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2009-06-08d Vortrag:

Konzerteinführung gehalten in Koblenz am 7. Juni 2009 (unkorrigiertes Redemanuskript, gesprochenes Wort teils abweichend).

Ausführende: Rheinische Philharmonie, Jean-Jacques Kantorow (Dirigent), Andreas Frölich (Klavier)

Werke von Joseph Haydn, César Franck, Felix Mendelssohn Bartholdy und Ramon Carnicer
 

Orchesterkonzert Görreshaus
im Juni 2009

 
ape.  Meine sehr verehrten Damen und Herrn,

seien Sie herzlich willkommen zum vierten und letzten Görreshaus-Orchesterkonzert dieser Saison. Ich nehme an, Sie haben gewählt; ob das Richtige, sei dahingestellt. Jetzt hier zu sein, das allerdings ist auf jeden Fall eine richtige Wahl.

Der Schwerpunkt am heutigen Nachmittag liegt auf Joseph Haydn, von dem wir das Klavierkonzert G-Dur und die erste seiner sogenannten „Pariser Sinfonien“ hören werden, die  Nr. 87 A-Dur. Dieser Programmschwerpunkt erinnert noch einmal daran, dass 2009 für die Musikwelt ein großes Erinnerungsjahr war und noch ist: Auf der Agenda stand der 200. Geburtstag von Felix Mendelssohn Bartholdy am 3. Februar, der 250. Todestag von Georg Friedrich Händel am 14. April –  und schließlich vor gerade einer Woche, am 31. Mai, der 200. Todestag von Joseph Haydn.

Zwei der drei Jubilare sind heute vertreten. Haydn, wie gesagt. Und Mendelssohn Bartholdy, letzterer mit einem eher kleinen Werk: der Orchesterfassung des Scherzo aus dem Oktett für Streicher opus 20. Bleiben wir einen Moment bei Felix – einen kurzen Moment nur, denn über ihn wurde anlässlich des runden Geburtstages gerade hier in Koblenz schon sehr viel gesagt und geschrieben: Zuletzt bei der Geburtstagsfeier, die der hiesige Mendelssohn-Verein zu seinen Ehren hier im Görreshaus veranstaltet hatte, sowie beim Anrechtskonzert des Musik-Instituts Ende Februar mit den beiden Klavierkonzerten des Jubilars. Und noch einmal wird Mendelssohn Bartholdy in diesem Jahr eine herausragende Rolle spielen: Wenn am 29. August zum Abschluss der Mittelrhein Musik Momente in der Pilgerkirche Vallendar seine sämtlichen fünf Sinfonien an einem Abend gegeben werden.

Sie erinnern sich vielleicht, Felix war ein musikalischer Frühentwickler. Besagtes Streichoktett komponierte er als 11-jähriger Knabe. Die Orchesterfassung des Scherzos, die wir nachher hören, entstand knapp ein Jahrzehnt später (1829). Und die Geschichte darum weist Mendelssohn  einmal mehr als überaus spontanen und auch mutwilligen Typen aus. Er weilte seinerzeit in Großbritannien, sollte in London seine 1. Sinfonie   aufführen. Bei der Durchsicht der Partitur fand er das Menuett „schrecklich langweilig“ und „monoton“. Das Konzert brauchte seines Erachtens ein bisschen Pep, weshalb er kurzerhand das Scherzo seines alten Streichoktetts für Orchester umarbeitete und mitten in die Sinfonie hinein spielen ließ. An seine Eltern schreibt Felix nacher: „Das war sehr dumm, aber es klang sehr nett. Steinigt mich nicht!“

Da haben Sie, meine Damen und Herrn, mal wieder eines jener Beispiele für eine historische Konzertkultur, die wir heute ganz ungehörig, ja völlig unmöglich fänden. Ich hatte bei anderer Gelegenheit schon auf Konzerte auch von Mozart und Beethoven in Wien hingewiesen, während denen Sinfonien auseinander gerissen wurden, um zwischen die Sätze ganz andere Stücke, Solistenauftritte oder Speis und Trank zu schieben.

