Thema Vorträge
homezur Startseite eMail an Autor • eMail to author • contact auteureMail an den Autor Seitenübersicht • sitemap • Plan du siteÜbersicht sitemap Seite drucken • site print • imprimer siteArtikel drucken

2011-02-15

Überlegungen zur Ökonomisierung der Kulturlandschaft


Ware Kunst - Wahre Kunst


ape. Der nachfolgend publizierte Vortrag wurde gehalten am 15.Februar 2011 im Arp Museum Rolandseck beim Treffen der rheinland-pfälzischen  Einsatzstellen "Freiwilliges Soziales Jahr Kultur". (Unkorrigiertes Redemanuskript, mündlicher Vortrag teils leicht abweichend)


Guten Morgen allerseits,

nun lasset uns nachdenken, ein bisschen Kritik und auch Selbstkritik betreiben. Eine Powerpoint-Lightshow wird es nicht geben, andere Puppen lasse ich ebenfalls nicht tanzen. Ihr werdet die nächsten 40 Minuten mit meinem Anblick, vielen Worten und einigen Gedanken vorlieb nehmen müssen.

Als ich mich an die Vorbereitung des heutigen Vortrages setzte, war die erste Frage: Mit was für Leuten hast du es bei diesem FSJ-Einsatzstellentreffen zu tun? Antwort an mich selbst: Das sind sehr verschiedene Menschen, und sie sind in sehr unterschiedlichen Institutionen hauptberuflich beschäftigt oder ehrenamtlich engagiert. Gemeinsam ist ihnen: Sie haben dort irgendwie mit Kunst und Kultur zu schaffen.

Da sind die Theatern, in denen originale Kunst geschaffen wird. Dort die Museen, die bereits existierende Werke öffentlich präsentieren. Theater sind Orte, an denen künstlerische Prozesse stattfinden: Jede Neuinszenierung von Shakespeares „Sommernachtstraum“ ist ein künstlerischer Schaffensprozess, auch wenn die Textvorlage selbst schon fast 400 Jahre alt ist.
Anders im Museum: Im Regelfall ist die Arbeit des Künstlers am Werk abgeschlossen, wenn es zur Ausstellung kommt. Museumsdirektoren und Kuratoren schaffen die ausgestellten Werke nicht selbst, sondern sie organisieren möglichst optimale Kunstvermittlung. Dass dazu auch Kunstsinn gehört und eine gute Ausstellung mit kreativem Gespür aufgebaut sein will, steht außerfrage.

Dann eine dritte Gruppe von Kulturinstitutionen: Ich meine all jene, die als Gastspielbühnen funktionieren oder Gastspiele organisieren. Also etwa das Cafe Hahn oder der Circus Maximus in Koblenz, der Frankfurter Hof in Mainz oder die Tufa in Trier. Sie stellen den Rahmen dafür, dass Künstler auftreten können. Ähnlich den Museen schaffen solche Institutionen und ihre Mitarbeiter selbst keine Kunst, sondern sie schaffen Kunst her, bringen sie ans Publikum. Daneben gibt es mannigfach andere Formen von Kulturinstitutionen, oder Mischformen wie etwa die Soziokulturellen Zentren, die einerseits als Gastspielbühne fungieren, andererseits aber auch selbst künstlerische Prozesse initiieren.

In Wahrheit sind die Verhältnisse natürlich noch viel komplizierter , das aber jetzt alles hier aufzudröseln wäre müßig. Kurzum: Diese Versammlung hier heute ist ein schillernd buntes Auditorium - allerdings, wie ich hoffe, eines von Kunst- und Kulturliebhabern. 

Wie ich als rheinland-pfälzischer Kulturjournalist nach rund 25 Dienstjahren wohl weiß, herrscht zwischen den hier vertretenen Kultur-Institutionen nicht nur wechselseitiges Interesse und liebevolle Zuneigung. Man steht auch in Konkurrenz zueinander: Konkurriert um Publikum, um Status, Ansehen Renommee, um Fördergelder der Öffentlichen Hand und private Sponsoren. Ich weiß um das alte Missbehagen der freien Szene gegenüber den großen Apparaten der sogenannten etablierten Kultur, oder  umgekehrt von der bisweilen noch immer herablassenden Art, mit der die freie Szene von Kultur-Honoratioren behandelt wird.

