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2010-03-22 Vortrag:

Einführung zum Orchesterkonzert im Görreshaus Koblenz am 21. März 2010 (unkorrigiertes Redemanuskript, gesprochenes Wort leicht abweichend).

Erste Konzerthälfte mit Werken u.a. von Bartok, Kodaly, Chiriac, Weiner. Ausführende Rheinische Philharmonie und Mitglieder der Rokyta Cimbalom Band. Zweite Hälfte Volksmusik Osteuropas mit Rokyta Cimbalom Band allein.


Ein Nachmittag mit Volksklängen aus Osteuropa
 
 
ape.  Meine sehr geehrten Damen und Herrn, liebe Musikfreunde,
seien Sie herzlich willkommen zum 3. Orchesterkonzert im Görreshaus in der Saison 2009/2010.
 
Das heutige Konzert fällt in mehrfacher Hinsicht etwas aus dem Rahmen. Erstens bekommen wir es mit einer ganzen Menge Volksmusik zu tun. Und zwar sowohl in ihrer ursprünglichen Form, wie auch in Verarbeitungen volkstümlicher Musikelemente in klassischer Kunstmusik.
 
Zweitens handelt es sich dabei überwiegend um Musik aus osteuropäischen Kulturräumen. Vor allem aus Ungarn, Moldawien und Rumänien respektive Siebenbürgen, auch genannt Transsilvanien (Sie wissen: die Heimat des schrecklichen Graf  Dracula). Und weil das so ist, muss ich auch gleich vorweg um Nachsicht bitten für etliche  mit Sicherheit falsch ausgesprochene rumänische, erst recht ungarische Namen, Titel, Bezeichnungen im Laufe dieses Vortrags. 

Drittens begegnen wir nachher zwei Instrumenten, die im klassischen Konzertumfeld zumindest hierzulande eher selten anzutreffen sind: die Panflöte und das Zymbal.

Schließlich Viertens: Das heutige Konzert wird nicht nur von EINEM  Klangkörper bestritten, sondern von zweien. Zur Rheinischen Philharmonie gesellt sich die Rokyta Cimbalom Band. Das sechsköpfige Ensemble übernimmt den zweiten Teil des Konzerts dann alleine, wird dabei auch selbst moderieren. Weshalb meine Einführung darauf verzichtet, die speziellen Instrumente Panflöte und Zymbal oder die von der Rokyta-Band gespielten Titel näher vorzustellen. Was Panflöte und Zymbal angeht, finden Sie auch schon im Programmheft einige sehr schöne Ausführungen zur Instrumentenkunde.
 
Ich benutzte eben bei der regionalen Zuordnung des heutigen Programms bewusst den Plural: Osteuropäische KulturRÄUME. Denn es ist eines der großen Missverständnisse westlicher Wahrnehmung, die Länder, Völker, Kulturen Osteuropas in einen großen Topf zu verrühren.

Neulich erst musste ich mich bei einer Vortragsveranstaltung völlig zur Recht belehren lassen, ich hätte Tschechen, Slowaken, Rumänen, Polen, Kroaten und Ungarn etwas leichtfertig unter dem Sammelbegriff Slawen vereint. Ungarn beispielsweise, so der kritische Einwand, gehöre im Unterschied zu vielen Nachbarregionen ethnisch nicht zum slawischen Sprach- und Kulturkreis, sondern zum finnisch-ugrischen. D.h. Die Ungarn stehen ethnologisch und sprachhistorisch den Finnen, Samen oder Esten näher als ihren rumänischen oder serbo-kroatischen Nachbarn.

Ich will das jetzt nicht im einzelnen für alle im heutigen Konzert vertretenen Osteuropa-Kulturen aufdröseln. Wir müssten dann nämlich die  ganze Geschichte europäischer Völkerwanderungen, Besiedlungen und Reichsbildungen mindesten zurück bis zur großen Kelten-Expansion des vorchristlichen Jahrtausends auseinanderpflücken. Um am Ende   festzustellen: Die europäischen Völkerschaften sind allesamt vielfach blutsverwandt miteinander. Was sie allerdings nicht daran hinderte, in diversen Siedlungsgebieten je eigenständige Kulturen auszubilden – die sich allerdings auch wechselseitig mannigfach beeinflusst haben.

