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2009-10-26 Essay:

Die SPD muss sich auf der Such nach einem Neuanfang
als Partei der kleinen Leute wiederfinden

 

Sozialdemokratie im Elend

 
ape. Wenn sich Mitte November der  SPD-Bundesparteitag versammelt, geht es nicht nur um Führungköpfe,  Umgangsformen und Koalitionsoptionen, sondern um die Grundfrage nach dem künftigen Selbstverständnis der ältesten Partei Deutschlands. Will und kann die Sozialdemokratie wieder zu ihrer historischen Rolle finden als Streiterin für eine gerechtere Gesellschaft im Interesse der kleinen Leute?
 

Sigmar Gabriel, designierter SPD-Parteivorsitzender, hat  mit einem Brief an besorgte Genossen ein wichtiges Signal in seine Partei gesandt. Er konstatiert: Die SPD befindet sich in „katastrophalem Zustand“; eine kritische Ursachenanalyse muss die vergangenen elf Regierungsjahre und die gesamte Parteientwicklung seit 1989 umfassen. Gabriel ermutigt die Mitgliedschaft zu einer großen Debatte über Politik und Struktur der SPD; er räumt ein, dass es mit der innerparteilichen Demokratie und dem Verständnis des Parteivolkes für den Kurs der Führung nicht zum besten steht. (Brief im Wortlaut)

Das ist starker Tobak für eine Partei, die zuletzt mehr auf Schröder'schen „Basta“-Stil festgelegt war, denn im Geiste von Willy Brandts „mehr Demokratie wagen“ lebte. Es steht dahin, ob die SPD-Ortsvereine noch Willen und Kraft haben, via Grundsatzdiskussion von unten Einfluss auf  ihre Organisation zu nehmen.

Bloß ein Wahlverein

Zu lange reduzierte sich Parteiarbeit auf Wahlhilfe zwecks Inthronisation von Regierungen, Präsidenten,  Bürgermeistern – in deren nachheriger Politik die Mitglieder Sozialdemokratisches oft kaum erkennen konnten. Nicht eben ermutigend ist da auch Frank Steinmeiers jüngste Äußerung,  die Bundestagsfraktion sei das Herz der Partei.

Es kam während der Kanzlerschaft Schröder ein Ausdruck auf, der die Identitätskrise der SPD auf den Punkt bringt: „Genosse der Bosse“. Darin spiegelt sich die Entfremdung zwischen Parteiführung hier, Parteivolk und Wählern dort. Die SPD wurde vor 140 Jahren gegründet als Partei, die für die werktätige Bevölkerung eine bessere Zukunft in einer gerechteren Gesellschaft erstreiten soll. Genau so wurde sie von ihren Mitgliedern verstanden, eben deshalb von Millionen gewählt.

Seit Ende der 1980er ist diese recht klare Positionierung der SPD in ihrer Politik und im Gebaren mancher ihrer Politiker zusehends unklarer geworden. Nicht nur in Deutschland, europaweit lösten sich sozialdemokratische Parteien von ihren Wurzeln als Reformkraft im Interesse der Lohnabhängigen. Sie verabschiedeten sich vom Primärziel sozialverbindlicher Eindämmung des Kapitalismus. Stattdessen boten sie sich als „moderne Dynamiker“  an, um ihren jeweiligen „Standort fit zu machen für die Zukunft“. Sozialdemokraten schlüpften in die Rolle der tatkräftigsten Diener des neoliberalen Durchmarsches.

Blair ging voran, Schröder folgte

Tony Blair spielte in Großbritannien den Vorreiter auf diesem „dritten Weg“ zur „neuen Mitte“, Gerhard Schröder folgte. Das neue Ideal sah die Zukunft in einer hochmobilen Gesellschaft   unternehmerisch denkender Individualisten. Die entsprechende Politik ist bekannt: Beschleunigte Privatisierung,  Deregulierung der Finanzmärkte, Agenda 2010, Hartz IV ... Der solidarische Sozialstaat auf dem Weg zur Restgröße, der Gerechtigkeitsgedanke reduziert auf ellbogen-bewehrte „Chancengleichheit“. Dann auch noch der erste deutsche Kampfeinsatz im Ausland seit Weltkriegsende.