Mehr heute nicht zu Mendelssohn Bartholdy. Und zu seinem Scherzo nur der Hinweis auf die Charakterisierung durch den Komponisten als „Allegro leggierissimo“. Allegro kennen Sie alle, das meint: schnell und lebhaft. Was aber bedeutet leggierissimo? Natürlich, das ist die Steigerungsform von leggiero, wie Pianissimo die Steigerungsform von piano ist. Was aber heißt leggiero? Sie kennen aus dem Französischen das Wort legére für locker, luftig, leicht – etwa in den Umgangsformen oder in der Kleiderordnung. In eben diesem Sinne verlangt leggiero einen perlenden, leichten, ja vergnügten musikalischen Vortrag. Und das nun bitteschön mit ordentlich Verve, so Mendelssohn Bartholdys Vorstellung von der Ausführung des Scherzo. Allegro leggierissimo - schnell und mit  überschäumend perlender Leichtigkeit möchte er es realisiert sehen. Schaun wir mal, ob der Dirigent des heutigen Konzerts, Jean-Jacques Kantorow, Felix darin folgt, oder ob er vielleicht zu einer andere Interpretation neigt.

Weil wir mit Mendelssohn gerade in London sind, bleiben wir gleich dort. Das passt auch zum Länderschwerpunkt des diesjährigen Kultursommers Rheinland-Pfalz, der sich Großbritannien widmet, und den seit Jahrhunderten sehr intensiven deutsch-britischen Kulturbeziehungen. Die Würdigungen der letzten Wochen anlässlich des 250. Todestages von Georg Friedrich Händel kamen nicht umhin, einzuräumen, dass UNSER Händel eigentlich ein Engländer war. Zwar 1685 in Halle an der Saale geboren, siedelte er aber schon 1712, also 27-jährig nach London über. Nur von Reisen unterbrochen, lebte und arbeitete Händel dort dann 47 Jahre bis zu seinem Tod 1759.
Händel war ein Star für die Briten, ein Megastar würde man heute sagen.  Sie feierten ihn, umjubelten ihn und gaben ihm die Möglichkeit, gutes Geld zu verdienen – und das nicht zu knapp. Auch wenn Händel hie und da mal einen finanziellen Misserfolg einstecken musste, so blieb er  doch ein wohlhabender Mann und hinterließ ein Vermögen von umgerechnet 3 bis 4 Millionen Euro.

Schaut man sich in der Musikgeschichte um, findet man  bedeutende Komponisten und Solisten vom Kontinent immer wieder auf Konzertreisen oder langen Aufenthalten in Großbritannien. So Händel, so Mozart, so Mendelssohn Bartholdy, so auch Joseph Haydn, Hauptperson des heutigen Nachmittags. England war für die Musiker damals enorm verlockend. Grund: Während die Künstler auf dem Kontinent  sehr stark von den  Launen der Fürsten abhängig waren – das gehobene Konzertleben war gerade in Deutschland und Österreich eine vorwiegend höfische Angelegenheit –, existierte auf den Inseln bereits ein wohlhabendes, gebildetes und kunstsinniges Bürgertum als  einflussreiche Gesellschaftsschicht.

In den großen Städten, in London zumal, gab es unabhängige Konzertreihen und Opernhäuser. Und dort ein Publikum, das für Kunst   nicht nur aus eigener Börse ordentlich bezahlte, sondern die Künstler obendrein umwarb, sie nicht als Lakaien oder bloß wohlfeile Unterhalter betrachtete. Als Joseph Haydn 1791/92 und 1794/95 jeweils für mehrere Monaten nach Großbritannien kam, geriet er, der  vormalige „livrierte Hausoffizier“ am Hofe der österreichisch-ungarischen Magnatendynastie Esterhazys völlig aus der Fassung über die enthusiastische Aufnahme  durch die Engländer – und über die exorbitanten Honorare, die sie ihm bezahlten.

Sir Simon Rattle, Chef der Berliner Philharmoniker, hat in der vorvergangenen Woche in einem wunderbaren Interview über Haydn und seine Beziehung zu ihm in der Wochenzeitung „Die Zeit“ gesagt: „Wir Engländer waren ja schon zu Haydns Lebzeiten vollkommen verrückt nach ihm. Er (Haydn) war regelrecht schockiert, wie die Menschen sich auf seinen Londonreisen persönlich für ihn interessierten. Das kannte der einsame Mann aus Esterhazy gar nicht.“ Und um ein Haar, meine Damen und Herrn, wäre es  gekommen wie bei Händel: Haydn überlegte ernsthaft, sich auf Dauer in England niederzulassen und britischer Bürger zu werden.
Er besann sich dann aber doch anders und kehrte nach Wien zurück.

