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2010-10-05a Interview:

Gespräch mit Dirigent Daniel Raiskin und Intendant Frank Lefers über Orchesterarbeit in einer sich wandelnden Gesellschaft


Rheinische Philharmonie und Jugend


ape. Kinder- und Jugendarbeit nimmt im Tätigkeitsspektrum der Rheinischen Philharmonie seit Jahren eine wichtige Stellung ein. Konzerte für Kinder, Besuche von Schulklassen bei Orchesterproben, Unterrichtsstunden von Orchestermusikern in den Schulen –  das sind bewährte Säulen im Programm.  Aber die moderne Gesellschaft verändert sich in rasantem Tempo. Weshalb Daniel Raiskin und Frank Lefers meinen: Wir müssen mehr tun und auch neue Wege beschreiten.  



Frage:
Herr Lefers, Herr Raiskin, sie haben eine gute Nachricht: Die Kinder- und Jugendarbeit der Rheinischen Philharmonie wird personell verstärkt?

Lefers: Das ist unser Wunsch, aber es ist noch nicht entschieden. Die Orchesterstiftung hat   angekündigt, in ihrer nächsten Sitzung darüber zu befinden, ob man das unterstützen kann oder will. (Anmerkung der Redaktion: Diese Sitzung findet erst nach Drucklegung des Magazins statt.) Wenn ja, werden wir eine musikpädagogische Fachkraft in Teilzeit auf 400-Euro-Basis suchen. Wenn nicht, müssten wir eine andere Lösung finden. Denn ich halte es heute für unverzichtbar, jemanden im Haus zu haben, der sich ganz auf diese Arbeit konzentriert.

Raiskin: Grundsätzlich müssen wir zwei Faktoren anerkennen. Ersten, es genügt nicht, von Kinder- und Jugendarbeit zu reden, man muss es auch leidenschaftlich tun. Zweitens, die dünne Personaldecke erlaubt uns vieles nicht auf diesem ungemein wichtigen Gebiet. So wie ich damals gerufen habe, das Orchester brauche einen eigenen Intendanten, genauso meine ich, dass wir für  systematische Kinder- und Jugendarbeit einen Konzertpädagogen benötigen.

Frage: Was könnte eine solche Fachkraft nach ihrer Vorstellung bewerkstelligen?

Raiskin: Natürlich hoffe ich für Orchester und Verwaltung auf eine gewisse Entlastung. Denken sie  an das (e)motion-Tanzprojekt 2008:  Wie viele andere Aktivitäten im Kinder- und Jugendbereich konnte auch das nur funktionieren dank persönlichen Engagements weit über die normale Dienstzeit hinaus. Die wichtigste Aufgabe für diesen Mann oder diese Frau aber wäre, dass sie die im Raum stehenden neuen Ideen und die teils seit Jahren bewährten Säulen unserer Kinder- und Jugendarbeit zu einem effektiven wie attraktiven Gesamtkonzept verknüpft.

Frage: Die bisherigen Programme „Musikalisches Klassenzimmer“, Kinderkonzerte und die jetzt „rhein:tauchen“ (früher „mittendrin“) genannten Besuche von Schulklassen in Orchesterproben bleiben also erhalten?   

Lefers: Unbedingt! Weil sie sehr gut funktionieren. Man muss sich überlegen, ob und wie man diese Angebote ausbauen kann. Übrigens nicht nur für junge Menschen. Wir müssen auch auf die Alterung der Gesellschaft und auf den wachsenden Anteil von Mitbürgern mit Migrationshintergrund reagieren. Gerade unter Letzteren gibt es viele, die mit unserer Orchesterkultur noch gar nichts anfangen können. Die müssen wir erreichen, und wenn nicht begeistern, so doch wenigstens interessieren. Und nach meinen Erfahrungen bringt es da wenig, nur eben mal einige Werke von türkischen Komponisten zu spielen. Hier kommt der Arbeit mit Kindern eine zentrale Brückenfunktion zu, um auch die Hemmschwellen bei Eltern und Großeltern zu senken.