Aus „gesamtwirtschaftlicher und nationaler Verantwortung“ kam der SPD unter Schröder ihre Identität als Partei des einfachen Volkes abhanden. Seither meidet sie auch das Wort „Arbeiterpartei“ wie der Teufel das Weihwasser – als müsste man sich schämen, wäre man eine; als sei „Arbeiter“ völlig überholt.
Aber: Nur weil der Arbeiteranteil an der Arbeitnehmerschaft seit 1962 von knapp 70 Prozent auf unter 50 Prozent gefallen ist, sind die Arbeiter ja keineswegs verschwunden. Rund 15 Millionen gibt es  noch, und nach wie vor produzieren sie zusammen mit Bauern und Handwerkern sämtliche Reichtümer, von denen Gesellschaft und Staat nebst Banken und Börsen leben. Arbeiter haben guten Grund, erhobenen Hauptes durch die Welt zu gehen – und die SPD könnte stolz darauf zu sein, würde sie  jemand Arbeiterpartei nennen.

Doch wer könnte das noch nach dem neoliberalen Paradigmenwechsel der Schröder- und Steinmeier-Ära. Der hat so tief ins Selbstverständnis der Sozialdemokratie eingeschnitten, dass davor Irakkriegs-Verweigerung und Einleitung des Atom-Ausstiegs verblassen.

Die bislang letzte Rechnung dafür präsentierte die Bundestagswahl 2009: Absturz der SPD auf 23 Prozent. Ein Desaster ohne Vorbild? Keineswegs. Die Partei musste in ihrer Geschichte mehrfach bittere Einbrüche erleben. Und stets hatten sie damit zu tun, dass Parteiführungen einem vermeintlich übergeordneten Nationalinteresse folgten, statt die Aufgaben zu erfüllen, derentwegen die SPD gegründet worden ist.

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung 1919 kam die SPD auf 37,9 Prozent; bei den Reichtagswahlen 1920 stürzte sie auf 21,7 ab. Zugleich stieg die Linksabspaltung USPD auf 18,8 Prozent. Hauptgrund war die blutige Rolle der Regierung von  Friedrich Ebert bei der Niederschlagung der Arbeiter-Aufstände in Berlin, München und an der Ruhr. Bei den Wahlen 1932 brach die SPD von 29,8 auf 20 Prozent ein, schwoll die KPD auf 16,9 an. Ursache diesmal: Burgfrieden mit der konservativen Regierung Brüning. Erneut gründeten SPD-Linke eine eigene Partei, die SAP, der auch Willy Brandt angehörte.

Lebenslüge „Volkspartei“

Die SPD schrumpfte stets, wenn sie ihre Klientel „unten“ aus den Augen verlor. Das ist bis heute so, siehe  Linkspartei. Vielleicht sollten die Sozialdemokraten überlegen, ob die Rückkehr zur vorrangigen Vertretung der kleinen Leute nicht das sinnvollste für Partei und Republik wäre. Denn wer sollte eine wirklich sozial gerechte Zukunft erstreiten, wenn jede Partei sich als alle  Schichten umfassende Volkspartei versteht, die dem Gesamtinteresse von Wirtschaft und  Nation dient?
Anders gesagt: Die lohnabhängige Bevölkerungsmehrheit ist viel größer, als es die „neue Mitte“ jemals sein kann. Für diese „Klientel“  zu streiten, könnte der SPD bedeutendere Perspektiven (zurück)geben, als die ewige Lebenslüge von der sämtliche Interessensgegensätze überwindenden  Volkspartei.

(Erstabdruck Woche 44 im Oktober 2009)

Essay/Analyse, SPD, Parteikrise, Gabriel, Ursachen, Bundesparteitag, neue Perspektive
 
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