Jedenfalls ist der Begriff „osteuropäische Kultur oder Musik“ eine eher irreführende Verallgemeinerung. Wir hatten im vergangenen Jahr hier ein Konzert, bei dem schon einmal der Widerspruch zwischen vereinfachend pauschalisierendem Sprachgebrauch und tatsächlicher kultureller, auch musikalischer Vielfalt eine Rolle spielte. Einige von Ihnen erinnern sich vielleicht an jenen Nachmittag im Mai 2009 unter dem Titel „Die Balalaika ist die Seele des russischen Volkes“. Damals hatte ich darauf hingewiesen, dass das, was wir Russland nennen, eine von rund 100 teils sehr unterschiedlichen Völkern und Kulturen belebte Weltregion ist. Und dass das, was wir leichthin russische Volkskultur nennen, nur einen kleinen Ausschnitt davon repräsentiert. Mit Osteuropa ist es ganz ähnlich.
    
Ein für unser heutiges Konzert recht interessantes Phänomen ist die Art und Weise, wie Elemente diverser osteuropäischer Volksmusiken vor allem im 19. Jahrhundert Eingang auch in die westliche Klassik fanden. Sie erinnern gewiss Franz Liszts „Ungarische Rhapsodien“ und seine furiosen Czardas-Stücke für Klavier. Oder denken Sie an die berühmten Ungarischen Tänze von Johannes Brahms. Was darin an folkloristischen Färbungen auftaucht, wird allgemein als Übernahme und Verarbeitung  authentischer ungarischer Volksmusik verstanden. So explizit nicht richtig, sagen mittlerweile (nein, schon seit längerem) Ethnologen und Musikhistoriker. Liszt und Brahms griffen überwiegend keine originäre ungarische Volksmusik für ihre Werke auf, auch wenn sie selbst das wahrscheinlich glaubten. Vielmehr waren sie beeinflusst von der Musik, die Wandermusikanten der Sinti und Roma auf den Plätzen und in den Kaffeehäusern der großen europäischen Städte zum besten gaben.

Der ungarische Stil von Liszt und Brahms beruht also auf der Vermittlung durch, pardon, Zigeunermusik. Und mit der verhält es sich folgendermaßen: Die nichtsesshaften Sinti und Roma sammelten am Rande ihrer Zugwege durch die Länder Osteuropas bei den dort sesshaften Kulturen so allerhand Musikelemente ein, vermischten sie nach Gusto miteinander sowie mit ihren eigenen musikalischen Mitteln, Techniken, Ausdrucksformen, Bedürfnissen. Ergebnis: Eine dem Wesen nach multikulturelle Musik, allerdings mit einer ureigenen Grundtönung – dem Musizierstil der Sinti und Roma. Liszt und Brahms (sowie etliche andere) benutzten demnach keine originäre ungarische Volksmusik für ihre ungarischen Kompositionen, sondern Verarbeitungen ungarischer Musik durch das fahrende Volk zur folkloristischen Färbung ihrer Werke.  

Dieser in der Literatur immer wieder auftauchende Befund stützt sich im wesentlichen auf die Studien und Forschungen von Zoltan Kodaly und insbesondere von Bela Bartok. Beide Herren waren Ungarn: Kodaly 1882 geboren, in einem unaussprechlichen Örtchen unweit von Budapest, also im ungarischen Kernland; Bartok 1881 in einem ebenfalls unaussprechlichen Ort im Banat, also im Grenzgebiet zu Rumänien und Serbien. Beide Herren sind als Komponisten mit eigenen Werken im heutigen Konzert vertreten. Beide galten und gelten aber auch als herausragende Forscher zum Thema authentischer Volksmusiken in Ungarn, im gesamten Osteuropa und darüber hinaus. Von Bartok spricht man als dem Begründer der modernen vergleichenden Musikethnologie.