Wir bleiben noch ein bisschen bei Joseph Haydn, denn er ist in mehrfacher Hinsicht ein interessante Figur. 1732 wurde er im niederösterreichischen Rohrau geboren.  Joseph wird in diversen Lexika als Bruder des Komponisten Michael Haydn und des Tenors Johann Evangelist Haydn vorgestellt. Die Auskunft ist zutreffend; falsch wäre aber der Schluss daraus, er sei in eine Familie passionierter Musiker hineingeboren worden. Die Haydns waren seit Generationen Handwerker. Das elterliche Gewerbe war die Stellmacherei oder Wagnerei; man baute und reparierte also Pferdefuhrwerke und Kutschen. Von irgendwelchen besonderen Bindungen an die Musik keine Spur. Überliefert ist lediglich, dass bei Haydns stets eifrig gesungen wurde.

Und diese Form volktümlich-häuslicher Musikpflege hatte das Herz der Eltern offenbar weit genug geöffnet, um dreien ihrer Söhne eine Musikerlaufbahn zu ermöglichen. Der kleine Joseph wurde als Fünfjähriger zu einem Verwandten geschickt, damit der ihn in die Kunst des Chorgesangs einführe. 1740 entdeckte ihn der Musikdirektor des Wiener Stephansdoms und nahm das Singetalent aus der Provinz als Chorsänger mit in die Weltstadt. Dort erhielt er auch Klavier- und Geigenunterricht. Allerdings keinen systematischen Kompositionsunterricht. Den hat Joseph Haydn auch späterhin nie genossen – er war, wie Johann Sebastian Bach übrigens auch – im Hinblick auf das Komponieren ein Autodidakt.

Mitte der 1740er war dann Schluss mit dem Chorknabendasein. Der Bub  war zum Mann geworden und die Herrschaften am Stephansdom konnten ihn als Männerstimme nicht brauchen. Man schickte den Jüngling einfach fort. Ein übliches Verfahren damals. Was tat Haydn? Er versuchte sich in Wien als freischaffender Musiker über Wasser zu halten – fast 10 Jahre lang. Eine schwierige Zeit, die ihn als Kammerdiener eines italienischen Komponisten sah, als Gelegenheitsmusikus im Kaffeehaus, als Klavier- und Geigenlehrer oder Hilfsorganist. Auch als scheinbarer Müßiggänger wurde er bisweilen gesehen - der allerdings in Wahrheit eifrig am Selbststudium arbeitete und nicht minder eifrig komponierte.
1759 wurde er von einem Grafen Morzin als Musikdirektor auf Schloss Lukawetz in Böhmen engagiert. Da war Haydn 27 Jahre alt, von denen er 20 in Wien verbracht hatte. Bald jedoch ging dem Grafen Morzin das Geld aus für die Musik. Weshalb Haydn 1761 beim Fürsten Paul Anton Esterhazy als Kapellmeister von dessen Hoforchester anheuerte. Der Familie Esterhazy diente er fortan 30 Jahre in Festanstellung. Ein der Musik völlig abholder Esterhazy-Erbe schickte ihn dann in Pension.  Haydn ließ sich als selbstständiger Komponist in Wien nieder, bleib aber dennoch den Esterhazys bis zu seinem Tod 1809 dienstbar.

20 Jahre Wien, dann 30 Jahre bei den Esterhazys, dann ein paar Monate in England und hernach wieder 19 Jahre in Wien und weiter den Esterhazys verbunden:  Sie sehen, meine Damen und Herrn, Flatterhaftigkeit lässt sich dem Joseph Haydn gewiss nicht nachsagen, eher eine für die damalige Zeit und die Musikerzunft sehr ungewöhnliche – nennen wir es mal: Standorttreue. Was war er für ein Mensch, dieser Haydn? Darüber wissen wir genau genommen sehr wenig. Die Quellenlage ist dürftig, private Zeugnisse über ihn, erst recht von ihm sind dünn gesät. Wir wissen noch nicht einmal, wie er aussah. Denn wenn Sie die doch recht zahlreichen Porträtgemälde von ihm nebeneinander halten, zeigen sie völlig verschiedene Menschen.

