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2009-06-19 Schauspielkritik:

"Die Möwe" von Tschechow in Mainz: Intendant Fontheim lässt in symbolhafter Heutigkeit ab vier Orten spielen


Kritische Attacke auf Menschen, Künstler und Theaterbetrieb

 
ape.  Wenn die Erinnerung nicht täuscht, war es der Kritiker Michael Merschmeier, der über Peter Zadeks Bochumer Inszenierung von Anton Tschechows Stück „Die Möwe“ 1973 schrieb: „Da  spielen Menschen vor Menschen, wie Menschen sind.“ Diese Beschreibung lässt sich trefflich auf das übertragen, was Intendant Matthias Fontheim jetzt im und ums Kleine Haus des Staatstheaters Mainz aus der „Komödie“ von 1896 gemacht hat: Ein theatralischer Künstlichkeit weitgehend enthobenes, gegenwärtiges, die Beengungen des etablierten Theaterbetriebes heftig attackierendes Menschenspiel auf vier verschiedenen Bühnen.
 

Die entscheidende Frage an Fontheims ungewöhnliche Inszenierung lautet: Dient es dem Stück und macht es für dessen zeitgemäße Interpretation Sinn, die vier Akte auf vier Spielorte zu verteilen, die auch noch vier verschiedene Stile des Spielens motivieren? Erster Akt als Straßentheater unter freiem Himmel auf dem Theatervorplatz, das Publikum in lockerem Kreis drumherum. Zweiter Akt drinnen im Kleinen Haus als raumloses  Sprechtheater vor heruntergelassenem Eisernen Vorhang. Der dritte Akt ist dann gewohnte Schauspielmanier in einer 50er-Jahre Wohnkulisse auf der Bühne.

Der letzte Akt kommt in einer Konstellation daher, die auf den ersten Blick völlig absurd erscheint: Das Publikum nimmt jetzt draußen auf einer zwischenzeitlich errichteten Open-air-Tribüne Platz, und das Schauspiel geht drinnen im Haus vonstatten. Die Zuseher umspült vom realen Abendgeschehen der Stadt. Die Mimen betreiben isoliert davon hinter Theatermauern ihre Profession – Foyer und Treppenhaus als Bühne nutzend. Starke Schlusssymbolik einer Produktion, die reichlich Momente kritischer Betrachtung  der Theaterpraxis enthält.  Symbolik, die indes als Theater nur funktioniert, weil die Außenwand des Gebäudes aus Glas besteht und das dahinter Gesprochene via Tontechnik nach draußen übertragen wird.

Macht das Sinn? Es macht und es fasziniert –  mit  konsequent aufs Heute zugeschnittener Werktreue gegenüber dem geistigen Gehalt von Tschechows Stück. Dieses befragt skeptisch das Sosein des Theaters und der Künstler, beobachtet ebenso das Wesen der Menschen als Gefangene selbstgemachter Umstände.
Fontheim folgt der Essenz von Tschechows  „Möwe“, in dem er sie der äußeren Form nach radikalisiert. Indem er sie auch sprachlich auf den Umgangston hier und heute bürstet. Indem er die Schauspieler agieren lässt, als durchlebten sie gerade ihr eigenes jetziges Leben.

Natürlich ist diese Art Neorealismus nicht minder Illusion. Eine, die für den dichten Strom aus kleinen Haltungen und fast beiläufigen Zungenschlägen hochmögender Darstellungskunst bedarf. Darauf ist das Ensemble in durchweg allen zehn Positionen qualitativ so filigran eingestellt, wie man es in der hiesigen Region von Frankfurt bis hinauf nach Bonn nicht alle Tage findet.
                                                                                       Andreas Pecht

Infos: www.staatstheater-mainz.de

(Erstabdruck am 20. Juni 2009)


Tschechow, Möwe, Staatstheater Mainz, Regie: Matthias Fontheim

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