Was also könnte der Kultur- und Gesellschaftskritiker vor solch einer Zuhörerschaft über das Verhältnis zwischen Kunst als Ware und wahrer Kunst vortragen? Was für Denkanstöße könnte er versuchen zu geben, ohne dass der Vortrag zum kulturwissenschaftlichen Hauptseminar über Kunsttheorien wird?

Mir kamen vergangene Woche zwei Aussagen unter die Finger: Die erste von einem längst verstorbenen Feuilletonisten, dessen Name mir entfallen ist; die zweite stammt vom ehemaligen Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin.

Der Feuilletonisten-Satz geht so: „Zu unseren Aufgaben (als Kulturkitiker) gehört, jeweils aktuelle Trends und Moden skeptisch in Augenschein zu nehmen, um bewusst zu machen, was sie mit den Zeitgenossen unbewusst anstellen.“
Nida-Rümelins Aussage ist etwas länger, dafür neuer: „In der gegenwärtigen Umbruchphase der globalen Ökonomie ist eine kulturelle  Perspektive gefordert und –  damit zusammenhängend – eine neues Verhältnis von Ethik und Politik, Recht und Ökonomie, Staat und Zivilgesellschaft. (Achtung jetzt!:) Die jeweiligen Systeme haben ihre eigene innere Logik und es treten besondere Probleme auf, wenn die Logik des einen Systems auf die des anderen übertragen wird oder ein System alle übrigen dominiert.“  So weit Nida-Rümelin.

Und damit, Herrschaften, stecken wir mittendrin im aktuellsten Übertrend –  man kann auch sagen Schlamassel –, der Euch alle betrifft. Es ist nämlich in unserer Gegenwart die Logik eines Systems dabei, alle anderen Systeme zu dominieren: Die Logik der Ökonomie, das ökonomisch orientierte Denken, durchwuchert zusehends sämtliche Gesellschaftsporen, hat auch Kunst und Kultur ziemlich fest in den Griff genommen.

Dieser Trend beeinflusst unser Hirn nachhaltig, er verändert schleichend unser Verhältnis für und Verständnis von Kunst und Kultur. Und dieser Trend spiegelt sich in einem unlängst neu entstandenen  Begriff, der mir schon vom Wort her heftiges Bauchgrimmen, um nicht zu sagen Übelkeit verursacht: Kreativwirtschaft oder Kulturwirtschaft.  Ich muss in diesem Kreis nicht näher erläutern, was darunter gemeinhin verstanden wird. Der kreativwirtschaftliche Diskurs geistert ja seit etwa zwei Jahren mit Macht in der Republik herum, auch in Rheinland-Pfalz.

Ich will nicht weiter auf die Absurdität eingehen, dass da beispielsweise  die Schöpfung von Kunst und die Vermittlung von Kunst in einen Topf gerührt wird mit der Werbung für Waschmaschinen, der Vermarktung touristischer Destinationen oder der Zusammenstellung von Klangkulissen für Kaufhäuser, Fahrstühle und Wirtshaus-Toiletten.

Ich will mich auch nicht langatmig darüber aufregen, dass in der Begriffswelt von Kreativ- und Kulturwirtschaft Theater, Museen, Orchester, Kulturzentren und Kulturuclubs, ja selbst Künstlerateliers oder die einsamen Schreibklausen von Schriftstellern primär als Wirtschaftsbetriebe betrachtet werden.
 
Ich möchte vielmehr auf ein fast noch bemerkenswerteres Phänomen eingehen:  Wir, die Kulturszene, haben geradezu gierig nach dem Brocken Kreativwirtschaft geschnappt – vor allem nach dem Zahlenmaterial, das damit einherkam.

Denn wohlfeil die Kulturinstitutionen zusammengerechnet mit Radiosendern, Fernsehanstalten, Werbewirtschaft und Co., lässt sich aus den Zahlen das Credo ableiten: Kultur ist eine wirtschaftliche Supermacht in Deutschland! Nach Umsatz und Beschäftigtenzahl rangiert die so definierte Kreativ-/Kulturwirtschaft nicht weit hinter der Automobilbranche, fast gleichauf mit der Chemiewirtschaft und weit vor dem Transport-Gewerbe. Oder so ähnlich.

