Thema Bildung / Wissenschaft
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2011-04-02a Serie "Wissen":

Folge 1:
 

Der frühe Mensch zwischen
Natur und Kultur

 
ape/ana. Unsere neue Reihe über die Kultur- und Geistesgeschichte steigt in den Fluss der Zeiten vor etwa 16 000 Jahren ein. Die Menschen zogen da noch als Jäger- und Sammler durch eine Welt quasi im Naturzustand.


Diese Reise startet mit zwei Unsicherheiten. Erstens: Wo anfangen? Vor zwei Millionen Jahren beim biologischen Scheidungsprozess zwischen Tier und ersten aufrecht gehenden Frühmenschen? Oder bei unserem direkten Vorfahren, dem entwickelten Homo sapiens, der nach dem Verschwinden der letzten Neandertaler vor 30 000 Jahren als einziger Vertreter der Spezies „Homo“ übriggeblieben ist?

Wir haben uns für den Geschichts-Einstieg beim entwickelten Homo sapiens entschieden. Für eine Zeit vor etwa 17 000 bis 15 000 Jahren, da unsere steinzeitlichen Ahnen noch immer in kleinen Gruppen oder Horden als Jäger und Sammler umherzogen und in Höhlen hausten. Für eine Zeit aber auch, in der sie schon Feuer entzünden und Werkzeuge herstellen konnten. In der sie zu  Malereien fähig waren, die verblüffend genau die Natur wiedergeben; wovon die 1940 entdeckten  Höhlengemälde im französischen Lascaux zeugen. Eine Zeit überdies, in der die Menschen schon eine Weile Musik machten, wie eine 2009 auf der Schwäbischen Alb gefundene, 35 000 Jahre alte Flöte aus dem Knochen eines Gänsegeiers belegt.    

Die zweite Unsicherheit bei der Annäherung an die „graue Vorzeit“ rührt daher, dass es noch immer recht  wenig unverrückbares Wissen über die ganz frühen Epochen der Menschheitsentwicklung gibt. Wissenschaftlich völlig unstrittig ist zumindest, dass der Mensch nicht von einem Tag auf den andern in die Welt trat. Er hat sich über Jahrhunderttausende evolutionär entwickelt. In welchen Phasen, Verzweigungen, wo, wann und mit welchen Folgen genau die Entwicklung voranschritt, diese Forschungsarbeit befindet sich noch im Fluss, fördert ständig neue Erkenntnisse zutage.

Über die Menschen der mittleren Steinzeit, also in den letzten Jahrtausenden vor der Sesshaftwerdung um 10 000 vor Christus, wissen wir indes schon eine ganze Menge. Dennoch bleibt es schwer, von heute aus nachzuvollziehen, wie jene Menschen einst gedacht, empfunden, die Welt gesehen haben. Was mag einem angesichts von Sonne und Mond oder von Wolken, Regen, Blitz und Donner durch den Kopf gehen, wenn man über diese Phänomene bereits nachdenkt, aber so gar nichts weiß von deren wahrer Natur? Wie mag es einem ergehen angesichts von Krankheiten, über deren natürliche Ursache keine Vorstellung existiert? Wie, da einem die Endgültigkeit des Todes noch nicht bewusst ist oder der Zusammenhang zwischen Saat und Reife, zwischen Zeugungsakt, Schwangerschaft und Geburt noch unklar?

