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2009-11-13 Analyse/Kommentar:

BBC-Umfrage in 27 Ländern zeugt von Zustimmung
zur Demokratie, aber Zweifeln am Wirtschaftssystem

 

Mit dem Kapitalismus sehr unzufrieden
 
 
ape. Mit einigem Stolz und durchaus berechtigtem Pathos wurde dieser Tage der friedliche Aufstand des DDR-Volkes vor 20 Jahren gegen die realsozialistische Diktatur gefeiert. Zeitgleich kursierte fast unbeachtet diese kleine Nachricht: Eine repräsentative Umfrage in 27 Ländern weltweit habe ergeben, dass zwar 54 Prozent der Befragten den Zusammenbruch des Sowjetsozialismus positiv sehen, aber zugleich drei Viertel mit dem Kapitalismus in seiner jetzigen Form nicht einverstanden sind. Was sagt dieser Befund über die globale Stimmungslage?

 
In Deutschland wird immer wieder aufgeregt über das Phänomen diskutiert, wonach bei Umfragen Ostdeutsche zwar mehrheitlich die Wiedervereinigung gut heißen, deren Folgewirkungen aber sehr reserviert gegenüberstehen. Gerade haben jüngste Erhebungen des ZDF-“Politbarometer“ ergeben, dass im Osten der Republik die Zustimmung zur Einheit mit 91 Prozent sogar etwas höher liegt als im Westen (85 Prozent). Zugleich stellte der ARD-“Deutschlandtrend“ fest: 64 Prozent der Ostdeutschen finden, die Gesellschaft sei seit 1989 ungerechter geworden; im Westen teilen 40 Prozent diese Ansicht.

Nehmen wir nun die eingangs angesprochene internationale Umfrage hinzu. Dabei wurden im Auftrag der altehrwürdigen britischen Rundfunkanstalt BBC 29 000 Menschen in 27 Ländern rund um den Erdball befragt. Die Ergebnisse zeichnen ein ernüchterndes Bild von der Meinung der breiten Bevölkerung über das als alternativloses Erfolgsmodell hingestellte Wirtschaftssystem des „free market capitalismen“, wie die BBC sich ausdrückt. Nur 11 Prozent aller Befragten stimmen der Aussage zu, „der Kapitalismus  funktioniert gut und Regulierung wäre schädlich“. Den höchsten Einzelwert unter allen Ländern erreicht diese uneingeschränkte Zustimmung zum System erwartungsgemäß in den USA – er kommt allerdings auch dort nicht über magere 25 Prozent hinaus.

Böse Erfahrungen mit Neoliberalismus

Die Erfahrungen der Menschen in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten mit der neoliberalen  Entfesselung der globalen Ökonomie, insbesondere zuletzt mit dem schier katastrophischen Scheitern ihres übergeschnappten Finanzsektors, haben das öffentliche Meinungsbild hinsichtlich des vorherrschenden Wirtschaftssystems offenbar tiefgreifend verändert. Interessant ist, dass vor allem in den westlichen Industrieländern die kritische Haltung gegenüber dem kapitalistischen Wirtschaftssystem einher geht mit positiver Haltung zum Zusammenbruch des politischen Sowjetsystems. Was einmal mehr deutlich macht, dass Kapitalismuskritiker oder unzufriedene Ostdeutsche keineswegs automatisch verkappte Kommunisten sind.

Besonders deutlich wird dieses Verhältnis am Beispiel unserer französischen Nachbarn. Im Rahmen der BBC-Studie meinten dort 74 Prozent, der Untergang der Sowjetunion sei „überwiegend positiv“ . Zugleich aber sind 43 Prozent der Franzosen der Ansicht, dass der Kapitalismus mit so „fatalen Mängeln“ behaftet ist, dass „ein anderes Wirtschaftssystem benötigt wird“. Diese extreme Position teilen in Mexiko 38 , in Brasilien 35, in Kanada immerhin noch 20 und in den USA 17 Prozent. Im internationalen Durchschnitt sind es 23 Prozent.

In Deutschland liegt der Wert für die grundsätztliche Ablehnung des Kapitalismus unter 10, dafür fällt hier die Zustimmung zu einer gemäßigteren Form der Wirtschaftskritik exorbitant hoch aus. „Der Kapitalismus hat Mängel, die aber mittels Regulierung und Reformen angepackt werden können“: Dieser Aussage stimmen fast 70 Prozent der befragten Deutschen zu und 40 Prozent der Franzosen; im Durchschnitt der 27 Länder tut es eine Mehrheit von 51 Prozent.