Hah, das schafft Selbstbewusstein! Plötzlich steht die Kultur als gesellschaftlich relevante, weil ökonomisch bedeutende Kraft da. Plötzlich können die Kulturschaffenden den Automobilbossen und Bankern auf gleicher Augenhöhe begegnen. Können nach Lobbyisten-Manier der Politik mit drohendem Verlust oder erhofftem Zugewinn von Arbeitsplätzen winken. Plötzlich sind wir ein mitentscheidender Faktor   für die Steigerung des Bruttosozialproduktes – und nicht länger bloß ein mehr oder minder freundlich belächelter, mehr oder minder großmütig geduldeter, paternalistisch gehegter Spielplatz oder Vergnügungspark am Rande des wirklichen, des ernsten, des ökonomisch bestimmten Lebens.

Der gesellschaftliche Wert von Kunst und Kultur nimmt plötzlich sprunghaft zu, weil er nunmehr nach allgemeinen ökonomischen Maßstäben bemessen wird. Und wir Idioten machen uns diese Maßstäbe  auch noch stolz zu eigen – statt weiter entschieden auf den primären Selbstwert von Kunst und Kultur für das menschliche Dasein zu pochen.

Mit Verlaub, liebe Freunde, mit diesem Paradigmenwechsel – den viele von uns auch noch begeistert mitmachen – hat uns der Marktliberalismus am Arsch. Wenn wir nicht dagegenhalten, ergeht es den Künsten wie den Wissenschaften und der Bildung: Sie werden fortan immer wieder aufs Neue ihre Nützlichkeit für den wirtschaftlichen Gang der Dinge nachweisen müssen.

Werfen wir mal einen Blick auf die Entwicklungen im Bildungsbereich. Was hat es auf sich mit dem Turbo-Abitur, was mit dem berühmt-berüchtigten Bologna-Prozess an den europäischen Hochschulen? In beiden Fällen geht es nicht zuletzt um Ökonomisierung der Bildung. Begründet werden die „Reformen“ in beiden Fällen mit besserer Abstimmung zwischen Bildungswegen und veränderten Ansprüchen auf dem Arbeitsmarkt. Die vorgebliche Maxime lautet: Die beruflichen Chancen der Schüler und Studenten optimieren. Heißt zugleich: Die Interessen der Wirtschaft bedienen. Wie auch immer man dazu steht, es bleibt der Effekt, dass im Zuge dieser Entwicklung das Verständnis vom Selbstwert der Bildung als humanistische, emanzipatorische  Menschenbildung weitgehend verloren gegangen ist. Zugespitzt gesagt: Bildung verkommt zum Wirtschaftsfaktor.

Ein anderes, ganz kleines, aber vielsagendes Beispiel aus dem Bildungsbereich. Die moderne Hirnforschung hatte ausgetüftelt, dass Musikhören, Musizieren und Singen überaus positive Wirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern hat. Das ist an sich keine weltbewegende neue Erkenntnis, sondern empirischer Wissensstand der Pädagogik seit Generationen. Neu war nun allerdings der wissenschaftliche Beweis, dass musikalisches Tun sich mittelbar auch positiv auf die Lernfähigkeit in naturwissenschaftlichen und sprachlichen Fächern auswirkt.

Frage: Wer griff diese Erkenntnisse vor einigen Jahren am begierigsten auf, rieb sie mit Verve und wachsendem Selbstbewusstsein Lehrerkollegien wie Schulpolitikern unter die Nase? Richtig, die Musiklehrer! Sie sahen mit einemmal die Chance gekommen, ihr allweil als Spielerei geringgeschätztes Nebenfach gehörig aufzuwerten. Und zwar nicht wegen seines kulturellen Wertes an sich, sondern wegen seiner Nützlichkeit für die harten, wichtigen, ökonomisch relevanten Fächer wie Mathematik, Physik, Englisch etc.

So richtig absurd wurde die Sache dann, als ein paar amerikanische Forscher meinten herausgefunden zu haben, dass die spielerische Auseinandersetzung speziell mit der Musik Mozarts kindliche Gehirne zu Höchstleistungen befähige. In den USA entstand sofort eine ganz neue Industrie mit Mozart-Spielen und Mozart-Lernmitteln. Hierzulande ging man es zwar etwas ruhiger und skeptischer an, war aber auch nicht abgeneigt, zwecks Steigerung der allgemeinen Lerneffizienz auf den Mozart-Wunderzug aufzuspringen. Vielleicht ist es kein Zufall, dass fast zur selben Zeit bekannt wurde: Kühe, denen man über Lautsprecher im Stall jeden Tag ein paar Stunden Mozart vorspielt, sollten mehr Milch geben.