Bevor wir nun Bartok, Kodaly und den übrigen heute im ersten Konzertteil vertretenen Komponisten etwas näher rücken, noch einmal zum  ungarischen Stil von Liszt und Brahms. Der Witz an der Sache ist: Was bei diesen beiden als ungarischer Stil angesehen wird, verbreitete sich rasend schnell in der westlichen Musikwelt und prägt dort bis in unsere Zeit das kollektive Bild von ungarischer Volksmusik. Mehr noch: Es gab einen Rückkopplungseffekt auf die ungarische Kultur selbst. Gerade in den höheren Gesellschaftskreisen Ungarns verbreitete sich, von den Wiener und Budapester Konzertsälen und Salons ausgehend,  die Ungarnmusik von Johannes Brahms und Franz Liszt als Hochmusik-Ausgabe vermeintlich originärer ungarischer Volksmusik.

Man könnte daraus die etwas die überspitzte These von einem hübschen Purzelbaum ableiten, den die Kulturgeschichte da schlägt: Der deutsch-hanseatische Romantiker Brahms verhilft unwissentlich der Musik der  Sinti und Roma dazu, eine zentrale Leitfarbe ungarischer Nationalmusik zu werden.

Bei Liszt wird die Wucht des Rückkopplungseffektes noch durch den Umstand verstärkt, dass er in Ungarn gebürtig ist. Franz Liszt kam 1811 in Raiding zur Welt, das damals innerhalb der Donaumonarchie zum Königreich Ungarn gehörte. Raiding liegt im Burgenland und ist heute Bestandteil der Republik Österreich. Zwar wurde im Elternhaus von Franz Liszts deutsch gesprochen und gelebt, zwar hatte der berühmte Klaviervirtuose und Komponist die meiste Zeit seines Lebens mit Ungarn ziemlich wenig zu schaffen. Er lebte in Paris, Genf, Weimar, Rom, sprach vorwiegend Französisch und nannte Frankreich sein Vaterland. Erst in späten Jahren begann er sich stärker für Ungarn zu interessieren, versuchte ab 1870, also mit 59 Jahren, sogar ein wenig Ungarisch zu lernen. Die Ungarn vereinnahmten und verehrten ihn dennoch als einen der Ihren, und nahmen seine Musik als eigenes kulturelles Erbe an.

Meine Damen und Herrn,
Sie hören gleich in der ersten Konzerthälfte Werke von sieben Komponisten. Ja, dieses Konzert ist etwas kleinteilig. Was in der Natur der Sache liegt, wenn man es mit Stücken auf der Basis von Volksmusik zu tun hat. Volkslieder, erst recht Volkstänze nehmen nun mal höchst selten die Ausmaße sinfonischer Großwerke an. Stellen sie sich nur einen Czardas oder eine Polka von 30 Minuten Länge vor: Es möcht einen womöglich beim Marathon-Tanzen der Schlag treffen.

Sieben Komponisten also, bis auf einen allesamt im späten 19. Jahrhundert geboren und im Laufe des 20. gestorben. Über die Ursachen für die geradezu manische Hinwendung so vieler Komponisten des 19. Jahrhunderts zu regionaler Volksmusik und ihrer Suche nach spezifischen Nationalmusiken hatte ich hier schon einmal gesprochen. Wie Bartok und Kodaly für Ungarn und Nachbarn, so bemühten sich zeitgleich beispielsweise Rimski-Korsakow, Borodin und Mussorgski um eine typisch russische Musik, Dvorak um  eine böhmische, Sibelius um eine finnische oder Edvard Grieg um eine norwegische.  Allesamt waren sie deshalb als Musiker auch Forscher in Sachen Volkskultur ihrer jeweiligen Heimat, sammelten mehr oder minder systematisch Lieder, Tänze, Mythen und Sagen, die im einfachen Volk von Generation zu Generation überliefert wurden. Das 19. Jahrhundert ist das Geistes-Jahrhundert der Romantik mit ihrer ausgeprägten Neigung zu wilder Natur, Volksbrauchtum und Mysthik. Welthistorisch ist das 19. zugleich das Jahrhundert der Herausbildung von Nationalstaaten – und diese beiden Sachverhalte spiegeln sich in der Musikgeschichte deutlich wider.