Die diversen Porträts weisen lediglich zwei Gemeinsamkeiten auf: 1. eine markante Nase, mal mehr, mal weniger schmeichelhaft retuschiert. Will sagen: Der Mann hatte wohl einen richtigen Zinken im Gesicht. 2. Zeigen die Gemälde allesamt einen auffällig glatten Gesichtsteint. Was per se auf das gerade Gegenteil hindeutet. Haydn hatte wie so viele seiner Zeitgenossen die Pocken erlitten und glücklicherweise überlebt. D.h., sein Gesicht war in Wirklichkeit von auffälligen Narben überzogen. Er war kein attraktiver Mann, hielt sich selbst auch nicht für einen solchen Weshalb es ihn maßlos erstaunte, dass ihn die Damenwelt bei seinen beiden London-Aufenthalten heftig umschwärmte.

Wir wissen, dass Haydn von den Musikern am Esterhazy-Hof wegen seiner Freundlichkeit und seines Humors geschätzt wurde. Eigenheiten, die wir auch in seiner Musik ausgeprägt finden – zumindest seit  die Musizierpraxis im späten 20. Jahrhundert wieder davon abgekommen ist, Haydn'sche Werke mit unnötiger Schwere zu belasten. Simon Rattle beschreibt das in besagtem Interview sehr hübsch: „Ich habe Haydn in Berlin schon bei meinen Gastauftritten während der Karajan-Zeit dirigiert. Das war nicht einfach. Es kam mir damals vor wie ein Ballett mit Elefanten. Alles war zwar perfekt gespielt, die Sechzehntelmaschine ratterte, aber es klang schwer und fest und ohne Flexibilität. Da hat sich inzwischen sehr viel verändert.“

Und gleich noch einmal darf ich Rattle bemühen, um die Schattenseite in Haydns Leben anzusprechen: „Ich glaube,“  sagt Rattle, „sein Schaffen war von großer Einsamkeit geprägt. Er war todunglücklich verheiratet. Seine Ehefrau wollte mit Musik nichts zu tun haben. Er muss auch über seine Ehe hinaus isoliert gewesen sein. Auf der einen Seite war es ihm nicht gestattet, sich unter die Aristokraten zu mischen. Auf der anderen Seite konnte er sich nicht mit den ihm untergebenen Musikern gemein machen. Er stand einsam irgendwo dazwischen. Oder nehmen sie den rätselhaften Umstand, dass dieser eigentlich vor Neugier brennende Komponist (bald 30 Jahre, ape) auf Schloss Esterhazy saß und kaum Abstecher ins nahe Wien unternahm, wo überaus interessante musikalische Dinge passierten. Er durfte es nicht. Der Fürst bestand auf den musikalischen Verpflichtungen.“

Dies ist die Kehrseite des in der Literatur bisweilen recht positivistisch   beschriebenen Daseins von Haydn in seinem „Experimentierlabor“ Esterhazy. Immerhin blieb ihm soviel Luft, dass er die Freundschaft mit  Mozart einigermaßen pflegen und mit diesem gelegentlich auch  musizieren konnte. Haydns Arbeitspensum war gewaltig: 120 Konzerte und auch Opernaufführungen hatte er am Esterhazy-Hof pro Jahr zu leiten, meist mit eigenen Kompositionen zu bestücken.

Haydn hat mehr  als 100 Sinfonien geschrieben (von 107 weiß man heute), 83 Streichquartette, 52 Klaviersonaten, 14 Messen, 6 große Oratorien und übrigens auch 24 Opern – um nur einige Messzahlen zu nennen. Haydn gilt als Katalysator für die Entwicklung der Sonatenform, mehr noch als „Vater“ des Streichquartetts und der klassischen Sinfonie. Wobei „Vater“ ein etwas irreführender Begriff ist, zu betulich und traditionalistisch.  Neuerer, Innovator, Reformierer, Experimentator, vielleicht sogar musikalischer Revolutionär trifft es eher. Der Eremit zu Esterhazy war ein zwar einsamer, dennoch ein berühmter Mann zu seiner Zeit. Seine Kompositionen und die Konzerte am Esterhazy-Hof waren   Gesprächsthema in der musikalischen Welt bis nach Frankreich und England.