Um den Mozart-Effekt ist es inzwischen ruhiger geworden, auch ist Musik in den Schulen noch immer kein Hauptfach. Aber der Bedeutungszuwachs für die sogenannten Softskills hält an. Softskills meint soziale Kompetenz , Teamfähigkeit, individuelle Verantwortlichkeit für die Arbeit einer Gruppe etc. Es hat sich nämlich herumgesprochen, dass das im Wirtschaftsleben sehr nützliche Fähigkeiten und Fertigkeiten sind, und dass sie gerade bei kulturell-künstlerischem Tun erworben und trainiert werden können.

Noch vor ein paar Jahren hätte ein junger Arbeitssuchender es tunlichst vermieden, in seinen Lebenslauf für die Job- Bewerbung hineinzuschreiben: Ich spiele in einer Rockband, ich mache Rap-Musik, ich bin ein Poetry-Slamer, ich mache im Jugendtheater mit, ich gestalte in der Jugendkunstwerkstatt aus Müll zivilisationskritische Skulpturen.  Oder: Wie verschämt ging mancher der ersten Kultur-FSJler noch mit seiner FSJ-Zeit um. Heute wären Jugendliche blöd, wenn sie in ihren Lebenslauf nicht hineinschreiben würden: Ich habe zwischen Schule und weiterer Ausbildung ein FSJ im Mainzer Staatstheater, im Arp-Museum, im Literaturhaus Edenkoben oder sonstwo absolviert – dies auch und gerade wenn der oder die Betreffende sich um einen Arbeitsplatz als Ingenieur oder Banker bewirbt.

Die ökonomische Bedeutung der Softskills wird in der Wirtschaft zusehends begriffen; damit auch die letztlich geldwerte Bedeutung des aktiven Engagements von Jugendlichen in der Kultur. Das ist eine gute Entwicklung, keine Frage. Aber sie birgt eine Gefahr, derer wir uns immer bewusst sein sollten: Die mächtigen Mechanismen der Ökonomie tendieren dazu, Kunst und Kultur von ihrem eigentlichen Daseinszweck zu entfremden. Kunst und Kultur sind nämlich ihrem Wesen nach nicht dazu da, die ökonomische Verwertbarkeit der Menschen zu steigern.

Eher im Gegenteil:  Kunst und Kultur sollen, wollen in erster Linie zur Emanzipation des Menschlichen von den Zwängen des alltäglichen Räderwerks beitragen.  Die Beschäftigung mit Kunst und Kultur soll primär die Selbstbewusstwerdung des Individuums fördern, soll seinen seelischen und geistigen Selbstwert steigern – nicht seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Ich habe es in den letzten Jahren wiederholt erlebt und finde es völlig absurd: Da gibt es Institutionen in der Kulturszene, die werben für sich selbst unter dem Motto: Kommt zu uns, macht bei uns mit, das erhöht eure Chancen auf Erfolg in Beruf und Arbeitswelt.

Wenn die Kultur sich dazu verführen oder treiben lässt, ihre Daseinsberechtigung ökonomisch zu begründen, ist das ein großer Schritt in Richtung – Harakiri.            

Ganz neu ist diese Entwicklung übrigens nicht. Die Älteren hier im Saal werden sich erinnern: Schon in den frühen 1990er-Jahren machte sich in der kulturpolitischen Diskussion ein Begriff und eine Betrachtungsweise breit, die als Vorläufer der Kreativwirtschaft-Ideologie gelten darf: Kultur als Standortfaktor. Damals schossen Sommerfestivals wie Pilze aus dem Boden, weil man entdeckt hatte, dass die Attraktivität von Städten und Landstrichen dadurch zunimmt. Damals kam die Argumentation auf, dass das Kulturangebot einer Stadt mitentscheidend sei für ihre Position im Wettbewerb um Industrieansiedlung und Zuzug von Neubürgern –  gleichgewichtig neben Verkehrsinfrastruktur und Bildungsangebot. Die Kulturszene hat seinerzeit das Argument Standortfaktor dankbar gegen  Kultursparpläne und für die eigene Aufwertung ins Feld geführt.               

Damit wir uns nicht missverstehen: Das ist alles durchaus richtig, trifft alles durchaus zu. Aber der Blickwinkel der ökonomischen Nützlichkeit von Kultur zäumt das Pferd verkehrt herum auf.  Denn diese Nützlichkeit resultiert gewissermaßen bloß als automatischer Nebeneffekt aus dem grundlegenden menschlichen Bedürfnis nach Kunst und Kultur. 

