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2011-11-15a Ausstellungsbesprechung:

„Schädelkult“ zu allen Zeiten in aller Welt – Ausstellung in Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museen


Totenköpfe als historische Zeitzeugen

 
ape. Mannheim. Von einer „schönen“ Ausstellung zu sprechen, verbietet sich in diesem Fall. Hochinteressant und faszinierend ist aber schon, was die Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museen unter dem Titel „Schädelkult“ noch bis Ende April präsentieren: Gut 300 menschliche Totenschädel und Kopfpräparate. Von sensationslüsternem Spiel mit dem Grusel kann keine Rede sein. Die Ausstellung erhellt vielmehr mit geziemender Sachlichkeit das Phänomem der Schädelkulte und führt erstmas den Nachweis, dass sie durch die gesamte Kulturgeschichte und auf allen Kontinenten praktiziert wurden.


„Ich denke, also bin ich“ erklärte vor 400 Jahren der Philosoph Descartes. Sein Totenschädel steht sinnbildlich am Anfang des Ausstellungsrundgangs. Er schlägt die Brücke zur historischen Auffassung, wonach dem Kopf als Sitz des Gehirns und der meisten Sinne eine zentrale Bedeutung für den denkenden und fühlenden Menschen zukommt. Bereits Platon, so erläutern Schifttafeln in Mannheim, galt der Schädel als vollkommenster Körperteil, weil „Gefäß des Geistes“. Aristoteles hingegen verortete die sterbliche Menschenseele im Herzen. Die sogenannte Herz-Hirn-Debatte nahm in der Antike ihren Ausgang, zog sich durchs Mittelalter bis in die Neuzeit.

Nach der Einführung in die Geistesgeschichte und einer Biologielektion über den Aufbau des Schädels geht die Schau auf Zeitreise. Erst bis zu den Anfängen der „Trepanation“, der Öffnung des Schädels aus medizinischen oder rituellen Gründen. Schon vor mehr als 9000 Jahren bohrte oder meißelte man lebenden Mitmenschen Löcher in den Kopf, um böse Geister, schlechte Säfte oder faule Substanz zu entfernen. Erstaunlich: Die archäologischen Befunde belegen, dass durchaus nicht alle Opfer den Torturen erlagen.

Noch weiter zurück führt die Zeitreise zu Fundstücken aus dem südwestdeutschen Raum, nicht zuletzt aus dem Gebiet des heutigen Rheinland-Pfalz. Eines der ältesten Exponate ist die 170 000 Jahre alte Schädeldecke eines Neandertalers aus Ochtendung in der Eifel, die seinerzeit offenkundig als Schale Verwendung fand. Natürlich wird in Mannheim auch das derzeit größte Rätsel der Archäologie in Rheinland-Pfalz thematisiert: Die zwischen 1996 und 2008 ergrabene Grubenanlage von Herxheim (Pfalz) bezeugt für die Jungsteinzeit dort ein grausiges Ritual. Hunderte von Opfern wurden systematisch zerlegt, die Skelettknochen zerschlagen, die Schädel  merkwürdig zugerichtet. Warum, wozu? Die Wissenschaft weiß es (noch) nicht.

Klarer sind die Urteile über ausgestellte Fundstücke aus Kulturen der Bronzezeit, der Eisenzeit oder später etwa in der Ukraine, in Palästina, Frankreich und wiederum in Rheinland-Pfalz. Schädel und Schädelteile lassen hier auf zwei Hintergründe schließen: Ahnenverehrung und Kriegstrophäen.
Da sind Totenköpfe oder Knochenstücke kunstvoll bearbeitet, in Masken, Schutz- und Gedenk-Amulette oder Gebäudeteile integriert. Da hat eine Schädelmaske aus der Hunsrück-Eifel-Kultur (6./7. Jahrhundert v.  Chr.) eigens ein Loch, um sie an die Wand zu hängen. Durch einen in Kobern-Gondorf gefundenen Trophäenschädel ist gar ein Eisennagel zur Befestigung getrieben.

Sie sind für den heutigen Betrachter nicht immer leicht zu verdauen, die Gebräuche unserer Vorvorfahren. Planmäßige Schädel-Deformationen durch Bandagierung oder Brettverpressung der Köpfe Lebender in vielen Kulturen sind entsetzlich anzusehen.  Damals freilich entsprachen sie dem Schönheitsideal oder drückten sozialen Status aus. Fast Schmunzeln macht demgegenüber das bisweilen lebensfrohe „memento mori“ (gedenke des Todes) der Antike. Totenkopf- und Skelettabbildungen auf Weinbechern fordern angesichts des unausweichlichen Todes dazu auf, sich am Leben zu erfreuen.

Auf die Zeitreise folgt in Mannheim ein Gang durch Schädelkulte auf fünf Kontinenten. Totenköpfe in unzähligen Variationen ziehen vorbei. Zur Maske oder Statue mit Ton, Holz, Tierhaut überformt; mit Knochenschnitzereien übersät; mit Haaren, Federn, gar Gold und edlen Steinen geschmückt; zu Schrumpfköpfen gedorrt, zu Kopfkränzen gebündelt oder in Ritualgeräte eingearbeitet. Die meisten dieser (vergangenen) Gebräuche gehen auf den Glauben zurück, dass mit der rituellen Aneignung der Köpfe – wozu vielfach auch die Kopfjagd gehörte – Geist und Kraft der Toten auf die Lebenden übergehen oder die Geister der Toten auf diese Art geehrt respektive besänftigt werden.

Falsch wäre es, von der Befremdlichkeit der Bräuche auf einen Mangel an Respekt für die Toten zu schließen. Das Gegenteil ist der Fall. Erst die europäischen Kolonisatoren griffen kaltschnäuzig nach den Ahnen- und Trophäenschädeln vor allem der indigenen Völker, füllten damit daheim ihre Kabinette und Museen. Insofern verdankt sich die Mannheimer Ausstellung in Teilen auch der weißen Raubzüge früherer Jahrhunderte. Die Macher sind sich dieses Problems bewusst und befassen sich sehr ernsthaft mit aktuellen Forderungen etwa der Maori nach Repatriierung von Überresten ihrer Ahnen.                                              Andreas Pecht



„Schädelkult“, bis 29.4.2012, Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim, Di – So 11 – 18 Uhr.
Info: >> www.rem-mannheim.de; Tel: 0621/ 293 31 50.

Katalog-/Begleitbuch zur Ausstellung: „Schädelkult – Kopf und Schädel in der Kulturgeschichte des Menschen“, Verlag Schnell + Steiner, 388 S., Museumspreis 19,90 Euro, Buchhandel 29,95 Euro


(Erstabdruck Woche 46 im November 2011)

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