Thema Politik
Thema Gesellschaft / Zeitgeist
homezur Startseite eMail an Autor • eMail to author • contact auteureMail an den Autor Seitenübersicht • sitemap • Plan du siteÜbersicht sitemap Seite drucken • site print • imprimer siteArtikel drucken

2010-11-04 Analyse/Kommentar:

Die Warnungen vor der "Protestrepublik" nehmen fast hysterische Züge an

 

So viel Angst vor dem Volk

 
ape. Eine gewisse Amüsiertheit kann man sich kaum verkneifen angesichts der schieren Panik, mit der etliche Kommentatoren  gegen aktuelle Vorschläge nach einer stärkeren direkten Beteiligung des Volkes an politischen Entscheidungen wettern. Jüngstes Beispiel heute: Wolfgang Kaden und seine hoch besorgte Einlassung unter der bezeichnenden Überschrift "Zu viel Volk schadet" auf spiegel online (>weblink hier). Da hat jemand unüberhörbar Angst, das Volk könnte fortan unter Demokratie etwas anderes verstehen, als bloß alle paar Jahre Zettel in Wahlurnen zu schmeißen und die übrige Zeit, den "Organen" tatenlos zusehend, in die Tischkante zu beißen.



Kaden bemüht die Segnungen der Agenda 2010 und die sich  angeblich aus dem kleinen Einmaleins ergebende Alternativlosigkeit der Rente mit 67, um gegen Plebiszite  zu polemisieren: Hätte es Volksentscheide darüber gegeben, beides wäre nie beschlossen worden. Da hat der Herr Kaden wohl Recht - und AKW-Laufzeitverlängerung oder Afghanistan-Einsatz wären ebenfalls nie in die Tüte gekommen, Stuttgart 21 längst auf dem Kehrichthaufen für überteurte Unsinnsprojekte gelandet. Es sei denn, die Politik hätte dem Volk plausibel gemacht, dass die jeweiligen Projekte, Beschlüsse, Marschrichtungen, Ausgaben  vernünftig und angemessen sind. Und genau das ist die neue Qualität des sich verbreiteten Strebens der Bürger nach wirklicher politischer Partizipation: Die Menschen wollen nicht länger einfach unverstanden schlucken müssen, was Technokraten, Ministeriale, womöglich Lobbyisten sich ausgedacht und parlamentarische Mehrheiten (mit wieviel Kenntnis in der Sache?) abgenickt haben.

Wäre es denn eine so arge Zumutung für die Politik, den Menschen verständlich machen zu müssen, was da beschlossen und auf Kosten aller umgesetzt werden soll? Wäre es denn eine Katastrophe für die Republik, wenn am Ende das ins Bild gesetzte Volk doch mal entscheidet: Nö, wollen wir so nicht haben? Es wäre interessant zu sehen, wie schnell dann Alternativen zu bis dahin angeblich "alternativlosen Entscheidungen" entwickelt würden. Der "einzig gangbare Weg" bleibt selten der einzige, wenn er plötzlich versperrt ist. So ein sperrender Volksentscheid zur rechten Zeit könnte eine ganze Menge Motivation erzeugen, auch mal kreativ über Wege jenseits der ausgetretenen Pfade und geschäftlichen Üblichkeiten nachzudenken. Das wäre dann wieder richtige, gestaltungswillige Politik, statt bloß dumpfes Treibenlassen im Strom vermeintlicher Sachzwänge. 

Kaden und Co. allerdings können in Plebisziten nur eine Aushebelung bewährter Demokratieorgane erkennen, die zwangsläufig die Entwicklung des Landes zum Stillstand bringt, Sachpolitik unmöglich macht, zum Staatsbankrott führt..., kurzum: Deutschland völlig ruiniert. Kaden kommt dann kommt zum Schluss auf seines Pudels wahren Kern: "Der Weg, der mit solchen Volksbefragungen oder -entscheiden eingeschlagen würde (...) macht das Land noch weniger fähig zu Veränderung als es ohnehin schon ist. Und er schwächt es im internationalen Standortwettbewerb." Das also macht Teile der politischen Klasse derzeit so unruhig: Angst, das Verlangen wachsender Teile der Gesellschaft nach politischer Partizipation würde das allfällig gewordene Primat der marktliberalen Ökonomie in Frage stellen.