Dieses Bedürfnis ist quantativ wie qualitativ von Individuum zu Individuum unterschiedlich ausgeprägt. Aber es gibt doch ein ziemlich weit verbreitetes Verständnis davon, dass zu einem zivilisierten Gemeinwesen ein gerüttelt Maß an Kunst einfach dazugehört. Als vor einigen Jahren der damalige Kulturminister Jürgen Zöllner den Bestand der rheinland-pfälzischen Staatsorchester zur Disposition stellte, empörten sich in Mainz und Koblenz dagegen auch Menschen, die noch nie in ihrem Leben ein Konzert dieser Orchester besucht hatten. Warum? Nicht, weil sie um die ökonomische Wettbewerbsfähigkeit ihrer Stadt gefürchtet hätten. Sondern weil ihnen eine Großstadt ohne ordentliches klassisches Orchester schlichtweg undenkbar erschien. 

Diese Denkweise lässt sich auf andere Kulturinstitutionen übertragen. Wollte die Politik in Mainz, Koblenz, Trier, Kaiserslautern morgen das örtliche Theater zusperren, sie hätte ein richtiges Problem – mit den Bürgern; zumindest mit sehr vielen; jedenfalls erheblich mehr als gewöhnlich ins Theater gehen. Selbiges bei den angestammten Museen oder Stadtbibliotheken, inzwischen wohl auch bei etlichen soziokulturellen Einrichtungen. Und allemal würde beim bürgerlichen Widerstand die ökonomische Konkurrenzfähigkeit der Stadt nicht die erste Geige spielen.

Die meisten Menschen haben im Normalfall kein ökonomisches Verhältnis zu den Künsten. Freilich, das Publikum muss in der Regel notgedrungen  bezahlen, um überhaupt an die Kunstobjekte seines Interesses ranzukommen. Für Theater, Museen, Konzerte, Kino etc. ist Eintritt zu entrichten, Bücher und CDs haben einen Preis. Insofern ist auch Kunst erstmal eine Ware. Aber von einigen Sammlern und Kapitalanlegern mal abgesehen, interessiert sich der Kunstrezipient aber eher wenig für den Geld- und Handelswert des Kunstproduktes, an dem es gerade mehr oder minder Gefallen findet.

Unsere Bücherregale und CD-Sammlungen daheim sind eben nicht als Kapitalanlage oder Sparbuch gedacht. Und anders als beim Kauf von Waschmaschinen, Autos oder Klamotten spielen beim Kino oder Theaterbesuch Preisvergleiche eine allenfalls nachgeordnete Rolle.
Natürlich gibt es den Effekt, dass jemand nach einem Konzertbesuch oder den ersten 100 Seiten einer Buchlektüre sagt: „Das war sein Geld nicht wert.“  Doch dieser Spruch meint nicht wirklich das merkantile Verhältnis  zwischen der Ware (Kunst) und ihrem Preis. Der Spruch bringt vielmehr in erster Linie ein negatives ästhetisches oder ein kunstkritisches Urteil zum Ausdruck.

Für das Publikum hat die Kunst primär einen ideellen Wert. Der schwankt nach persönlichem Geschmack, Anspruchsniveau und dem Rang, den man der Kunst im eigenen Lebensgefüge zumisst. Der schwankt auch mit dem Verständnis, das man von Kunst hat. Und das finden wir bisweilen ziemlich ärgerlich; vor allem wenn es um moderne Kunst oder Kunstströmungen abseits des gehobenen Mainstreams geht. Bei den als  Klassiker anerkannten Werken ist das kein Problem: der ideelle Wert von Mozart- oder Beethovenmusik, Shakespeare- oder Goethestücken, Rembrand- oder Goja-Gemälden beispielsweise wird allgemein als sehr hoch veranschlagt. Auch wenn jemand sich persönlich dafür nicht interessiert, wird er die allgemeine Wertschätzung für dieses Kulturerbe und die Notwendigkeit seiner Pflege doch akzeptieren.

Viel schwieriger ist diese Akzeptanz zu erreichen für Kunst, die noch nicht der Klassiker-Konvention einverleibt wurde. Einige von Euch werden sich erinnern: Picassos Frauenstudien lösten noch 1992 bei der Eröffnung des Koblenzer Ludwigmuseums Befremden, Kopfschütteln, Abwehr aus. Das sei gar keine Kunst, das sei Pornografie meinten viel Koblenzer. Allerdings flüsterten sie es nur hinter vorgehaltener Hand, denn Picasso war zu jener Zeit ja schon längst als der Größte unter den moderner Klassikern kanonisiert. Als ich vor bald 25 Jahren erstmals auch als Konzertkritiker unterwegs war, galt etwa Schostakowitsch beim schon damals betagten Stammpublikum umliegender Abonnements-Konzertreihen durchaus noch als modernistisches Schreckgespenst.