Zwar ist der frühe Mensch schon zu Verstand gekommen. Aber es bleibt ihm für noch sehr, sehr lange Zeit unvorstellbar, dass  irgendetwas ohne Zutun steuernder Geister ganz von alleine geschehen könne. Bäume wachsen, Früchte reifen, Wolken ziehen, Wasser fließt, Menschen altern – heute wissen wir, dass die Ursache seelenlose physikalische, chemische, biologische Gesetze sind. Tiere fragen nicht, warum etwas ist wie es ist. Sie reagieren bloß auf Umstände. Wenn das Futter knapp wird, ziehen sie weiter. Auch dem Menschen der Jäger- und Sammlerepoche bleibt letztlich nichts anderes übrig, denn er verfügt nur über das, was die Natur ihm gibt. Aber irgendwann  beginnt er als einziges Lebewesen zu fragen: Warum ist etwas wie es ist? Doch solange der Mensch die natürliche Beziehung zwischen Ursache und Wirkung nicht versteht, bleibt er gefangen im sogenannten animistischen Weltbild: Er kann als Ursache für Naturphänomene oder das Wohl und Wehe seines Lebenslaufes nur unsichtbare Geister am Werk sehen.

Steinzeitliche Menschen machten keinen Unterschied zwischen Natürlich und Übernatürlich, Realität und Traum, Tier, Pflanze und Stein. Die gesamte Welt galt ihnen als belebtes Ganzes und von Geistern erfüllt –  seien es diejenigen der Verstorbenen, seien es göttliche Wesenheiten oder einfach die Seelen der Dinge selbst. Dies dürfen wir mit hoher Wahrscheinlichkeit annehmen auf Grund von Folgerungen aus archäologischen Grabungen. Aufschlussreiche Hinweise geben auch reale Beobachtungen bei Urwaldstämmen, die bis eben noch keine Berührung mit der Zivilisation hatten. Schriftliche Zeugnisse aus steinzeitlichen Epochen gibt es keine. Schrift ist eine ziemlich junge Kulturtechnik. Die ältesten gefundenen Schriftzeichen stammen aus dem vierten Jahrtausend vor Christus, sie sind damit rund 10 000 Jahre nach den Höhlenmalereien von Lascaux entstanden.

Diese mit Farben auf den Fels aufgetragenen oder ins Gestein geritzten Bildnisse von Stieren, Wisenten, Wildpferden, Steinböcken, Raubkatzen in kraftvoller, graziöser Bewegung gelten als die ältesten Formen Bildender Kunst. Was sofort die Frage nach der Funktion von Kunst für die damaligen Menschen aufwirft. Kaum halten lässt sich die spontane Annahme, die Bewohner der Höhle hätten bloß ihre Behausung verschönern wollen. Dagegen spricht schon der einfache Umstand, dass sich die meisten Bildnisse nicht im vorderen Wohnteil der Lascaux-Höhle befinden, sondern in tieferen, dunklen, abgeschiedenen Bereichen. So, als würde man heute seinen schönsten Raumschmuck in den Keller oder auf den Dachboden statt ins Wohnzimmer stellen. Kein Mensch tut das – es sei denn, er verfolgt damit einen anderen Zweck als bloß seine Heimstatt zu schmücken.

Jenen Höhlenmalereien wird heute zumeist ein für die steinzeitlichen Menschen sehr praktischer Zweck zugesprochen: Indem sie die Tiere möglichst lebensecht zeichneten, glaubten sie, zugleich  eine seelische Verbindung zu ihnen herzustellen. Der bildnerische Bericht  vom Jagderleben wurde zugleich zur Beschwörung für eine kommende gute Jagd. Hier ist Kunst auch eine Art magischer Ritus, der helfen soll, die praktischen Herausforderungen des Lebens besser zu meistern: Indem der Jäger den Geistern der Jagdtiere künstlerisch Respekt erweist und sie so wohlgesonnen stimmen will.

Es gibt noch andere Interpretationen der Höhlenbilder. Doch ist allen gemeinsam, dass sie für das Malen und jede andere Form kulturellen bis künstlerischen Tuns jener Zeit von einer  Verschmelzung alltäglicher Verrichtungen und Geisterbeschwörung ausgehen. Die moderne Trennung zwischen zweckfreier Kunst, Religion und wirtschaftlicher Nützlichkeit wäre nicht nur für unsere Vorfahren in der Steinzeit völlig unbegreiflich gewesen. Noch die Antike und das   Mittelalter hoben nicht zuletzt auf den praktischen Wert der Künste ab: Sie dienten der Belehrung und sittlichen Prägung, oder der Vermittlung religiöser Inhalte und der Verherrlichung Gottes, sowie der Erhöhung weltlicher Herrschaft. Kunst um der Kunst Willen oder bloß zum Vergnügen, zur Unterhaltung, dieses Konzept existiert erst seit wenigen Hundert Jahren.

