,
heute ein Buch-Hinweis vor allem, aber nicht nur, für Leser aus dem Koblenzer Raum. Anlässlich des 200. Geburtstages  der Casino-Gesellschaft Koblenz ist soeben unter dem Titel "Durch alle Zeiten" ein 218 Seiten starkes Kompendium erschienen. Zahlreichen Fotos illustrieren die lange und lebhafte Geschichte dieser Bürgervereinigung, die zugleich eng verwoben ist mit der Geschichte der Stadt am Rhein-Mosel-Eck. Die Textteile des Buches bestehen aus zwei Arten von Aufsätzen. Erstens solche, die sich unmittelbar auf das "Casino zu Coblenz" selbst beziehen. Zweitens aber auch solche, die sich allgemein mit der Rolle des Bürgertums in der deutschen Gesellschaft auseinandersetzen.

Zu den Autoren der letzteren Textfamilie gehören etwa Hanna Renate Laurin, der unlängst verstorbene Peter Glotz, Dieter Stolte und ich selbst. Laurin schreibt über die "Herausforderungen des Pluralismus", Glotz über "Aufklärung und Bürgertum", Stolte darüber, "Was uns in Deutschland zusammenhält". Mein eigener Beitrag, der das Buch beschließt, ist ein Essay unter dem Titel "Suche nach einer Bürgerlichkeit für das 21. Jahrhundert".

"Durch alle Zeiten" ist im Garwain Verlag erschienen (ISBN 978-3-936436-13-6). Preis: 24 Euro. Den Vetrieb hat die Buchhandlung Reuffel übernommen: www.reuffel.de   
 

Wünsche Erhellung und Anregung
2008-09-20 + 24
Guten Tag allerseits,
24.9.:
An diesem Sonntag wird in Bayern gewählt. Sofern die Bajuwaren den Meinungsforschern nicht im letzten Moment eine lange Nase drehen, geht die seit Ewigkeiten herrschende Staatspartei CSU diesmal so richtig auf die Rutschbahn. Zeit wird's - dass auch im Freistaat endlich Normalität einkehrt.

Den schier endlosen Strom von Kommentaren und Analysen zum Bayern-Thema näher betrachtet, der sich momentan durch sämtliche Publikationskanäle wälzt, stößt man allerdings auf eine gewisse Engsichtigkeit. Rührt denn der angekündigte Absturz der Partei tatsächlich bloß vom farblosen CSU-Führungsduo? Zweifel! Andersrum gefragt: Stünde die CSU heute besser da, wenn sie als Galionsfigur noch eine Type vom Schlage Franz Josef Strauß hätte? Wieder Zweifel! Das Bayern des Jahres 2008 ist anders als das vor 20 oder 30 Jahren. Seine Menschen haben sich verändert, die Realitäten und der Geist auch im Bayernland haben sich verändert.

Bodenständiger Konservatismus traut dem in Krachleder versteckten Marktliberalismus der CSU nicht über den Weg. Aufgeschlossener Modernismus mag den landsmannschaftlichen Verbrämungen des CSU-Alleinvertretungsanspruches nicht mehr folgen. Selbst bayerische Gebirgsbauern sind nicht länger CSU-Wähler qua Geburt. Diesem Monopol-Verfall könnte auch ein FJS keinen Einhalt gebieten. Ein Schlachtross wie Strauß wäre heute in Bayern so wenig mehrheitsfähig wie eine Position "Frauen an den Herd" in der heutigen CDU.

Solcher Wandel vollzieht sich im Grundsatz unabhängig vom handelnden Politpersonal. Die Krise der SPD ist keine Krise "Beck", die Krise der CSU keine Krise "Huber/Beckstein". Die Herrschaften sind nur einfach zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort und müssen ausbaden, was sowieso irgend jemand ausbaden muss. Wenn sie sich dann auch noch individuell ungeschickt anstellen oder nicht begreifen, woran der Zahn der Zeit gerade nagt, dann bringt das eine Variable ins Spiel, die zwar für einigen Furor sorgen kann, aber halt nur vorübergehend.

Es passt ganz gut ebenso auf die CSU, was "Cicero"-Chefredakteur Wolfram Weimer eben, gemünzt auf die SPD, schrieb: "Selbstkannibalisierung als Sublimation einer Identitäskrise." Dieser Kelch wird letztlich auch an der CDU nicht vorübergehen. Als die SPD mit Schröder nach "rechts", ins marktliberale Lager wanderte, machte sie zwangsläufig links Platz für eine neue Partei. Seit die CDU mit Merkel nach "links" wandert, gleichzeitig weg von marktliberalem Primat und von wertkonservativem Lebensbild, lässt sie rechts allerhand Leerraum zurück. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis genug frustrierte Erzkonservative vor allem aus dem Unionsspektrum den Mut finden, diese Lücke mit einer weiteren neuen Partei, einer rechtsbürgerlichen, zu füllen.


20.9.:
"Nicht linke Eiferer stellen das Wirtschaftssystem infrage, sondern die gescheiterten Herren der Bankhäuser."

Dieser Satz aus dem Wirtschafts-Aufmacher der aktuellen "Zeit" bringt die Haupttendenz der Kommentierungen in dieser Woche knackig auf den Punkt.
2008-09-29
Guten Tag allerseits,
Die Bayern haben erwartungsgemäß gewählt. Nur haben sie etwas kräftiger hingelangt als vorausberechnet. Der Freistaat ist in der Normalität angekommen, heißt es am heutigen Morgen allenthalben. Richtig. Wobei "Normalität" für einen Entwicklungsprozess steht, der geradewegs aus dem Normalzustand hinausführt, an den die Republik über Jahrzehnte gewöhnt war: Weg von den dominanten Volksparteien, weg erst vom Drei-, dann vom Vier-Parteien-System; hin zum Sechs-Parteien-System, in dem die Zentrumsparteien immer kleiner werden.

Wobei das schwache Führungspersonal ein Faktor von eher untergeordneter Bedeutung ist. Auch die bayerische Besonderheit, wonach die sechste Partei, die Freien Wähler, nicht eindeutig rechts oder links von der CSU verortbar ist, spielt keine allzu große Rolle. Entscheidend ist vorerst, dass die Ex-"Staatspartei" weiter, ja in beschleunigtem Maße an Bindekraft verliert - sowohl was erzkonservative als auch was modernliberale Parteigänger angeht. Als Sammelbecken beider Unzufriedenen werden die Freien Wähler sich absehbar wieder auseinandersortieren müssen: Wenn die CSU nach rechts geht, werden sie sich in Richtung bürgerlich-liberale Mitte orientieren. Schwenkt die CSU vollends auf den Kurs der Merkel-CDU ein, werden die "Freien" sich womöglich rechts davon einrichten.

Die Zerbröselungstendenz des Parteienspektrums ist indirekte Folge eines großen Bewusstseinswandels in der Bevölkerung. Die öffentliche Meinung geht auf Distanz zum neoliberalen Marktfetischismus, die Menschen besinnen sich auf die Grundwerte der sozialen Marktwirtschaft. Dieser Schwenk bringt die inneren Widersprüche der Volksparteien zum tanzen und sie selbst ins Wanken. Die CDU will konservativ UND fortschrittlich sein, die SPD neoliberal (schröderisch) UND links. Weshalb beide als farb- und konturlose Substanzen in einer Mitte landen, die keine eindeutigen, glaubhaften Antworten auf brennende Zukunftsfragen und -ängste der Bevölkerung geben kann. 
    

Wünsche Erhellung und Anregung