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2011-07-09 Reihe "Wissen":

Folge 10
 

Vorhang auf für das antike Theater
 
 
ana/ape. Jahr für Jahr messen sich die besten Dramatiker der Antike in der Kunst, Schicksalsschläge in Szene zu setzen. Was mit einem Fest für den Weingott Dionysos begann, wird zum Anfang allen Dramas: Im 6. Jahrhundert v. Chr. erblickt die erste Tragödie das Bühnenlicht


Tot liegt der Vater in seinem Blut. Erschlagen von der Hand des eigenen Sohnes. Das Athener Publikum hält sich entsetzt die Hände vor den Mund. Gebannt starrt es aufs Orchestra, die Spielfläche des antiken Theaters. Wer gebildet ist in der griechischen Mythologie, der weiß, wie die Geschichte weitergeht: Ödipus, der Vatermörder, wird an seinem eigenen Schicksal verzweifeln. Es kann gar nicht anders sein. Es ist das Grundprinzip der Tragödie.

Alles Neue im antiken Griechenland kommt aus Athen. Hier soll der Dichter Thespis zwischen 535 und 531 v. Chr. die erste Tragödie aufgeführt haben. Entstanden ist sie aus dem beliebten Dionysoskult, dem Fest zu Ehren des Dionysos. Athens Herrscher im 6. Jahrhundert, der Tyrann Peisistratos, hat den Kult aus dem attischen Hinterland importiert: Dort huldigen die Bauern dem Gott des Rausches und der Ekstase mit lautem Gesang, freizügigen Tänzen und Tieropfern. Zum Gefolge des Weingotts, den die Dörfler alljährlich feiern, gehören auch Satyrn – mythische Wesen, halb Mensch, halb Bock.

In Athen ist aus den derben ländlichen Dionysien ein Festival voller Religiosität, Ernst und Würde geworden – die städtischen Dionysien. Prozessionen ziehen durch die Stadt, Chöre treten zum Wettstreit an. Höhepunkt ist der mehrtägige Dichterwettbewerb, der tragische Agon („Wettstreit“). Peisistratos ordnet an: Drei Tragödien und ein Satyrspiel von acht Stunden Spielzeit sollen inszeniert werden. Wobei das Satyrspiel ein Tribut ist an jenen bäuerlichen Ursprungsritus, der auch in der Übersetzung des Begriffs „Tragödie“ durchschimmert: „Gesang der Böcke“.

Tausende Athener kommen zu den Aufführungen im Dionysostheater an einem Hang südlich der Akropolis. Die Schauspieler auf der Bühne tragen Masken, was ihnen ein starres, erschreckendes Aussehen verleiht. Im Wechsel mit dem Chor tragen sie die Stoffhandlung in Versen vor. Immer geht es um einen Protagonisten, der durch schicksalhafte Verstrickungen in eine ausweglose Lage geraten ist, sodass er nur noch schuldig werden kann, egal, wie er handelt. Die Themen entspringen überwiegend dem Mythos, sind aber oft aktualisiert und mit dem aktuellen politischen Geschehen verknüpft.

„Durch Leid lernen“: Dieser Satz des Dichters Aischylos definiert den Anspruch der Tragödie. Zu erleben, wie der Held kämpft und hofft, nur um letztlich doch zu scheitern, soll den Zuschauer am Ende des Spektakels geläutert nach Hause entlassen. „Katharsis“ wird Aristoteles das später nennen. Das Durchleben von Mitleid und Furcht, so glaubt der Philosoph, führt zur Reinigung der Seele von diesen Leidenschaften. Goethe wird den Begriff der Katharsis später nicht mehr auf den Zuschauer, sondern auf die Protagonisten eines Stückes beziehen, die während der Handlung eine seelische Reinigung durchleben.

Das Wort „tragisch“ wiederum steht in einem anderem Zusammenhang als dem uns heute vertrauten: In der antiken Tragödie bedeutet es nicht, dass etwas sehr traurig ist. Vielmehr verweist es darauf, dass sich jemand in einem unauflösbaren Dilemma befindet und dadurch „schuldlos schuldig“ wird. Die großen tragischen Helden der antiken Tragödie heißen Ödipus und Orestie, Antigone und Elektra.