Raiskin: Mir schwebt zum Beispiel eine auf Dauerhaftigkeit angelegte Projektreihe vor, die zielgerichtet auf die Koblenzer Bedingungen und in Zusammenarbeit mit angesehenen lokalen Institutionen Schüler im Alter von 13 bis 15 Jahren anspricht. Da könnte etwa die Geschichte von „Romeo und Julia“ –  die ja im Grunde bis heute überall immer wieder passiert – von einem Prominenten auf heutige Weise erzählt werden. Dazu kommt von uns passende Musik. Diese Sache wird über das Schulamt als Unterrichtsprojekt in die Schulen eingebracht und mündet abschließend in eine große Aufführung in der Rhein-Mosel-Halle oder einer Aula ein.

Frage: Was sie da schildern, befindet sich aber noch im Stadium der Vorüberlegungen, wird zur nächsten Saison nicht spruchreif?

Raiskin: Erste Gespräche habe ich schon geführt, bin auch auf großes Interesse gestoßen. Aber ja, es muss da erst ein Plan erarbeitet werden. An eine kurzfristige Realisierung ist wohl kaum zu denken. Was aber zeitnah unbedingt in Angriff genommen werden sollte, ist eine Fortsetzung des (e)motion-Projektes.

Lefers: Daran arbeiten wir bereits. Es gibt schon erste Ideen für 2012, die aber noch systematisiert werden müssen. Wir möchten dann an den sehr erfolgreichen Erstdurchgang von 2008 anknüpfen, bei dem aus der Zusammenarbeit zwischen Rheinischer Philharmonie, ARGE und Handwerkskammer Koblenz ein von Jugendlichen erarbeiteter großer szenisch-tänzerischer Abend zur „Symphonie fantastique“ von Hector Berlioz entstand.

Frage: Welche Projekte gibt es in der jetzt beginnenden Spielzeit 2010/2011?

Lefers: Wir haben drei Kinderkonzerte. Eines mit Klezmer-Band. Dann eines mit kleinerer Besetzung, „Gullivers Reisen“,  bei dem wir erstmals auch mit dem Arp-Museum in Remagen kooperieren. Diese Art klein besetzter Konzerte möchten wir künftig im Norden von Rheinland-Pfalz ausbauen. Neben Remagen haben bereits Oberwesel und Bad Ems Interesse bekundet. Das dritte Kinderkonzert sind zwei Märchen. Dazu kommt eine CD-Produktion für Kinder in Zusammenarbeit mit dem Schott-Verlag. Wir spielen Sebastian Hernandez-Lavernys Vertonung des Kinderbuches „Der Elefantenpups. Ein tierischer Geheimplan“ ein und stellen das dann auch live bei der Bundesgartenschau vor.

Raiskin: Zu den Bemühungen, Jugendliche zu erreichen, gehört auch das Dezember-Konzert mit seinem amerikanischen Programm beim Koblenzer Musik-Institut. Da kreuzen sich bei  Dvoraks 9. Sinfonie Musik und stark assoziative, visuelle Eindrücke. Das ist eine andere, eine multimediale Art von  Musikrezeption. Außerdem tritt an diesem Abend neben die klassische Orchestermusik auch Bigband-Musik bis hin zur Gegenwart. Und: Mit diesem Konzert verbinden sich für etliche Koblenzer Schüler im Vorfeld Unterrichtsprojekte und ein Workshop-Tag, dessen Ergebnisse ein paar Tage später im Görreshaus vorgestellt werden.

Frage: Bisweilen taucht bei älteren Musikfreunden die Frage auf, ob die häufige Anwesenheit von Schülern bei Proben, generell das intensive Jugend-Engagement die eigentliche Arbeit des Orchesters nicht doch etwas störe.

Raiskin:  Aber nein, überhaupt nicht. Eher umgekehrt. Solche Besuche, ob von Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen motivieren das Orchester zusätzlich. Zum Beispiel hinsichtlich der Konzentration und Disziplin. Die Musiker sind sich ihrer Vorbildfunktion bewusster, wenn 30 Elf- oder Zwölfjährige dabeisitzen. Und sie erfahren, dass ihr Tun –  auch im Probenprozess, nicht nur im Ergebnis – als spannend empfunden und als richtig harte Arbeit betrachtet wird. Bei den Gästen löst sich das Vorurteil auf, Musiker sei gar kein echter Job, sondern bloß schöne, entspannte Beschäftigung.  