Glaube an Segen freier Märkte erschüttert

Aus all diesen Zahlen ergeben sich drei grundlegende Schlüsse. Erstens: Der Glaube ans per se segensreiche Wirken freier Märkte ist nachhaltig erschüttert und in der breiten Bevölkerung fast zur Restgröße geschrumpft. Zweitens: Eine Mehrheit bindet ihre skeptische Akzeptanz für das Wirtschaftssystem an sehr hohe Erwartungen, dass primär der Kapitalismus  eingehegt und sozialverbindlich reformiert wird – statt umgekehrt weiterhin Staat-, Sozialssysteme und Gesellschaft dessen Ansprüchen angepasst/unterworfen. Dem entspricht die Forderung von Bundespräsident Horst Köhler: „Die Wirtschaft muss den Menschen dienen!“ Enttäuscht die Politik diese Erwartungen, dürfte sich die gemäßigte kapitalismuskritische Mehrheitsmeinung rasch der großen Minderheit von Kapitalismusgegnern zuwenden. Dann könnte es ziemlich ungemütlich werden. 

Der dritte Schluss aus den obigen Zahlenwerken lautet: Die Mehrheit der Menschen hat heute einen stark differenzierten Freiheitsbegriff gewonnen – es wird klar unterschieden zwischen politischer Freiheit und wirtschaftlicher Freiheit. Und: Politische Freiheit steht allgemein in sehr hohem Ansehen, die erlebte Ausnutzung wirtschaftlicher Freiheit hingegen in extrem niedrigem. Der klassische Liberalismus sah politische und wirtschaftliche Freiheit immer als Einheit. Die zurückliegenden 20, mehr noch die letzten beiden Jahre haben diese Gleichsetzung (wieder mal) gesprengt. Damit wurde der Diskurs über ökonomische Richtungsfragen auch der ewigen fruchtlosen Zuspitzung enthoben: Kapitalismus und Demokratie oder Sozialismus und Diktatur.

Wirtschaftssystem in der Legitimationskrise

Kritik an grundlegenden oder temporären Missständen im hiesigen Wirtschaftssystmen kann nicht mehr abgeschmettert werden mit dem pauschalen Verweis auf die düstere Alternative der realsozialistischen Diktatur. Denn die demokratische Staatsform steht – trotz aller Kritik an politischen Akteuren -  im Bewusstsein der Menschen zumindest in Nordamerika, in Westeuropa und Teilen Osteuropas sowie Asiens nicht zur Disposition. Zugleich jedoch hat sich das Wirtschaftssystem des Kapitalismus, so das öffentliche Meinungsbild, selbst in eine tiefe Legitimationskrise manövriert. Vermisst werden Verlässlichkeit, Beständigkeit, Vorausschau, Verantwortungsbewusstsein, Anstand und Vernunft im Hinblick auf das Gemeinwohl, die Menschen und den Planeten. Die verbliebene Schar redlicher Kaufleute und Unternehmer vermag das Bild vom großen Ganzen nicht zu ändern.

Die Erfahrungen der letzten Jahre erschütterten sogar den Glauben an die Privatisierung als idealen Weg, Staatsaufgaben effizienter, besser, billiger zu erfüllen. Mag auch die neue Bundesregierung weiter aufs Privatisierungs-Pferd setzen, so geht doch quer durch die Demokratien Westeuropas auf der Gemeinde- und Regionalebene munter das Gespenst „Rekommunalisierung“ um. Zuhauf holen sich Kommunen zurück, was sie vormals (teils erst vor kurzem) privatisierte hatten: Müllabfuhren, Bauhöfe, Straßendienste, Reinigungsdienste, Bahnen und Busse, Wasser- und Elektrizitätswerke nebst Netzen ...  Warum? Weil die Ergebnisse der Privatisierung in der Gesamtbilanz für die Öffentliche Hand und/oder die Bürger oft teurer, schlechter, unsozialer waren als je erwartet und versprochen.                                                            Andreas Pecht




(Erstabdruck Woche 46/47 im November 2009)


Internationale BBC-Studie, Kritik an Kapitalismus, Analyse 
 
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