Das Besondere an der Tragödie aus der Ära des Peisistratos ist der Schauspieler, der aus dem Chor heraustritt, um in Wechselrede mit diesem Verse vorzutragen. Der Theaterkritiker Georg Hensel schreibt dazu: „Es ist ein unerhörter Augenblick in der Geschichte des Theaters: Aus der Masse der maskierten und berauschten Gottesdiener löst sich ein Antwortender, gibt und verlangt Auskunft, gibt und verlangt Rechenschaft – über sich, die Götter und das Schicksal.“

Die Dionysien, die unter der Herrschaft eines Tyrannen begonnen haben, sind beim Volk beliebt. Sie werden auch fortgeführt, nachdem Athen (ab 510 v. Chr.) tyrannenfrei ist. Im 5. Jahrhundert erlebt die Tragödie ihre Blütezeit: Rund 1000 Werke werden in diesen Jahren auf die Bühne gebracht. Die Dichter produzieren Dramen wie im Akkord. Allein 300 stammen von den drei größten Autoren der Antike: Aischylos, Sophokles und Euripides. Sie alle schreiben ihre Stücke für nur eine einzige Aufführung – eine damals übliche Praxis. Nur einem einzigen Dichter wird das Recht auf Wiederaufführung eingeräumt: Aischylos. Zu brillant ist das, was der Adelige aus einem Athener Vorort schreibt, als dass es dem Vergessen überlassen werden soll.

Aischylos´ älteste erhaltene Tragödie heißt „Die Perser“. Sie wird 472 v. Chr. aufgeführt. Das Drama erzählt Zeitgeschichte, die der Dichter selbst erlebt hat: Als Soldat hat er 490 v. Chr. in der Ebene von Marathon die attische Demokratie gegen die persische Despotie verteidigt. Die Perser waren damals in der Überzahl, doch die Griechen kämpften engagierter. Die Schlacht von Marathon wird zum Schicksalssieg, aus dem die Polis und ihre Bürger gestärkt hervorgehen. Aischylos nimmt in seiner Tragödie die Perspektive der unterlegenen Perser ein, was die Tragik erheblich steigert – das Publikum ist begeistert. „Die Perser“ erringt den ersten Platz im tragischen Agon – insgesamt 13 Mal wird Aischylos mit dieser Siegerehrung ausgezeichnet werden.

Erst im Jahr 468 v. Chr. stiehlt ein junges Talent dem großen Aischylos die Show: Sophokles. Seine dramatische Bearbeitung des Ödipus-Mythos gehört neben der Antigone zu den großen Stücken der Bühnenliteratur, die bis heute auf der ganzen Welt gespielt werden. Ödipus, der Sohn des Königs von Theben, wird als Kind ausgesetzt, weil sein Vater eine grausame Weissagung erhielt: Er werde von der Hand seines eigenen Sohnes getötet, prophezeit das Orakel von Delphi dem König. Doch der zum Sterben in der Wildnis ausgesetzte Ödipus überlebt, kehrt an den Königshof zurück – nicht wissend, wer er ist und wer seine Eltern sind. Auf dem Weg nach Theben tötet er im Streit erst seinen Vater und heiratet später seine Mutter Jokaste.

Als der nun zum König erhobene Ödipus im Lauf der Handlung erfährt, wer er in Wahrheit ist und welche Frevel er begangen hat, blendet er sich voller Verzweiflung, Jokaste erhängt sich. Als armer Blinder wandert Ödipus von nun an durch die Fremde, begleitet von seiner Tochter Antigone. Ihr wiederum ist ein eigenes Drama gewidmet, das vom zivilen Ungehorsam dieser jungen Frau erzählt, die aus sich gegen Kreon, den König von Theben stellt, weil sie ihrem toten Bruder ein würdiges Begräbnis bereiten will. Die Sache geht nicht gut aus, am Ende sind sowohl Antigone tot als auch ihr Bräutigam, der wiederum der Sohn des Kreon ist: Tragik, wohin der Zuschauer schaut.