Unsere sieben Komponisten heute sind alle Osteuropäer, bis auf einen.  Die Ausnahme ist Vittorio Monti , dessen berühmtestes Stück den ersten Konzertteil nachher beschließt: sein Csardas. Das Stück ist im populären Folklorerepertoire quasi zum musikalischen Archetyp für den gleichnamigen ungarischen Volkstanz geworden. Wieder so eine Ironie  der Musikgeschichte: Monti war nämlich Italiener (1868 in Neapel geboren, 1922 ebendort gestorben) und er hatte sich eigentlich der Musikkultur seiner italienischen Heimat verschrieben, insbesondere der Förderung des Mandolinenspiels. Und nun ist er ausgerechnet mit einem Czardas bekannt geworden.

Beginnen wird das Konzert gleich mit einer „Fantasie für Zymbal und kleines Orchester“ von Mircea Chiriac. Über diesen rumänischen Komponisten und Musikprofessor gaben leider auch meine nicht eben schlecht bestückten Bücherregale herzlich wenig her. Er lebte von 1919 bis 1994, ist in westlichen Fachkreisen eigentlich nur als Komponist von Film- und Theatermusik etwas bekannter. Seine Fantasie entstand in den 1960er-Jahren. Das Stück ist, habe ich mir sagen lassen, unter Zymbal-Spielern von Format sehr beliebt, weil es ordentlich Raum bietet, die Möglichkeiten dieses Instruments virtuos zu demonstrieren. Insofern stellt die Fantasie genau den richtigen Einstieg ins Konzert dar.

Der nächste Komponist in der Programmfolge ist Bela Bartok mit seinen „Sechs rumänischen Volkstänzen“. Diese kurze, kompakte Reihe von Tänzen spiegelt einerseits Bartoks Interesse für Volksmusik wider, demonstriert aber zugleich die für diesen Komponisten typische Arbeitsweise: Er greift das in der Volkskultur vorgefundene melodiöse, rhythmische, harmonische Material auf, benutzt und entwickelt es allerdings völlig neuartig.

Ein Wort noch zu Bartoks musikethnologischer Forschungsarbeit. Bartok war Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem in Budapest sehr schnell bekannt geworden als virtuoser Pianist. 1907 übernahm an der dortigen Musikakademie eine Professur für Klavier. Zur selben Zeit begann er sich zusammen mit seinem Landsmann Zoltan Kodaly für die Volksmusik seiner Heimat und ihrer Nachbarländer zu interessieren. Und das nicht bloß theoretisch. Bartok stieg mit Enthusiasmus in die Feldforschung ein:

Er unternahm in den Folge etliche ausgedehnte Reisen durch Ungarn, Rumänien, Siebenbürgen, die Slowakei und andere Länder bis weit hinunter in die Türkei. Man darf sich diese Reisen nicht als komfortable Städtetrips vorstellen. Unser Musikforscher machte häufig mühselige Abstecher in abgelegene Landstriche, um sich dort von Einheimischen alte Volkslieder vorsingen und Volkstänze vorführen zu lassen. Auf diese Weise kam er zu einer systematischen Sammlung von mehr als 10 000 Volksliedern. Die phonografierte er teils direkt vor Ort (= früher Vorläufer des Tonbandes:  mechanische Übertragung von aufgefangenen Tönen auf eine Wachswalze oder später Zelluloid-Messingwalze.). Und wo der Phonograf nicht zum Einsatz kommen konnte, übertrug Bartok, was er hörte direkt in Notenschrift.