Lefers: Ich bin fest davon überzeugt, dass solche Begegnungen auch für die Entwicklung des Orchesters selbst eine Menge bringen. Denn jeder Musiker erlebt hier doch ein unmittelbares, sehr starkes Interesse an seiner Arbeit und erfährt eine ganz besondere Wertschätzung dafür. Sowas gibt einem enormen Auftrieb.

Frage: Wir erleben in der gesamten Orchesterlandschaft in den letzten Jahren einen massiven Ausbau der Kinder- und Jugendarbeit. Kann es sein, dass sich das Verständnis von der gesellschaftlichen Funktion klassischer Orchester in grundlegendem Wandel befindet? Wird das Orchester im 21. Jahrhundert mehr und mehr zur Bildungsinstitution?

Lefers: Man muss aufpassen, nicht nur noch diese Arbeit zu machen. Es war, ist und bleibt nun mal unsere Primäraufgabe, Konzerte zu geben. Aber der Ansatz ist da, und ich finde das gut. Wir hätten heute in Deutschland nicht diese Probleme mit jungem Publikumsnachwuchs, wären die Orchester schon vor 30 Jahren aktiv auf Kinder und Jugendliche zugegangen. Da herrschte Selbstzufriedenheit: läuft ja. Das hat sich in den letzten Jahren völlig geändert. Ich habe zuletzt in Bielefeld und inzwischen auch hier in Koblenz die Erfahrung gemacht, dass Musikfreunde und allgemeine Öffentlichkeit überaus positiv reagieren, wenn die Orchester über das traditionelle Konzertprogramm hinaus aktiv werden und spezielle Bevölkerungsteile speziell ansprechen.

Raiskin: Wir müssen auch sehen, dass sich die soziale und kulturelle Zusammensetzung der Gesellschaft in ganz Europa während der letzten 15, 20 Jahre sehr stark verändert hat. Was die Orchester jetzt tun, ist eigentlich nichts anderes, als darauf zu reagieren. Man muss sich vorstellen: Über Jahrzehnte war der Konzertbetrieb überwiegend auf eine bestimmte, etablierte Bevölkerungsgruppe ausgerichtet. Nun aber überaltert einerseits diese Schicht und leben andererseits plötzlich in den Städten 20, 30 oder mehr Prozent Bürger mit Migrationshintergrund. Wir müssen deshalb offensiv die Möglichkeit anbieten, unsere Kultur, in diesem Fall die klassische Musik, wenigstens kennenzulernen. Man kann nichts lieben, das man nicht kennt oder von dem man nichts weiß.

Frage: Meine Herrn, sie sind ja nun beide Väter. Im Hause Lefers kam im Frühjahr das zweite Kind zur Welt; die Raiskins haben ebenfalls zwei Kinder, eine Tochter von 7 und einen Sohn von 12 Jahren. Bekommen sie aus dem familiären Hintergrund Impulse für die Kinder- und Jugendarbeit im beruflichen Feld?

Lefers: Kann ich bei mir nicht sagen, dafür sind die Kinder noch zu klein. Aber mein zweieinhalbjähriger Sohn ist begeistert vom „Elefantenpups“, den ganzen Sommer war das Kinderbuch ein großes Thema für ihn. Das macht Laune auf die CD-Einspielung.

Raiskin: Musik ist bei uns daheim allgegenwärtig. Das Mädchen hat Klavierunterricht, der Junge lernte Violine, jetzt ist er ein begeisterter Schlagzeuger. Was mich aber, als ich in den Niederlanden Vater wurde, enorm störte: Obwohl dort die Orchesterlandschaft sehr gut ausgebaut ist, existiert fast keine musikalische Kinder- und Jugendarbeit; auch nicht an den Schulen. Man kann nicht erwarten, das 13- oder 14-Jährige sich plötzlich nach klassischen Konzerten drängen, wenn sie vorher nie mit dieser Musik in Berührung kamen. Das ist in Deutschland, Gott sei Dank, besser – dank fester Verankerung der Beschäftung mit Musik und Klängen vom Kindergarten an. Daran darf nicht gerüttelt werden, denn  gerade in der heutigen Gesellschaft kann Musik der Kitt sein, der einander fremde Gruppen verbindet.

(Das Gespräch führte Andreas Pecht)

Erstabdruck 1. Oktober 2010

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Musikwelt, Rheinische Philharmonie, Jugendarbeit, Interview mit Raiskin und Lefers 

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