Die Beispiele ließen sich endlos fortsetzen und lassen sich quer durch das gesamte Kulturspektrum festmachen. Der Jazz und nachher die Beatles: Es dauerte lange, bis die Widerstandsaffekte dagegen so weit abgemildert waren, dass das Kunstvolle in diesen Musikströmungen überhaupt erstmal wahrgenommen werden konnte. Moderne Dichtung, modernes Theater, moderne Bildhauer- und Malerei, sowieso das neuartige und auch renitente Kulturverständnis in den Soziokulturzentren, die seit den 1980er-Jahren überall aufkamen: Das alles dauerte bis es auch in einer gewissen Breite Akzeptanz fand, bis ihm ein ordentliches Quantum gesellschaftliche Anerkennung zuteil wurde.

Denn: Jede Zeit braucht ihre Zeit, um Geschmack an und Verständnis für die Neuerungen der Künste zu entwickeln.

Womit wir bei einer Fragestellung angekommen wären, die schon im Einladungsflyer für die heute Versammlung angeschnitten ist: Was wird aus der Kunst, wenn sie sich mit Blick auf den Publikumszuspruch dem jeweiligen Zeitgeschmack anpasst? Was geschieht, wenn die Kunstvermittler, also die Museen, Theater, Kulturveranstalter nur noch ökonomisch denken – also Angebote machen, von denen sie glauben, dass es dafür aktuell eine möglichst große Nachfrage gibt? Wenn also die zu erwartende Einschaltquote den Ausschlag für die Programmgestaltung gibt?  Und was geschieht, wenn schließlich sogar die Künstler selbst vordringlich mit dem Gedanken an ihre Arbeit gehen: Was muss ich wie machen, damit sich meine Arbeitsergebnisse gut verkaufen?

Die Antwort liegt auf der Hand, auch wenn wir sie im atemlosen Getriebe, das längst auch die Kulturlandschaft erfasst hat, vielfach aus den Augen verloren haben.

Die Antwort lautet: Hätten Künstler sich seit jeher nur am jeweils vorherrschenden Geschmack des Publikums (oder ihrer Auftraggeber) orientiert, dann wären wohl die meisten der bedeutendsten Kunstwerke der Menschheit nie entstanden. Selbst Kompositionen von Mozart und Beethoven, ja von fast allen großen Komponisten sind in der Entstehungszeit beim Publikum sehr oft auf Unverständnis gestoßen oder regelrecht durchgefallen. Fast jeder Fortschritt in der Bildenden Kunst war eine schwere, schmerzhafte Geburt. Kurzum: Wahre Kunst kann nicht gedeihen, wenn sie sich nur als wohlfeile Ware versteht.

Natürlich gibt es das, dass ein Schriftsteller sich hinsetzt mit der Absicht: Ich schreibe jetzt einen Publikumsrenner, einen Bestseller. Dieser Autor wird dann, eventuell unter Mitwirkung eines ganzen Helferstabes, all jene Bestandteile zusammensuchen und zusammenbauen, die bei möglichst vielen Lesern gerade beliebt sind. Im Augenblick wäre das etwa „Die Schöne und das Monster“ oder umgekehrt, wobei die Monster heute ebenfalls Schönlinge sind und mit Vampirzähnen ausgestattet.

Natürlich gibt es Komponisten, oder besser gesagt: Musikstilisten, die es ganz gezielt darauf anlegen, just einen populären Chartstürmer zu schreiben oder künstlich eine trendy Supergroup zu konstruieren und am Markt zu platzieren. Wie es auch Theaterregisseure gibt, die ihr ganzes Können bewusst darauf verwenden, eine Inszenierung hinzukriegen, die möglichst viele Besucher anzieht und sie möglichst gut unterhält.

In all diesen Fällen diktieren Geschmack und Erwartungshaltung des Publikums, diktiert der Markt dem Kulturprodukt seine Bedingungen. Die Nachfrage bestimmt Form und Inhalt des Angebots wenn nicht völlig, so doch maßgeblich. Die Ergebnisse dieser Art des Kulturschaffens lassen sich als gewaltige Sintflut von Banalitäten bis hin zu regelrechtem Schwachsinn an Bestellerlisten, Hitparaden, Fernsehprogrammen, aber  auch Veranstaltungskalendern ablesen.

