Thema Wissenschaft / Bildung
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2011-11-24 Serie "Wissen":

Folge 20
 

Eine neue Macht erwacht: die Liebe
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ana/ape. Seit der Romantik gilt Liebe als wichtigste Bedingung für eine glückliche Paarbeziehung. Doch es war ein weiter kulturhistorischer Weg, bis Trieb, Herz und Zweckbindung sich zur uns bekannten Liebe verbunden hatten.


Um das Jahr 1595 schrieb der englische Dramatiker William Shakespeare ein Theaterstück, das zur berühmtesten Liebesgeschichte aller Zeiten werden sollte: „Romeo und Julia“. Das Stück schildert Vorgänge, die der Mehrzahl damaliger Zeitgenossen noch ungeheuerlich vorgekommen sein müssen: Getrieben allein vom Gefühl der Liebe, setzen sich zwei junge Leute kompromisslos über Normen, Sitten und Gebräuche ihrer Gesellschaft hinweg.
 
Dass ihre Familienclans in Verona bis aufs Blut verfeindet sind, hält Romeo und Julia nicht voneinander ab. Den Eltern verweigern sie den Gehorsam; Julia entzieht sich durch Flucht in die Arme Romeos den Plänen ihres Vaters zur wohlfeilen Zwangshochzeit mit einem andern. Quasi nur Stunden nach ihrer Erstbegegnung verheiraten die Liebenden sich heimlich und gehen miteinander ins Bett. Die beiden interessieren sich nicht im geringsten für die damals allgemein wichtigste Frage an die Ehe: Ist eine bestimmte Verbindung von materiellem und sozialem Vorteil und/oder verspricht sie zweckmäßige Lebenstüchtigkeit? Die pure Liebe des Shakespear‘schen Paares behauptet sich gegen familiäre wie obrigkeitliche Verfolgung und erweist sich schließlich stärker als selbst der Tod.

Die Geschichte von Romeo und Julia führt das Liebesgefühl als eine Kraft vor, die sämtlichen Widrigkeiten des gewöhnlichen Lebens trotzt. Liebe, so die Behauptung, sei das mächtigste Bindeglied zwischen zwei Menschen. Mit diesem auf die Paar-Bildung und nicht zuletzt auch auf die Ehe gerichteten Liebesideal war Shakespeare der gesellschaftlichen Norm seiner Zeit weit voraus. Er nahm gewissermaßen den romantischen Gefühlsidealismus vorweg, der sich ab dem späten 18. und vor allem im 19. Jahrhundert ausbreitete.

Diese historisch neue Art von Liebe, die sich mit „Romeo und Julia“ am Horizont andeutete, gilt der Moderne inzwischen längst als primäre Bedingung für erfüllte Zweisamkeit und Eheglück. Seit zwei Drittel der jüngeren Weltliteratur und nachher auch eine erdrückende Mehrzahl aller Spielfilme die romantische Liebe als wichtigste Essenz der Paar-Bildung idealisieren, erscheint sie uns wie eine dem menschlichen Wesen seit jeher innewohnende Naturgewalt. Tatsächlich aber handelt es sich bei Liebe vor allem um ein Kulturphänomen, das in unterschiedlichen Epochen jeweils anders ausgeprägt ist.

Die menschliche Frühgeschichte kannte keine Liebe im romantischen Sinn. Zunächst war da über Jahrzehntausende nur der animalische Sexualtrieb, der zur körperlichen Vereinigung und zur Kindszeugung führte – ohne dass damit zwangsläufig die Bildung fester, gar lebenslanger Paare einherging. Wobei bereits Shakespeare in „Romeo und Julia“ wie in vielen anderen seiner Stücke nie einen Hehl daraus machte, dass er in sexueller Begierde und ihrem Vollzug einen Grundzug des Menschlichen sieht, dem er einen wichtigen Anteil an der Macht der Liebe zumisst.

Der Begriff „Love“ (Liebe) schließt bei Shakespeare stets fleischliche Begierde mit ein. Das, sowie die Zweck- und Normfreiheit seines gefühligen Liebesbegriffs, unterscheidet ihn erheblich vom Ideal der platonischen, außerehelichen „hohen Minne“ vorausgegangener Jahrhunderte (wie sie in Folge 19 unserer Serie behandelt wurde). Doch es führt nun historisch keine direkte Linie von Shakespeare etwa zum jungen Werther – jener Figur, die sich im 1774 erschienen Roman aus Liebeskummer die Kugel gab und ihren Erfinder Goethe schlagartig berühmt machte. In diesem, dem 18., Jahrhundert, überstürzten sich diverse Zivilisations- und Kulturentwicklungen, die auf sehr unterschiedliche Art das Liebesverständnis prägen sollten.