Wie überhaupt die gedankliche Zerteilung der Welt in Natur und Kultur historisch betrachtet ein recht junges Phänomen ist, das gerade in der Neuzeit zu manchem Missverständnis führte. Heißt das  lateinische „cultura“ wörtlich Ackerbau, so bedeutet es doch die Bearbeitung aller Natur durch den Menschen. Kultur meint ureigentlich also nicht nur die Werke der hohen Künste, sondern generell den gestaltenden Eingriff in die Natur. Insofern darf die frühzeitliche Steinaxt ebenso als Ausdruck von Kultur gelten wie der Speyrer Dom. Umgekehrt sind unsere heimischen Wälder, Flüsse, Äcker, Parks, Weinberge mit dem Begriff Natur falsch bezeichnet. Denn in Wahrheit handelt es sich um durch Menschenhand über zahllose Generationen geformte Kulturlandschaften.

Zusatzinfos:

Die Höhle von Lascaux: Am 12. September 1940 entdeckten spielende Kinder im Tal der Vézère bei Montignac (Departement Dordogne im Südwesten Frankreichs) den Zugang zur Höhle von Lascaux. Die darin vorgefundenen Wandmalereien sind auf eine Zeit um 16 000 vor Christus datiert und zählen zu den ältesten Werken bildender Kunst in der Menschheitsgeschichte. 1948 wurde die Höhle der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, 1963 aber wieder geschlossen. Grund: Die Atemluft von mehr als 1000 Besuchern täglich zog die Bildnisse in Mitleidenschaft. Um dem großen Interesse der Allgemeinheit an den Kunstwerken aus der Jungsteinzeit gerecht zu werden, wurde in der Nachbarschaft eine Nachbildung der Höhle geschaffen und 1983 eröffnet. Das Original ist seit 1979 Unesco-Weltkulturerbe.

Die Jagd: Frühgeschichtliche Jagd war mühsam und gefährlich. Die ersten Jagdwaffen waren Wurfhölzer, mit denen vor allem Vögel und kleinere Tiere bejagt wurden. Bereits vor 400 000 Jahren kamen auch einseitig angespitzte Wurfspeere zum Einsatz. Auf Pfeil und Bogen kam der Mensch erst vor knapp 30 000 Jahren. Etwa 16 000 Jahre vor unserer Zeit tauchten die ersten Speerschleudern auf, was den Wirkungsgrad verdoppelte.


Lesen Sie in Folge 2:
> „Die Menschen werden sesshaft“ 


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Impressum: Der obige Hauptext entstand auf Basis eines Vortrages, den Barbara Abigt im Rahmen der Akademie der

Marienberger Seminare gehalten hat. Die Textbearbeitung für den Abdruck besorgten Andrea Mertes und Andreas Pecht. Für den Inhalt verantwortlich: Marienberger Seminare e.V. 

Der 80-minütige Originalvortrag ist als Audio-CD mit bebildertem

Begleitheft zu beziehen bei Marienberger Seminare

e.V., Tel. 02661/6702, email: mail@marienberger-seminare.de.

Weitere Infos: >> www.marienberger-seminare.de

Die Reihe „Wissen – Reise durch die Kultur- und Geistesgeschichte“ ist eine Kooperation zwischen Rhein-Zeitung und Marienberger Seminbare e.V., sie wird gefördert vom Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur des Landes Rheinland-Pfalz.



(Erstabdruck 2. April 2011)
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Bisher erschienene Folgen:

2011-04-02 Prolog/Einführung:
Eine Reise durch die Kultur- und Geistesgeschichte


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