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2010-08-03 Essay:

Das 21. Jahrhundert unterwegs, sich mit Hilfe der Biowissenschaften den „neuen Menschen“ zu basteln

 

Die optimierte Menschmaschine
 
 
ape. Bad Ems.  „Von der Leistungssteigerung zum Biodesign“. Der Titel eines Vortrages im Rahmen der interessanten Veranstaltungsreihe "Mensch - Maschine" auf Schloss Balmoral in Bad Ems löst Unbehagen aus. Er passt zur Sorge um die neue Volkskrankheit Burn-out und den inflationären Gebrauch stärkender Pillen selbst bei Kindern. Sollte die Moderne nun auf breiter Front gar ins Spiel mit dem Umbau der menschlichen Natur einsteigen?


Philosophieprofessorin Petra Gehring von der TU Darmstadt will ohne persönliche Wertung über jüngste Tendenzen der Biowissenschaften und deren Folgen referieren. Doch ihr zentraler Befund lässt sich kaum mit kühler Neutralität diskutieren: Neue Erkenntnisse und Technologien etwa in Hirnforschung, Genetik, Medizin würden ein Zeitalter kreativer Umgestaltung sogar der Biologie des Menschen einläuten. Künstliche Glieder, Hirn-Implantate, plastische Chirurgie, psychoaktive Pharmazeutika, Kloning: Die neuen Möglichkeiten zum Biodesign ließen den bisherigen Gedanken an bloße Leistungssteigerung hinter sich.

Widerspruch von einem Arzt im kleinen Auditorium: Er will unterschieden wissen zwischen therapeutischen Innovationen zugunsten Kranker und mutwilligem Umbau von Gesunden. Widerspruch auch von anderer Seite: Es gehe nach wie vor hauptsächlich um Leistungssteigerung respektive um Mittel gegen Überforderung. Während an der Lahn die Diskussion wogt, wandern die Gedanken hinaus in eine Welt, von der schon die Statistik sagt, dass etwas nicht mit ihr stimmt.

In den letzten 20 Jahren hat sich die Zahl der psychischen Erkrankungen in Deutschland verdoppelt. Seit 1993 ist der Anteil von Seelenkrankheiten an den Ursachen für Frühverrentung von 15 auf 38 Prozent gestiegen. Die Deutschen ein Volk von Jammerlappen? Mitnichten. In den meisten Industrienstaaten gibt es ähnliche Tendenzen, Schwellenländer wie China und Brasilien inklusive. Allenthalben geht das Burn-out-Syndrom um, befällt in sprunghaft steigendem Maß nicht zuletzt den Mittel- und Oberbau der Arbeitsbevölkerung.

Erinnerungen an Charly Chaplins Film „Modern Times“ steigen auf. Kleiner Mann werkelt am Fließband. Das wird schneller und schneller, mit ihr der Mann – bis er nicht mehr mithalten kann. Da frisst ihn die Maschine und spuckt ihn als durchgeknalltes Nervenbündel wieder aus. Die Filmparabel war auf den Kapitalismus des frühen 20. Jahrhunderts gemünzt, galt in dessen zweiter Hälfte als überholt. Doch heute wirkt der Streifen seinem Sinn nach wieder gar nicht mehr so gestrig.

Die Maschinerie ist noch effektiver geworden; erweitert um Computer, Handys, weltweite Vernetzung und Arbeitsteilung, permanente Verfügbarkeit, Multitasking... Aber die Anzeichen mehren sich, dass das Drängen nach schneller, größer, schöner, vielfältiger, rentabler, billiger nun an die Leistungsgrenzen des heutigen Menschenschlages stößt. Was macht der Reiter, wenn das Pferd vom strengen Galopp schäumt und hechelt? Er wechselt in eine langsamere Gangart.

Kommt die Gegenwart auf die gleiche Idee, wenn Menschen die Puste ausgeht, sie einknicken, ausbrennen? Ein absurder Gedanke. Das Rad der „Wettbewerbsfähigkeit“ rast weiter, verordnet den Gestressten Stärkungsmittel, Effektivitätstraining, Therapie – oder baut sich einen neuen Menschentypen. Ganze Branchen kümmern sich inzwischen um die mentale und körperliche  Anpassung von Zeitgenossen, die um Belastbarkeit und Marktwert fürchten.

Gerade wächst ein neuer Menschenschlag heran: Im Kindergarten geprägt von lernzielsystematischer Spielpädagogik, in marktorientiert straffen Schullaufbahnen und Studiengängen mehr ausgebildet als gebildet. Stress, Überforderung, Versagen? Dagegen gibt’s Mittelchen, Spezialnahrung, Trainingsmethoden. Geht nicht, gibt’s nicht; „Schwäche“ wird gestrichen. Die Optimierung beginnt im Säuglingsalter, damit der Sprössling nachher fit ist für den beruflichen, sozialen und sexuellen Wettbewerb.

Ist das noch herkömmliche Leistungssteigerung? Oder ist das schon „kreatives“ Biodesign, selbst wenn Cyborgs, Klone und Mutanten noch nicht zur Regel gehören. Man kann sich in Bad Ems zumindest darauf einigen, dass die Übergänge fließend sind. Zumal in einem Zeitalter, dem der Gedanke fremd geworden ist, dass sich wirtschaftliche und gesellschaftliche Anforderungen vielleicht der Menschennatur anpassen müssten, statt allweil umgekehrt. Das Verlangen nach einem „neuen Menschen“ galt einst als Sündenfall des Kommunismus. Was unterscheidet die moderne Optimierung der überlasteten Menschmaschine noch davon?                                                                       Andreas Pecht

(Erstabdruck Woche 31 im August 2010)

Weiter Vorträge in der Reihe „Mensch – Maschine“ im Künstlerhaus Schloss Balmoral Bad Ems am 24.9. und 5.10. 2010
Info: www.balmoral.de 

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