Er, der Autodidakt,  hat die Formensprache der klassischen Musik in einem Ausmaß geprägt wie sonst nur noch der alte Bach. Und wie jener, blieb er zu Lebzeiten oft auch missverstanden. Vor allem in Haydns späten Esterhazy-Jahren fanden selbst seine Musiker bisweilen „sehr seltsam“, was der Meister da zusammenexperimentierte. Denn wie Formenstrenge EIN Wesensmerkmal seiner Musik ist, so ist die unkonventionelle bis radikale Ausschöpfung formaler und tonaler Möglichkeiten eine andere.

Haydns Musik ist eigen und seine Partituren lassen unglaubliche Spielräume. Die daraus sich ergebenden Hörphänomene waren dem Publikum vor 200 Jahren wesentlich auffälliger als uns heute. Warum? Weil die Altvorderen bei Hofe mit musikalischen Formen und Konventionen viel besser vertraut waren als die meisten von uns es sind. Das normale Publikum heute hört klassische Musik wie sie ist und klingt; die Damaligen hörten in viel stärkerem Maße die Strukturen mit, hörten deshalb auch das formal Ungewöhnliche, den Regelverstoß, das Überraschende. Das kann man lernen – allerdings nicht im Rahmen eines 20-minütigen Vortrages.

So bleibt jedem von uns beim Konzert gleich das individuelle Erleben zweier heutzutage nicht allzu häufig gespielten Haydn-Werke. Das wohl in den 1770ern entstandene G-Dur-Klavierkonzert ist mit seinem brillanten Kopfsatz und seiner Neigung zu chromatischen Schärfen eine technisch recht anspruchsvolle pianistische Perle. Das Prinzip des Dialogs zwischen Solist und Orchester ist noch schwach entwickelt, kommt fast nur im Adagio-Satz zum Tragen als Korrespondenz zwischen Klavier und sordinierten, also gedämpften Violinen. Im Schlusssatz erleben Sie dann eine Portion Haydn'schen Humors.

Hinsichtlich der Sinfonie Nr. 87 A-Dur, die unser Konzert abschließt, muss ich Sie – mal wieder – ganz auf Ihr eigenes Urteil verweisen. Denn bei den Musikwissenschaftlern und Kritikern liegen die Bewertungen dieses Stück himmelweit auseinander. Mal heißt es, die 87. sei konventionell und allzu simpel konstruiert. Dann wieder heißt es, Haydn sei in der klanglichen und formalen Gestaltung weit über frühere Werke hinausgegangen und habe so den Grundstein gelegt für die Entwicklung hin zur Grande Symphony des 19. Jahrhunderts.

Einigkeit herrscht noch nicht einmal darüber, ob es sich bei der 87. tatsächlich um die erste jener sechs Sinfonien handelt, die 1884 von der Pariser Freimaurerloge Olympique bei Haydn in Auftrag gegeben wurden. Weshalb man die sechs Stücke heute „Pariser Sinfonien“ nennt.  Einge Fachleute mögen nicht ausschließen, dass die 87 schon vorher entstanden ist und vom Komponisten einfach in die Pariser Lieferung übernommen wurde. Wie dem auch sei: treffen Sie Ihr eigenes Urteil.
Viel gäbe es über Joseph Haydn noch zu sagen. Aber die Zeit rennt, und ein paar Sätze wenigsten sollen auch über die beiden heute vertretenen Komponisten gesagt sein, von denen ich bisher noch gar nicht gesprochen haben: Don Ramon Carnicer und César Franck. Carnicer war Spanier. Geboren 1789, gestorben 1855, war er von 1818 an einige Jahre erster Kapellmeister an der Oper Barcelona. 1828 wurde er in gleicher Funktion an die königliche Oper Madrid berufen, 1840 wurde er Professor für Kompositionslehre an der Universität in Madrid. Dazwischen musste er wegen seines Widerstandes gegen den spanischen König Ferdinand VII.  nach Chile ins Exil fliehen.

Etwas seltsam daran ist: 1818 war König Ferdinand bereits an der Macht, 1828 war er es immernoch. Was bedeutet: Mal kamen der Musiker und Ferdinands Regime gut miteinander aus, dann waren sie sich spinnefeind, nachher ging es wieder gut mit ihnen. Das lag nicht etwa an der Launenhaftigkeit des Musikers, sondern an den Wechselfällen königlich-spanischer Machtpolitik. Dieser Ferdinand VII. ging mal mit, mal gegen Napoleon, je nachdem auf welche Weise er seinem Vater Karl IV. gerade am meisten schaden konnte. Ferdinand gebärdete sich mal als  nationaler Freiheitsheld, dann wieder errichtete ein übles reaktionär-inquisitorisches Regime, womit er bald eine innerspanische Revolution provozierte. Deren Erfolg war dann ein vorübergehend zur Mäßigung  gezwungener Ferdinand. Und stes von den Wellen der großen Politik umhergeworfen unser armer Musikus Carnicer, seines Zeichens Komponist zahlreicher spanischer Volksliedmelodien und etlicher Opern - die man außerhalb Spaniens freilich so gut wie gar nicht kennt.