Die Bartoksche Sammlung ist, soweit noch erhalten, ein kulturhistorischer Schatz von enormer Bedeutung. Denn originäre Lieder, Musikstile, Tänze verflüchtigen sich gerade im Laufe des späteren 20. Jahrhunderts ungeheuer schnell aus dem Brauchtum. Das ist ein Prozess, der in unserer globalisierten Gegenwart fortdauert. Dieser Prozess manifestiert sich beispielsweise sehr deutlich im Verschwinden alpenländischer Originalität aus Text und Ton angeblicher Volksmusik, wie sie etwa in pittoresken Schunkelsendungen des Fernsehens geboten wird.       
    
Bartok verstand seine Erforschung regionaler volksmusikalischer Wurzeln nicht nur als Beitrag zur Entwicklung authentischer Nationalmusik in Ungarn sowie in den benachbarten Nationen. Er sah darin zugleich einen  Beitrag zur Entwicklung der Kunstmusik in Richtung Moderne des 20. Jahrhunderts. Seine Kompositionen sind vielfach wunderbare Beispiele dafür, wie ernsthafte zeitgenössische Avantgarde immer wieder den Rückgriff auf das Älteste für die Erfindung des Allerneuesten nutzt.

Bartok sagt selbst über die Bedeutung seiner Volksmusikforschungen: „Das Studium all dieser Bauernmusik war deshalb von entscheidender Bedeutung für mich, weil sie mich auf die Möglichkeit einer vollständigen Emanzipation von der Alleinherrschaft des Dur-Moll-Systems brachte. Denn der weitaus überwiegende Teil des Volksmelodienschatzes ist in den alten Kirchentonarten respektive in altgriechischen oder noch primitiveren, namentlich pentatonischen, Tonarten gehalten und zeigt außerdem mannigfaltigste und freieste rhythmische Gebilde und Taktwechsel.“

Besagte alte Tonarten und Freirhythmen benutzt Bartok häufig in seinen Kompositionen. Was nicht selten mit dazu beiträgt, dass klassisch-romantisch geprägte Hörer sie bisweilen als atonal und modernistisch empfinden. Bei den „Sechs rumänischen Tänzen“, die wir gleich hören werden, drängt sich diese Modernität m.E. jedoch keineswegs prägnant in den Vordergrund. Vielmehr überwiegt der Eindruck volkstümlicher Rhythmik und Melodik. Manchmal muss man sogar recht aufmerksam hinhören, um  gewahr zu werden, auf welch interessante Weise Bartok das Ursprungsmaterial in Richtung seiner modernen Musikästhetik umgeformt hat.

Die Tänze wurden von ihm 1915 ursprünglich für Klavier konzipiert. Seither sind aber auch Bearbeitungen für Violine und Klavier sowie für Solovioline und Streichorchester entstanden. Uns bietet das heutige Konzert eine nochmals andere, von mir so noch nie gehörte Variante für Panflöte und Orchester. Und wir dürfen gespannt sein, welche Metamorphose die sechs Volkstänze durch dieses Instrument erfahren.

Bartoks Kollege Zoltan Kodaly verfolgt einen etwas anderen Ansatz. Er ist  der vielleicht traditionellere der beiden, auf jeden Fall der weichere und gefälligere. Er greift volkstümliche Elemente vielfach für die Verarbeitung in eher konventioneller Kunstmusik auf. Insofern könnte man Kodaly als den eigentlichen ungarischen Nationalklassiker bezeichnen und Bartok die Rolle des führenden ungarischen Avantgardisten zuschreiben. Dennoch ist Bartok zweifelsfrei der bedeutendere der beiden Freunde.

Kodaly ist heute mit dem langsamen, sentimentalischen  dritten Satz seiner „Hary Janos Suite“ vertreten.  Dieser Hary Janos ist eine Romanfigur, ein Handwerker, der zum ungarischen Volkshelden avancierte. Eine Mischung zwischen Schwejk und Münchhausen; ein Typ, der Napoleons Ehefrau auf amouröse Abwege geführt und höchstselbst den Niedergang des großen Feldherrn bewerkstelligt haben will. Aus dieser Humoreske hat Kodaly zuerst ein 1926 in Budapest uraufgeführtes Singspiel gemacht, hernach eine Orchestersuite. Beide wurden ein Renner beim ungarischen Publikum.