Das erstarkende Bürgertum und die vernunftbetonte Weltsicht der aufkommenden Geistes- und Wissenschaftsepoche der Aufklärung konnten nicht mehr viel anfangen mit dem vergeblichen Seufzen, Schwärmen, kniefälligen Umwerben der höfischen Minne. Das war vielen damaligen Zeitgenossen ebenso so suspekt und weltfremd wie die Irrationalität der Liebe bei Romeo und Julia. Weil auch der Mensch dieser Zeit aber ohne zwischenmenschliche Herzlichkeit nicht auskommt, kam ein neues Ideal zu hohem Ansehen: die Freundschaft. Sie trat dem rationalen Geschäfts- und Wissenschaftssinn in teils ziemlich exaltierte Form zur Seite: Freunde überschütteten sich mit tausend Küssen, fielen einander in die Arme, schworen sich dauerhafte Verbundenheit...

Was die Ehe jener Zeit angeht, so galt das althergebrachte Prinzip der Gattenauswahl durch die Eltern (Väter) und der Schichtengleichheit der Eheleute weiter als „vernünftig“. Doch färbte zugleich auch der Freundschafts-Boom aufs Eheverständnis ab: Eine Ehe wurde als „gut“ betrachtet, wenn zur sachlichen Solidität auch Respekt und Zuneigung zwischen den Eheleuten kamen. Wobei verbreitet davon ausgegangen wurde, dass sich Zuneigung/Liebe aus dem Respekt ergibt. Leidenschaft allerdings, die wurde als anstößig, ja sogar hinderlich angesehen für ein gedeihliches familiäres Zusammenleben.

So entstand im Laufe des 18. Jahrhunderts ein bürgerliches Ehe-Ideal, das danach trachtete, Respekt, Freundschaft, Zuneigung/Liebe und eine gemäßigte Sexualität mit materiellen und sozialen Ehegründen in Einklang zu bringen. Zeitgleich kamen freigeistige Ideen auf, die solcherart moralischen Konventionen kritisch gegenüberstanden. Die Abenteurer und Schriftsteller Giacomo Casanova oder Marquis de Sade seien als extreme, berühmte Beispiel für die seinerzeit sich ausbreitende „Libertinage“ angeführt. Diese Freizügigkeit erweiterte zwar das Repertoire der Liebe und der geschlechtlichen Beziehungen radikal. Aber anders als die heraufziehenden antifeudalen Revolutionen, die die gesellschaftlichen Strukturen von Grund auf veränderten, blieb in Sachen Geschlechterbeziehung die monogame Ehe die dominante Lebensform.

Das änderte sich auch im 19. Jahrhundert nicht wesentlich – obwohl durch dieses Jahrhundert die ersten großen Bewegungen fluteten, die sich für die Emanzipation der Frau stark machten. In der Folge der Französischen Revolution (1789) verbreitet sich die Idee der Gleichheit von Mann und Frau. Der Kampf ging um Wahlrecht, Arbeitsrecht, Vertragsrecht, Bildungsrecht für Frauen. Die innerfamiliäre Ordnung blieb davon im Grunde jedoch vorerst weitgehend unberührt: Auch mit der wachsenden Bedeutung, die man nun der romantischen Liebe für die Ehe zusprach, blieb die Vorherrschaft des Mannes in der Familie vereinbar.

Sah man im 18. Jahrhundert Erleben und Handeln idealerweise als Folge von Denken und Erkennen, so betrachtete man im romantischen 19. Jahrhundert auch Gefühle wie Liebe, ja sogar die sexuelle Lust als zum Menschen gehörig. Von daher galten sie, zumal im mäßigenden Ordnungsgefüge der Ehe, als durchaus vernünftig. Die Romantik vollzieht mit ihrer Betonung des Individuums und dessen empfindsamer Ganzheitlichkeit den Schritt hin zum Verständnis der „Liebe um der Liebe willen“. Damit vereinte diese Epoche zugleich, was man das ganze Mittelalter hindurch bis in die Neuzeit hinein für schier unvereinbar gehalten hatte: Liebe und Ehe.
 