„Pecht, du bist ein elitärer Sack und rümpfst arrogant die Nase über das Volk,“ könnte jetzt eingewandt werden. „Wenn‘s den Leuten gefällt, lass sie doch.“ Von mir aus, nichts dagegen: Ein jeder möge nach eigener Fasson glücklich werden. ABER, jetzt etwas zugespitzt formuliert: Ich bitt mir aus, dass vor allem Leute, die es besser wissen, nicht daherkommen und erklären, Mist sei Kunst – nur weil sie mit Mist mehr Geld verdienen als mit Kunst. Und ich bitt mir aus, dass man den Kindern wenigstens die Chance gibt, den Unterschied zwischen Mist und Kunst kennenzulernen. Und ich bitt mir aus, dass man den sozial Schwachen wenigstens die Möglichkeit gibt, ohne Gefährdung des schmalen Geldbeutels tatsächliche Kunstangebote wahrnehmen zu können.

Schließlich bitt ich mir noch aus, dass die Öffentliche Hand nebst den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ihren Kulturauftrag ernst nimmt und dafür sorgt: Dass der für Förderung der Künste und Kunstvermittlung vorgesehen Anteil am Gemeinschaftsgeld aus Steuern und Gebühren auch für die Förderung der Künste und für die Kunstvermittlung eingesetzt wird – und zwar nicht erst ab nachts um eins auf Nebenkanälen, die nur mit Spezialgeräten überhaupt zu empfangen sind.

Schon klar: Auch für die meisten der hier vertretenen Institutionen sind Einnahmen aus Populärveranstaltungen überlebensnotwendig. Solche Ambivalenzen zwischen Kunstanspruch und seiner Finanzierung hat es immer gegeben. Bach, Händel, Hayden, Mozart, um bei den Musikern zu bleiben, mussten stets an ihre Einkünfte denken.  Auch die Kunst muss essen und will anständig leben. Wieviel künstlerischen Anspruch, wieviel  kreative Freiheit muss der einzelne Künstler für Lohn und Brot aufgeben? Wieviel ist er bereit, aufzugeben? Das ist ein sehr schwieriger Balanceakt, der die Kulturgeschichte seit ewigen Zeiten durchzieht.

Die Streitereien zwischen Künstlern und ihren Mäzenen, Dienstherren, Auftraggebern, Agenten füllen Bände. Ebenso der Zorn vieler Künstler auf die Ignoranz des Publikums ihrer Zeit. Künstler streben stets nach möglichst weit reichender Autonomie in ihrem Schaffen, ahnend oder wissend, dass sie andernfalls nicht ihr Bestes zu Wege bringen. Dieser   Widerspruch ist letztlich kaum auflösbar.  Aufseiten des Publikums, der Öffentlichkeit, zumal in der demokratischen Gesellschaft, gibt es zwei Wege mit Autonomie-Streben der Künstler umzugehen.

Erstens: Man anerkennt, dass Kunstschaffen von Rang künstlerischer Freiheit und Autonomie bedarf. Daraus folgert: Wir lassen uns auf das Abenteuer ein, Kunst zu begegnen, die anspruchsvoll ist, auch mal anstrengend, ja  verunsichernd oder verstörend  – und bezahlen trotzdem dafür. Dies Abenteuer schließt für die Veranstalter oder Kulturvermittler das Risiko ein, dass sie gelegentlich oder öfter mal nur niedrige Einschaltquoten oder kleinere Besucherzahlen erreichen.

Der zweite Weg wäre: Öffentlichkeit und Zahlmeister bestehen darauf,  dass Kunst sich am Markt behauptet. Etwa nach der Devise: Das Gute setzt sich letztlich durch; wenn nicht, kann es nicht gut gewesen sein. Dem aber liegt die irrige Annahme zugrunde, das Beste bekäme den meisten Applaus und würde am meisten gekauft. Wir alle aber wissen sehr gut, dass dem leider so nicht ist.

Wer aber bestimmt am Ende, was gut und von hohem künstlerischem Wert ist, da es der Markt nicht kann?