Es fehlt mir die Zeit, auf alle sieben Komponisten des ersten Konzertteils ausführlich einzugehen. Deshalb nur eine kurze Bemerkung zu Grigoras Dinicu (1889- 1948). Sein nachher zu hörendes Stück „Hora Staccato“ ist das im Westen am meisten bekannteste Werk des rumänischen Geigers und Komponisten. Der Titel verrät: Da geht die Post ab. Die Hora ist ein von Osteuropa bis in den Nahen Osten verbreiteter Rundtanz, der seine Wurzeln wohl auf dem Balkan hat. Von Dinicu ursprünglich 1906 für Geige und Klavier geschrieben, bietet unser Konzert gleich ein Arrangement für Panflöte, Blockflöte und Orchester. Eingerichtet hat das Jan Rokyta Senior, der Nestor der Rokyta Cimbalom Band.
   
Lassen Sie mich abschließend noch kurz auf Leo Weiner kommen, dessen Divertimento Nr.1 opus 20 teil des heutigen Osteuropa-Programms ist.  In den einschlägigen deutschen Musik- und Komponistenlexika kommt er gar nicht oder nur in Fußnoten vor, die ihn als Spätromantiker klassifizieren.  In der musikpädagogischen Literatur allerdings ist der 1885 in Budapest geborene und 1960 dort auch gestorbene Weiner durchaus eine Hausnummer – weniger als Komponist und Musiker denn als bedeutender praktischer wie theoretischer Musikdidaktiker. Ab 1908 lehrte er als Professor für Komposition und Kammermusik an der Franz-Liszt-Musikhochschule in Budapest und verfasste einige bemerkenswerte Schriften zur Musikdidaktik.

Unter seinen Schülern waren etliche spätere Berühmtheiten. Etwa der Pianist Geza Anda, der Komponist György Kurtag oder der Ihnen wahrscheinlich allen bekannte Dirigent Sir George Solti. Aber Weiner war natürlich nicht nur Lehrer und Didaktiker, sondern eben auch mit Leib und Seele Komponist – und zwar ein recht produktiver. In den 1920er-Jahren war er vor allem in den USA mit seiner Kammermusik sogar ziemlich gefragt. Was vermutlich auf Weiners romantische Orientierung zurückzuführen ist. Einflüsse von Schumann, Brahms, Bizet sind in vielen seiner Kompositionen unüberhörbar. Etwa ab 1930 versuchte Weiner zusehends, romantische Harmonik und klassische Satzformen mit ungarischer Folkloristik zu verbinden. Das verschaffte ihm daheim eine Menge Aufmerksamkeit, war aber zugleich vielleicht Grund dafür, dass das Interesse der Amerikaner an ihm erlahmte.

Sein Divertimento im heutigen Konzert stammt von 1934 und ist programmatisch durchgängig von ungarischem Kolorit gefärbt, weil auf alte ungarische Tänze zurückgreifend.

Damit, meine Damen und Herrn, bin ich mit meinen Gedanken zum ersten Teil des Konzerts am Ende. Die Erläuterungen zum zweiten Teil bleiben, wie Eingangs gesagt, der nachherigen Moderation durch die Rokyta Cimbalom Band selbst vorbehalten. Ich wünsche nun viel Vergnügen in einem Konzert, bei dem wir zum Schluss nicht wirklich werden wissen können: Was stammt noch vom originären Volksbrauchtum aus den osteuropäischen Kulturräumen? Oder was ist bereits eine Folgewirkung jener mannigfachen Rückkopplung-Einflüsse, die die romantische Folkloristik etwa eines Franz Liszt oder Johannes Brahms auf die osteuropäische Musikkultur ausübten?

Danke für Ihre Aufmerksameit und nun ein schönes Konzert.       
                                                                                       Andreas Pecht





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