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2009-04-29 Analyse/Kommentar:

Verliert der „Tag der Arbeit“ seinen Wert als Symbol für den Kampf um soziale Gerechtigkeit?

 

Erstritten, verharmlost, missbraucht:
der 1. Mai

 
ape.  Er hat es schwer als Arbeiterfeiertag: der 1. Mai. Historisch erstritten beim weltweiten Ringen um den Achtstundentag, ist er seit 1890 Symbol für den Kampf der Arbeiterschaft um Rechte und soziale Gerechtigkeit. Doch das Symbol verblasst. Und es wird immer wieder auch missbraucht: einst von Hitler und Stalin, heute von Neonazis und Randalierern.

Schon die Bezeichnungen für den 1. Mai sprechen von sehr unterschiedlichen Bedeutungen, die ihm beigemessen werden: Kampftag der Arbeiterklasse, Tag der Arbeit, Maifeiertag. Für die einen ist der Klassenkampf längst vorbei, sie laden zum Maifest bei Grillwurst und Schwof. Andere halten daran fest, den Tag wenigstens mit Reden über den sozialen Zustand des Landes und die Notwendigkeit von Solidarität zu beginnen – bevor die Musik aufspielt. Wieder andere stehen der Marginalisierung des Arbeiterfeiertages so fassungslos gegenüber wie mancher Christenmensch der Kommerzialisierung des Weihnachtsfestes.

Aber weshalb noch darüber diskutieren, wo doch seit 35 Jahren dem Feiertag der Werktätigen  zusehends die Feierwilligen abhanden kommen? Viele Ostdeutsche hatten nach den Pflichtaufmärschen zwecks DDR-Bejubelung ab 1989 keine Lust mehr auf Mai-Demo. Und Westdeutschland hatte die letzte nennenswerte Hochphase des 1. Mai als Tag großer Kundgebungen von Gewerkschaften und anderen der Tradition der Arbeiterbewegung verbundenen Organisationen in den späten 1960ern und frühen 1970ern erlebt.

Glücklich war der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) damals übrigens nicht über den vorübergehenden Zustrom aus den Milieus der „neuen Linken“ und der „neuen sozialen Bewegungen“. Die daraus erwachsenden Dispute um Mittel und Ziele von Gewerkschaftsarbeit erinnerten zu sehr an die Weimarer Zeit: Dort hatte die Spaltung der Linken in Sozialdemokraten und Kommunisten den 1. Mai nicht selten in einen Kampftag zwischen „Brüdern“ ausarten lassen.

Schnee von gestern. Seither sind die gewerkschaftlichen Mai-Kundgebungen in Deutschland fast Randerscheinungen geworden, die sich zudem mehr als Kulturfeste denn Demonstrationen präsentieren. Die Tradition des Tages der Arbeit als eines Tages der selbstbewussten öffentlichen Bündelung von Forderungen aus großen Arbeitskämpfen des vergangenen Jahres und Forderungen für die Zukunft geriet seit den 1950ern zusehends ins Hintertreffen.

Einer der Hauptgründe war wohl die Entwicklung der Bundesrepublik hin zur „nivellierten Mittelstandgesellschaft“, wie der Soziologe  Helmut Schelsky es nannte. Wachsender Wohlstand und Verbürgerlichung großer Teile der Arbeiterschaft seit dem Wirtschaftswunder entzogen dem kapitalismuskritischen Tenor der Mai-Demonstrationen die Basis. Wo individuelles Karrierestreben gesellschaftlichen Aufstieg verspricht, schwächelt das kollektive Solidaritätsbedürfnis.

Dieser das Bewusstseins tiefgreifend verändernde Umstand darf bis in die neoliberale Phase vor der jetzigen Wirtschaftskrise als einer der wesentlichen Gründe für den Mitgliederverlust der DGB-Gewerkschaften gelten. War in früheren Generationen völlig unstrittig, dass es zur Durchsetzung der Interessen von Lohnabhängigen sehr vieler „starker Arme“ bedarf, so schienen zwischen 1990 und 2008 zwei Arme und ein heller Kopf zu genügen. Doch nur eine Illusion? Auf der Hand liegt, dass infolge der neueren Entwicklung der Mittelstandsgesellschaft hin zur Zwei-Drittel-Gesellschaft mit ihren sozialen Verwerfungen viele Menschen viele Fragen wieder anders stellen und beantworten. Die Wirtschaftskrise tut ein Übriges. Offen ist im Augenblick, ob sich daraus eine Renaissance des Solidaritätsgedankens, mithin eventuell ein Erstarken der Gewerkschaften und auch ein neues Gefühl für die Bedeutung des 1. Mai entwickeln kann.

So oder so aber wäre es falsch, den „Tag der Arbeit“ als sozialpolitisches Symbol aufzugeben und den 1. Mai dem zunehmenden Missbrauch durch autonome Randalierer und Rechtsradikale zu überlassen. „Sozial geht nur national“, mit diesem perfiden und auf allen internationalen Traditionen der Arbeiterbewegung herumtrampelnden Agitationsspruch knüpfen die Neonazis an Hitlers „Feiertag der nationalen Arbeit“ von 1933 an – dem sogleich Zerschlagung beziehungsweise Gleichschaltung der Arbeiterorganisationen folgte. Wie wichtig oder unwichtig der 1. Mai als Demonstrationstag für soziale Gerechtigkeit künftig auch wird: Eine derartige Pervertierung hat er so wenig verdient, wie er die Militärparaden der UdSSR und der DDR verdient hatte.                                                                                            Andreas Pecht

        
(Erstabdruck am 30. April 2009)

1. Mai, Arbeiterfeiertag, schwindende Bedeutung, nicht aufgeben. Analyse.
 
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