Erstens gibt es da die Kriterien der Fachwelt. Die können bei der Kunstbeurteilung mehr oder minder hilfreich sein.
Zweitens gibt es da die Kulturgeschichte, die gewisse Künstler und ihr Werke einfach nicht vergessen kann. Wieder und wieder, manchmal mit langen Abständen dazwischen, werden solche Werke von den Nachgeborenen aufgegriffen. Warum? Weil wahre Kunst den Menschen  verschiedensten Zeitalter etwas zu sagen hat, etwas zu geben vermag. Derart entstehen Klassiker.

Und da gibt es nicht zuletzt unser eigenes Empfinden. Unsere Neugierde, unser Suchen, unser Fragen, auch unser individuell mal mehr, mal weniger  entwickeltes Gespür für tiefergehende Substanz und Vielschichtigkeit. Dieses Gespür ist viel weiter verbreitet, als man gemeinhin denkt. Beobachtet mal 7- bis 12-Jährige, wenn sie livehaftig klassischer Musik begegnen. Lasst Euch von Kindern – die Gelegenheit haben, mal in relativer Ruhe Originalwerke der Bildenden Kunst zu betrachten –  erzählen, was sie da herauslesen.

Meine Erfahrung ist: Jedesmal, wenn man es hinbekommt, dass sich auch ganz einfache Menschen auf Kunst einlassen, erfassen sie intuitiv sehr bald, ob sie es mit großer Kunst zu tun haben oder eher nicht. Schwierig wird es eigentlich immer nur, wenn die Kunstdarbietung die ihnen zur Verfügung stehenden Kulturtechniken überstapaziert. Fünf Stunden  einer Wagner-Oper zu folgen ist fürs erste ebenso zuviel verlangt wie drei Wochen an einem anspruchsvollen Roman zu lesen oder sich einen ganzen Nachmittag lang für 100 abstrakte Gemälde zu interessieren. Das muss man erst lernen; so wie man als Erwachsener erst wiederlernen muss, was man als Kind mal konnte: der Fantasie freien Lauf zu lassen; nicht zu fragen, „was will der Künstler mir sagen“, sondern staunend zu erleben, was seine Kunst in meinem Kopf und Herzen auslöst.

Ein Letztes noch, bevor mein Gerede endet.
Ich hatte wiederholt das Glück, FSJler der Kultur wie auch der Ganztagsschulen bei ihren mehrtägigen Seminaren betreuen und erleben zu dürfen. Dabei wurde mir jenseits aller Theoretisiererei erstmals richtig fühlbar, was der Satz meint: In jedem Menschen steckt ein Künstler. Gib den Jugendlichen Materialien, Räume, ein paar Tips, eine vage Aufgabenstruktur und sehr viel Freiheit, dann werden die meisten von ihnen zu Kreativbomben. Da wird gedichtet, komponiert, gestaltet, gemalt, gefilmt, geschauspielt; da sprudeln Ideen noch und nöcher; da bahnen sich  Gefühle und Gedanken den Weg an die Oberfläche, hin zu einer Vielfalt faszinierender Ausdrucksformen.

Keiner dieser Jugendlichen, so glaube ich,  denkt dabei an den Markt, an ökonomischen Nutzen, an die Karriere, an Erwerb von Softkill-Fähigkeiten. Hier bricht sich Kunst nahe an ihrer Ureigentlichkeit Bahn: Als Lust am schöpferischen Tun, als Drang hin zu einem Lebensausdruck, der keinem anderen Gesetz folgt als dem eigenen Gestaltungswillen. Das einmal miterlebt, wird einem sofort klar, warum wir die Kunst als Wert an sich verteidigen müssen: Es ist so erbärmlich,  das menschliche Zu-Sich-Kommen und Bei-Sich-Sein, das durch Kunst ermöglicht wird, den Maßstäben der Profitwirtschaft zu unterwerfen.

Selbst wenn die Kunst keinen einzigen Euro zum wirtschaftlichen Wohl und Wehe des Landes beitragen würde, bliebe sie doch eine der wichtigsten Kategorien des Menschlichen.                                          
Andreas Pecht    


---------------------------------------------------------
Wer oder was ist www.pecht.info?
---------------------------------------------------------

Diesen Artikel weiterempfehlen was ist Ihnen dieser Artikel
und www.pecht.info wert?
 
eMail an Autor • eMail to author • contact auteureMail an den Autor
eMail an webmaster • eMail to webmaster • contact webmastereMail an webmaster Seitenanfang • go top • aller en-hautan den Anfang Seite drucken • site print • imprimer siteArtikel drucken