Wir hören gleich bei Konzertbeginn Carnicers Ouvertüre zu Rossinis Oper „Der Barbier von Sevilla“. Die Oper wurde von ihm 1818 zur Erstaufführung in Barcelona einstudiert. Carnicer hatte offenbar die Einleitung aus Rossinis Feder nicht gefallen, weshalb er kurzerhand eine eigene Ouvertüre komponierte. Die war vom Start weg und ist bis heute in Spanien ziemlich populär. Ich gespannt darauf, denn mir ist nicht bewusst, sie jemals gehört zu haben.

Kleine Anmerkung am Rande. Haydn und Carnicer haben etwas gemeinsam: Beide komponierten, ohne es zu wissen, die Musiken für heute gültige Nationalhymnen – Haydn für die unsrige, Carnicer für diejenige Chiles.

Abschließend noch ein paar Sätze zu César Franck, 1822 in Lüttich geboren, 1890 in Paris gestorben. War Mendelssohn Bartholdy ein Frühentwickler, so Franck das genaue Gegenteil: Alle seine bedeutenden Werke sind während der letzten 15 Lebensjahre entstanden, so auch die „Sinfonischen Variationen für Klavier und Orchester“ des heutigen Programms. Das Werk stammt von 1885; gleich darauf, 1886, hatte Franck mit der Arbeit an seiner berühmten d-Moll-Sinfonie begonnen.

Ein Spätentwickler. Dass er und sein Bruder überdurchschnittliches musikalische Talent besaßen, war allerdings schon sehr früh klar. Vor allem dem Vater, einem Bankangestellten. Den Mann trieb bald ein brennender Ehrgeiz, der Welt seine beiden Söhne als Wunderkind-Duo vorzuführen. Erfolg hatten die großmäuligen Auftritte, die der Papa in Belgien initiierte, allerdings kaum – weshalb er mit Sack, Pack und Kindern 1835 nach Paris übersiedelte.  In der französischen Hauptstadt versprach sich der Vater bessere Chancen für eine Virtuosenlaufbahn vor allem für Cesar. Es wurde nichts daraus, Cesar selbst beschied sich mit der soliden Ausbildung am Pariser Konservatorium, wurde Musiklehrer und Organist, später Professor am Konservatorium. Zu Lebzeiten fanden zwar einige seiner Kompositionen eine gewisse Beachtung, den Durchbruch erwirkten aber erst die posthumen Bemühungen seiner Schüler um Anerkennung des Oeuvres ihres Lehrers.

An musikalischen Formen orientierte Hörer haben bei Francks „Sinfonischen Variationen“ einiges zu beißen. Das Konzert besteht an der Oberfläche nur aus einem einzigen Satz. Darunter allerdings treibt eine quasi versteckte Mehrsätzigkeit ihr Unwesen. Und zwar eine Mehrsätzigkeit, die sehr unterschiedliche Gliederungsprinzipien übereinander lagert und dieses Netzwerk auch noch ständig umbaut.  Wer an analytischem Gepuzzel Spaß hat: Bitteschön, hier gibt es ein wunderbares Betätigungsfeld dafür. Allen anderen sei interessantes Musikerleben versprochen und lediglich dieser Hinweis mitgegeben: Im Kern variiert das Werk nur zwei Themen. Diese gelegentlich wiederzuerkennen, der einen oder anderen Metamorphose ein zeitlang zu folgen kann schon Freude genug sein.
                
Das war`s von mir für heute und für diese Saison.
Wenn Sie mögen, sehen wir uns 6. Dezember zum ersten Görreshaus-Orchesterkonzert der neuen Saison wieder. Bis dahin wünsche ich einen schönen Sommer und einen goldigen Herbst. Nun viel Freude beim Konzert. Danke.
                                                                               Andreas Pecht



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