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2010-10-05 Analyse:

Zur Auseinandersetzung um Stuttgart 21 - Auch ein Blick vom Mittelrhein nach Schwaben

 

Das Mammutprojekt wäre ein Schritt in die falsche Richtung

 
ape. Der Milliarden teure Abriss des alten und Bau eines neuen Bahnhofes treibt in Stuttgart Zehntausende Schwaben wieder und wieder gegen die eigene Regierung auf die Straße. Sind die  dortigen Bürger fortschrittsfeindlich oder richtet sich ihr Protest vielleicht gegen einen „falschen Fortschritt“?

 
Um das gleich zu sagen: Der Autor ist ein großer Freund der Eisenbahn. Weil sie vergleichweise umweltfreundlich ist. Und weil nach allen Prognosen zur Entwicklung des Verkehrsaufkommens  die Zukunft der Güter- und Personenmobilität wesentlich auf der Schiene liegt, nicht auf der Straße. Aus eben diesem Grund hält er nach Sichtung der allgemein zugänglichen Informationen das Projekt „Stuttgart 21“ (S21) eher für wenig sinnvoll.

Man lasse für einen Augenblick die spezifisch Stuttgarter Befindlichkeiten mal beseite. Aus der Ferne betrachtet  – und nicht zuletzt auch vom Mittelrheintal aus – geht das Vorhaben in seiner geplanten Form an den primären Erfordernissen eines zukunftsfähigen Eisenbahnverkehrs in Deutschland vorbei. Dies vor allem aus zwei Gründen.

Das übrige Land guckt in die Röhre

Erstens: S21 konzentriert bereits mit seinen offiziell auf rund 7 Milliarden Euro veranschlagten Gesamtkosten ein gewaltiges Finanzvolumen auf ein einziges Bahnbau-Projekt, den neuen Stuttgarter Unterbodenbahnhof nebst Neubaustrecke Stuttgart-Ulm. Die Erfahrung mit allen Großbauten lehrt, dass es bei dieser Summe keineswegs bleiben wird. Für den vorliegenden Fall haben Gutachter bereits erwartbare Kostensteigerungen auf mindestens 12, womöglich bis 20 Milliarden Euro errechnet. Jede Milliarde, die da mehr ausgegeben wird, geht zwangsweise zulasten anderer bahnlicher Baumaßnahmen.

Um es pointiert auszudrücken: Je teurer S21, umso geringer die Chance für das Rheintal, durch einen neuen Schienenstrang auf den Höhen von der Drangsal des Bahnlärms entlastet zu werden. Umso geringer  die Chance für die norddeutschen Seehäfen auf zügigeren Güterabfluss per Bahn. Umso geringer auch die Chance auf Einrichtung effektiver moderner Verkehrsverbünde auf regionaler Ebene. Es wird auf viele Jahre hinaus einfach das Geld dafür fehlen.

Primat des schnellen Personentransports

Zweiter Grund, warum S21 am tatsächlichen Eisenbahnbedarf vorbeigeht: Weder der neue Bahnhof  noch die Neubaustrecke Stuttgart-Ulm trägt irgendetwas dazu bei, die Effizienz des Gütertransports im deutschen Schienennetz zu erhöhen. Die Bahn wiederholt in Schwaben den Fehler, den sie schon bei der neuen Trasse Köln-Montabaur-Frankfurt machte: Sie baut ausschließlich für den ICE-Personenverkehr. Keine Ausweichen für Überholvorgänge, die Kurven zu eng, die Steigungen zu steil für Güterzüge.

Einmal mehr interessiert die Bahn vornehmlich die Beschleunigung des Personentransports auf den Fernstrecken. Das mag zwar für den angestrebten Börsengang des Unternehmens mehr Pluspunkte bringen als ein weit verzweigtes Schienennetz in der Fläche. Im Hinblick auf die deutsche Verkehrsinfrastruktur ist es allerdings eine fatale Sackgasse. Denn das Gütertransport-Aufkommen soll sich in den kommenden 10 bis 15 Jahren noch einmal nahezu verdoppeln. Und wenn von diesen Gütern wieder der größte Teil auf der Straße landet, dürfte sich dort alsbald nicht mehr viel bewegen.

Volkes Meinung interessiert nicht

Man sieht, Skepsis gegenüber S21 kann nicht von vornherein als Fortschrittsfeindlichkeit abgetan werden. Vielmehr stellt sich die Frage: Ist dieses Mammutprojekt vielleicht ein Fortschritt in die falsche Richtung, und das auch noch für ungeheuer viel Geld? Es gibt in Stuttgart einen kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen Befürwortern und Gegnern: Die Kapazitäten des alten Kopfbahnhofs reichen nicht mehr aus, müssen erhöht werden. Dies zu erreichen, gäbe es billigere oberirdische Alternativen. Deren ernsthafter Prüfung haben sich die S21-Betreiber aber stets verschlossen. Geprüft wurden nur diverse Ausführungsvarianten der Grundidee vom unterirdischen Durchgangsbahnhof.