Ja, das kann so kommen - dass plötzlich ökonomische Standortentwicklung und allgemeine Lebensqualität gegengerechnet werden. Wem nutzt der avisierte neue Standortfaktor? Stimmt das  Preis-Leistungs-Verhältnis? Lohnt sich dafür die zu erwartende Veränderung, gar Einschränkung der Lebensqualität? Liegen Art und Richtung der geplanten Standortentwicklung im Interesse des Gemeinwohls? Haben die Projekte/Planungen Hand und Fuß oder verdient sich nur wieder eine Clique goldene Nasen daran? Brauchen wir, wollen wir, ist überhaupt vernünftig, was ihr da vorhabt? Packt aus, informiert,  legt Rechenschaft ab, überzeugt. Dafür müsst ihr ernsthaft  Klartext reden, nicht uns mit Verwirrspielen im Fallstricklabyrinth aus Bürokratenkauderwelsch, Verfahrenstricks, Reglements, Fristen, Instanzen, Formalien abspeisen und kaltstellen wollen. 

Herrn Kaden graust's vor derartiger Demokratie. Staatsorgane, Minister, Parlamentarier, Planungsstäbe sollen die unwissende, unverantwortliche und egoistische Masse aufklären, sollen ihr öffentlich Rede und Antwort stehen, sich am Ende gar deren Votum beugen? Igittigitt. Er empfiehlt mit  Parlamentsentscheiden unzufriedenen Bürgern stattdessen, sich um Parlamentssitze zu bewerben. Ein ignoranter, ein arroganter Vorschlag alter Basta-Schule, denn er geht am eigentlichen Sachverhalt völlig vorbei: Unterschiedliche Bewegungen entzünden sich an unterschiedlichen Einzelfragen, die oft quer zum Meinungsspektrum liegen, das die Parteien in der betreffenden Einzelfrage abdecken. Unter den S21-Gegnern gibt es zB nicht wenige langjährige CDU- und SPD-Anhänger. Sie protestieren gegen S21, sind zornig über die Haltung ihrer Partei in dieser Frage, haben aber eher wenig gegen deren sonstige Politik einzuwenden. In Sachen Afghanistan-Einsatz beispielsweise würde ein Volksentscheid wohl eine Mehrheit gegen die betreffende Politik von Schwarz wie auch Rot und Grün ergeben.

Auch unter CDU- und FDP- Anhängern gibt es nicht wenige AKW-Gegner. Sollen die jetzt Grün wählen, obwohl sie bei sehr vielen anderen Themen mit den Grünen überkreuz liegen, oder müssen sie als CDU- und FDP-Wähler in Sachen AKWs  einfach notgedrungen das Maul halten?  Oder: Es gibt in Hamburg  durchaus auch etliche bürgerliche Grün- und Rot-Wähler, die sich beim dortigen Volksbegehren ganz konservativ gegen die Schulreform ausgesprochen haben, obwohl sie vielleicht bekennende AKW-Gegner sind und auch sonst ihrer Parteienpräferenz treu.  Daraus folgt: Mit der Stimmabgabe für eine Partei bei der Parlamentswahl haben sich Meinungsverschiedenheiten in einzelnen Sachfragen nicht erledigt. Ergo kann die demokratische Teilhabe des Volkes sich  keineswegs in der Stimmabgabe erschöpfen.  

Ein Letztes noch: Ja, es besteht bei Plebisziten durchaus die Gefahr, dass sich reaktionäre Unterströmungen unschön Bahn brechen. Siehe Minarett-Entscheid in der Schweiz. Aber dann weiß man wenigsten, was Sache ist, dann  liegen die betreffenden Denkarten offen zutage und rumoren nicht finster unter vermeintlich liberalem Mainstream herum. Dann muss und kann man sich mit ihnen offen und offensiv auseinandersetzen. Was allemal besser ist, als sie zu ignorieren, zu verdrängen, zu leugnen, kleinzureden - während sie subkutan weiter wirken und einem irgendwann womöglich um die Ohren fliegen.                                                                                                        Andreas Pecht


---------------------------------------------------------
Wer oder was ist www.pecht.info?
---------------------------------------------------------
 
Diesen Artikel weiterempfehlen was ist Ihnen dieser Artikel
und www.pecht.info wert?
 
eMail an Autor • eMail to author • contact auteureMail an den Autor
eMail an webmaster • eMail to webmaster • contact webmastereMail an webmaster Seitenanfang • go top • aller en-hautan den Anfang Seite drucken • site print • imprimer siteArtikel drucken