Die Liebe wurde nun – wie von Shakespeare 300 Jahre zuvor vorweggenommen – zum ideellen Grund für die Ehe. So zumindest das romantische Ideal, das bis in die Gegenwart unsere Vorstellung vom Glück der Ehe oder inzwischen jedweder Paarbeziehung prägt. Auf den Realtitätsschock, dem Liebende ausgesetzt sind, sobald die anfänglichen Schmetterlinge im Bauch ermüden, bereitet das Ideal allerdings nicht vor.


Zusatzinfos

Im Musical "Anatevka" nach dem Roman "Tewje, der Milchmann" erlebt Tewje 1905 in einem ukrainischen Dorf, wie der Trend zur romantischen Liebe seine Position als traditionsbewusstes Oberhaupt einer jüdischen Familie unterwandert: Die drei Töchter verweigern sich seinen Plänen zur zweckmäßigen Verheiratung mit ihm "passend" erscheinenden Kandidaten. Widerspenstig durchbrechen die entflammten Herzen der jungen Frauen überkommene Standes- und Religionsschranken. Die älteste wendet sich einem verarmten Jugendfreund zu. Die nächste einem studentischen Revolutionär, und die jüngste will einen Nichtjuden heiraten.

Platonische Liebe
nennen wir heute eine seelisch-geistige Liebe, die ganz ohne Sexualität auskommt. Dem alten Platon (Foto: dpa) deshalb einen Hang zu erotischer Enthaltsamkeit zu unterstellen wäre indes verfehlt. Der griechische Philosoph hatte lediglich drei Arten von Liebe definitorisch gegeneinander abgegrenzt. Mit "Eros" bezeichnet er die sinnlich-erotische Liebe, das leidenschaftliche Begehren wie den Wunsch, begehrt zu werden. "Philìa" ist bei Platon die Freundesliebe auf Basis gegenseitiger Anerkennung. "Agápe" schließlich meint die selbstlose und fördernde Liebe gegenüber dem Nächsten, ja sogar gegenüber dem Feind (Feindesliebe).


Lesen Sie in Folge 21:
Ein Mainzer Drucker verändert die Welt - Gutenberg

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Impressum: Der obige Haupttext entstand auf Basis eines Vortrages, den Barbara Abigt im Rahmen der Akademie der Marienberger Seminare gehalten hat. Die Textbearbeitung für den Abdruck besorgten Andrea Mertes und Andreas Pecht. Für den Inhalt verantwortlich: Marienberger Seminare e.V. 

Der 80-minütige Originalvortrag ist als Audio-CD mit bebildertem

Begleitheft zu beziehen bei Marienberger Seminare e.V.,

Tel. 02661/6702.

Weitere Infos: >> www.marienberger-akademie.de

Die Reihe „Wissen – Reise durch die Kultur- und Geistesgeschichte“ ist eine Kooperation zwischen Rhein-Zeitung und Marienberger Seminare e.V., sie wird gefördert vom Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur des Landes Rheinland-Pfalz.


(Erstabdruck 15. November 2011)

                                                 
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Bisher erschienene Folgen:

2011-04-02 Prolog/Einführung:
Eine Reise durch die Kultur- und Geistesgeschichte

2011-04-02a Folge 1: Mensch zwischen Natur und Kultur

2011-04-23 Folge 2: Die Menschen werden sesshaft

2011-04-30 Folge 3: Ein etwas anderer Blick auf Familie

2011-05-07 Folge 4: Abschied vom magischen Zeitalter

2011-05-14 Folge 5: Die Wurzeln des Abendlandes

2011-05-21 Folge 6: Wie die Demokratie nach Europa kam

2011-05-28 Folge 7: Rom und die Grenzen des Wachstums

2011-06-25 Folge 8: Wie das Denken sich selbst entdeckte

2011-07-02 Folge 9: Die Vordenker aus Griechenland

2011-07-09 Folge 10: Vorhang auf für das antike Theater

2011-07-25 Folge 11: Ursprünge der abendländischen Musik

2011-07-30 Folge 12:  Antike Naturwissenschaft

2011-08-07 Folge 13: Antike Architektur

2011-08-20a Folge 14: Bildende Kunst der Antike

2011-08-27a Folge 15: Kindertage des Christentums

2011-09-30 Folge 16: Kriegszüge im Zeichen des Kreuzes

2011-10-24b Folge 17: Romanik und Gotik

2011-11-07 Folge 18: Mittelalterliche Städtebildung

2011-11-15 Folge 19: Das seltsame Ideal der "hohen Minne"


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