Statt mit öffentlicher Erörterung von Alternativen und ernst gemeinter Bürgerbeteiligung am Entscheidungsverfahren ging S21 mit allerhand Versprechungen und Hochglanzprojektionen über seine angeblich positiven wirtschaftlichen Wirkungen für Stuttgart und Umgebung in die Beschlussfassung der Gremien und jetzt an den Baustart. Eine große Projektkoalition aus baden-württembergischer Landesregierung, Stuttgarter Stadtführung, Deutscher Bahn und bis vor kurzem auch noch Landes-SPD wollten das Projekt um jeden Preis. Was die Bürger davon  hielten, interessierte nicht. Und genau das war der ganz große Geburtsfehler des Projektes.

Fadenscheinige Wohltats-Versprechen

Nun fühlen sich nach Umfragen fast zwei Drittel der Stuttgarter – und eine Mehrheit der Baden-Württemberger – von der Politik überfahren oder gar hinters Licht geführt mit einem Bauprojekt, das das Zentrum ihrer Stadt  grundlegend verändern würde. Den damit verbundenen angeblichen Wohltaten fürs schwäbische Gemeinwohl misstrauen sie immer mehr: Denn kaum eine der Versprechungen der S21-Betreiber scheint genauerer Prüfung standhalten zu können.

„Wesentliche Fahrzeitverkürzung“ reduziert sich auf bloß noch ein paar Minuten. Fließender Verbund der Fernzüge mit regionalem Nahverkehr im neuen Bahnhof: jede Menge ungelöster Probleme in Technik und Logistik. Schnelleres Umsteigen im unterirdischen Tiefbahnhof: Es wird ein wildes Gedränge geben auf den um die Hälfte verminderten Bahnsteigen. Neuer urbaner Lebensraum auf dem frei werdenden oberirdischen Gleisgelände: Wer wird sich bei einem Quadratmeterpreis von 4000 Euro dort wohl tummeln? Signifikant erhöhtes Fahrgastaufkommen: Spekulation. 10 000 neue Arbeitsplätze: Wunschtraum. Denkmalschutz, Umweltschutz, geologische Instabilität im Untergrund: abgetan. … Schließlich die von der Allgemeinheit zu tragenden Kosten: hochexplosiv.

Der Protest ist völlig legitim 

Da wird ein Stück vertraute Heimat für einen unsinnigen und überteuerten gigantomanischen Politik- und Wirtschaftstraum drangegeben, für einen falschen Fortschritt. So sieht es inzwischen eine Mehrheit der Schwaben. Weshalb es wieder und wieder Zehntausende von ihnen, nicht zuletzt   aus der bürgerlichen Mitte der Gesellschaft, auf die Stuttgarter Straßen treibt. Neben den Gründen zur Sache ist es die arrogante Haltung der S21-Betreiber selbst, die den Protest anheizt. Schwaben sind von Hause nicht eben protestierwütig. Aber wenn sie von der eigenen Landesregierung als  gewalttätig, dummköpfig, fortschrittsfeindlich, undemokratisch denunziert und gar polizeilich verprügelt werden, dann macht sich zorniger Trotz breit.

Mit dieser Gemengelage haben es Landesregierung und Bahn jetzt zu tun. Angesichts von Breite wie Ausdauer des Protestes schlagen sie nun sachtere Töne an. Doch Gesprächsangebote bei gleichzeitigem Voranpeitschen der Baumaßnahmen können von den S21-Gegnern nur als Hohn verstanden werden. Ernst gemeinter Dialog setzt zumindest zeitweisen (echten) Baustopp voraus. Die Betreiber von Stuttgart 21 können das mit dem Verweis auf einen von gewählten Gremien legitim herbeigeführten Baubeschluss ablehnen. Ob sie solch formale Sturheit auch politisch durchhalten können, steht dahin. Für diesen Fall unter anderem hält die Verfassung das Demonstrationsrecht bereit: Damit Bürger widersprechen, wenn Regierungen zwischen den Wahlterminen oder in einer Einzelfrage anders entscheiden als von Teilen oder der Mehrheit des Volkes gewollt.   Andreas Pecht


(Erstabdruck 40. Woche im Oktober 2010)


Zur Frage des "falschen Fortschritts" siehe auch diese  beiden Texte:

2010-09-04 Leserbrief:
Stuttgart 21, Nürburgring, Loreley-Brücke, Hochmoselübergang - Was spricht eigentlich dagegen?


2010-09-05 Antwortbrief:
Einfallslose Fixierung auf die  Gigantomanie des falschen "Fortschritts"


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Wer oder was ist www.pecht.info?
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Stuttgart 21, Fernwirkung, falsche Prioritäten, Proteste, Analyse

 
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