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2010-01-17 Schauspielkritik:

"Delirium": Shirin Khodadadian inszenierte in Mainz moderne Adaption eines Dostojewski-Romans


„Die Brüder Karamasow“ anno 2010
 
 
ape. Mainz. Selbst wenn er es nicht wüsste, würde der Zuseher bald spüren: Gegen allen äußeren Anschein verhandelt „Delirium“ einen klassischen Stoff. Große Gedanken über den Sinn des  Daseins und noch größere Zweifel hinsichtlich der Existenz Gottes werden verschränkt mit individueller Psychotragik  in einer an sich und dem Zeitgeist zerbrochenen Familie. Grundlage des von Enda Walsh und dem Londoner Theatre O entwickelten Stückes, das jetzt am Mainzer Staatstheater zur deutschsprachigen Erstaufführung kam, ist Dostojewksis Roman „Die Brüder Karamasow“ von 1880.

 
Um es gleich zu sagen: Das Stück und die Inszenierung von Shirin Khodadadian haben das Zeug zu einem gewichtigen Theaterabend. Sie erzählen den Roman nicht nach, sondern transefrieren Kernstücke von Geist und Handlung sprachlich wie ästhetisch in die Gegenwart. Die Konstruktion ist raffiniert, baut diverse Handlungsstränge, innere und dialogische Reflektionen sowie von Thomas Prazak als sprühende Soli gegebene Rückblenden zu einer fließenden, kammerspielartigen Szenenfolge zusammen. Und die enthält eine erstaunliche Menge Dostojewski'scher Essenz.

Um aber auch das gleich zu sagen: Khodadadian bemüht sich um einen sinnfälligen Wechselrhythmus zwischen desillusionierender Lebenstragik und wildwütigem Toben darüber respektive dagegen. Leider erschlägt dabei aber Letzteres die Intensität des sonstigen Spiels beinahe. Zwar hat es seine Logik, wenn der lasterhafter Lebenslust zugewandte Karamasow-Sohn Mitja (Gregor Trakis) ausrastet, weil sein zynisch-verderbter Vater Fjodor (Thomas Marx) die begehrte Gruschenka (Pascale Pfeuti) für sich beansprucht. Wie es seine Logik hat, dass Mitjas Bruder Aljoscha (Felix Mühlen) irgendwann die fromme Selbstbeherrschung verlieren muss angesichts der Vergeblichkeit, mit der er seinen Anverwandten Nächstenliebe und Gottgefallen predigt.

Erst recht verständlich ist die verzweifelte Wut des dritten Karamasow-Sohnes Iwan (Florian Hänsel): Einerseits über die bis zur Selbstaufgabe reichende, obwohl vergebliche Liebe der braven Katerina (Tatjana Kästel) zum Tunichtgut Mitja. Andererseits über die Entsetzlichkeiten, die ein angeblicher Gott der Krone seiner Schöpfung erlaubt, zu begehen –  im 21. Jahrhundert noch immer,  sogar hierzulande an unschuldigen Kindern. Begreiflicher Zorn also allenthalben. Warum der jedoch bei Khodadadian – wie bei manchem ihrer Kollegen andernorts auch – wieder und wieder in bis zur Lachhaftigkeit überspannte Geschrei-Orgien gegossen werden muss, bleibt ein Rätsel.

Diese Momente sind die schlechtesten in der ansonsten wunderbar differenziert hohen Philosophier-Ton, beiläufige Alltagssprache, schmutzige Gehässigkeit oder selbstzynisch verbrämtes Leid verwebenden Ensembleleistung. Die Schreierei weggedacht, sind das bewegende zweidreiviertel Theaterstunden. Denen gibt die eigenwillige Raumkonstellation von Ausstatterin Carolin Mittler zwar einen zusätzlichen, aber nicht wirklich notwendigen  Kick: Das Publikum sitzt auf der Bühne, einer verwahrlosten Wohnkatakombe ganz nahe, die sich nach hinten zum jetzt leeren Zuschauerraum des kleinen Mainzer Hauses öffnet. Dort geht in zweiten Teil der Inszenierung eine hoffnungslos Lebenslust mimende Party mit tragisch-tödlichem Showdown ab.  Formen und Töne sind heutig, der Geist ist Dostojewski – doch der erweist sich an diesem Abend als sehr gegenwärtig.                                                              Andreas Pecht

Info:  www.staatstheater-mainz.com   


(Erstabdruck am 19. Januar 2010)


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