Durch Leid lernen? Oft genug sind die Theaterzuschauer durch die grausigen Handlungen nicht nur geläutert, sondern geradezu erschüttert. Um sie wieder aufzuheitern, etabliert sich bei den Dionysien der Brauch, nach mehreren Tragödien ein erheiterndes Stück aufzuführen: die Komödie. Ursprünglich meint das griechische Wort Komodia den Gesang beim ausgelassenen Umzug (Komos) – dabei pflegten sich die Teilnehmer gegenseitig zu verspotten und die Zuschauer zum Lachen zu reizen. Scharfzüngig kann sie sein, die Komödie, kritisch, belehrend, satirisch – unter den antiken Autoren versteht sich darauf keiner so gut wie der Dichter Aristophanes. Sogar über den sankrosankten Sokrates spottet er im 423 v. Chr. aufgeführten Stück „Die Wolken“. Dort wird der Philosoph als Sophist verunglimpft, der gottlos daherschwätzt und die Jugend verdirbt. Ein Pamphlet? Oder eine Kritik der attischen Gesellschaft, die so manches über Sokrates, den Philosophen der Straßen und Märkte, munkelt? Wir werden es nie erfahren. Fakt ist: Gut 20 Jahre wird  Sokrates der Prozess gemacht. Was als Spott begann, endet mit dem Todesurteil.


Zusatzinfos

90 Dramen soll Aischylos, der große Dichter der Antike, geschrieben haben. Doch nur sieben von ihnen sind uns überliefert. Alles andere: verbrannt, zerfetzt, ertränkt, verschwunden. Viele Bücher der Antike sind für immer verloren, weil sie auf Papyrus oder Pergament geschrieben waren: Medien, die weder Kriege noch Feuer überstehen. Der Brand der Bibliothek von Alexandria dezimierte die Bestände ebenso, wie es die christlichen Glaubensritter während ihrer Kreuzzüge taten. Forscher schätzen, dass rund 90 Prozent der antiken Literatur auf diese und andere Weise zerstört wurden. Was aber erhalten blieb, wird bis heute in den Theatern gespielt. "Die Perser" von Aischylos, "Medea" von Euripides oder "Antigone" von Sophokles - die Antike ist populär geblieben.

Dichterin Sappho: Platon sah sie als "zehnte Muse", Ovid schrieb seine Oden nach ihrem Versmaß, und noch heute wird sie bisweilen für die größte Lyrikerin überhaupt gehalten. Zu Sapphos (Foto: dpa) Zeit, im 7. Jahrhundert vor Christus, galten dichtende Frauen als unschicklich. Doch Sappho schrieb so brillant, dass sie unsterblich wurde. Ihr schönes Gesicht ziert Vasen, Mosaike, Münzen, zahlreiche Abhandlungen befassen sich mit ihren Götterhymnen und Liebesliedern. Die Dichterin stammt von der Insel Lesbos. Ihr Werk ist voller homoerotischer Andeutungen - ob mehr dahinter war als dichterische Leidenschaft, ist nicht gesichert.


Lesen Sie in Folge11:
∇ Die Ursprünge der abendländischen Musik

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Impressum: Der obige Text entstand auf Basis eines Vortrages, den Barbara Abigt im Rahmen der Akademie der Marienberger Seminare gehalten hat. Die Textbearbeitung für den Abdruck besorgten Andrea Mertes und Andreas Pecht. Für den Inhalt verantwortlich: Marienberger Seminare e.V. 

Der 80-minütige Originalvortrag ist als Audio-CD mit bebildertem

Begleitheft zu beziehen bei Marienberger Seminare e.V.,

Tel. 02661/6702, email: mail@marienberger-seminare.de.

Weitere Infos: >> www.marienberger-akademie.de

Die Reihe „Wissen – Reise durch die Kultur- und Geistesgeschichte“ ist eine Kooperation zwischen Rhein-Zeitung und Marienberger Seminbare e.V., sie wird gefördert vom Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur des Landes Rheinland-Pfalz.


(Erstabdruck 9. Juli 2011)

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Bisher erschienene Folgen:


2011-04-02 Prolog/Einführung:
Eine Reise durch die Kultur- und Geistesgeschichte

2011-04-02a Folge 1: Mensch zwischen Natur und Kultur

2011-04-23 Folge 2: Die Menschen werden sesshaft

2011-04-30 Folge 3: Ein etwas anderer Blick auf Familie

2011-05-07 Folge 4: Abschied vom magischen Zeitalter

2011-05-14 Folge 5: Die Wurzeln des Abendlandes

2011-05-21 Folge 6: Wie die Demokratie nach Europa kam

2011-05-28 Folge 7: Rom und die Grenzen des Wachstums

2011-06-25 Folge 8: Wie das Denken sich selbst entdeckte

2011-07-02 Folge 9: Die Vordenker aus Griechenland

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