Thema Wissenschaft / Bildung
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2012-12-18 Serie "Wissen":

Folge 29
 

Die Vernunft geht um in Europa

 
ana/ape. Seit Ende des Mittelalters erlebt die Zivilisation eine bis heute anhaltende stete Beschleunigung ihrer Entwicklung. Das 17./18. Jahrhundert brachte erneut einen geistig-gesellschaftlichen Umbruch mit sich: die Aufklärung.


„Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ So definierte Immanuel Kant das Kernstück der Aufklärung. Diese sich im 17. Jahrhundert entwickelnde philosophisch-politische Bewegung erklärte erstmals menschliche Vernunft zum höchsten und allgemeingültigen Beurteilungskriterium. Überkommene politische Strukturen wurden dadurch ebenso infrage gestellt wie das Bewusstsein des Einzelnen von sich selbst und damit das Menschenbild generell. Kurzum: Die Gesellschaft erlebte eine Erschütterung ihrer sämtlichen Grundfesten.

Religiöse Vorstellungen über das Funktionieren der Welt wurden mehr und mehr von einem naturwissenschaftlichen Weltbild abgelöst. Die Forderung an den Einzelnen, durch eigenes Nachdenken zu erkennen, was richtig oder falsch, gerecht oder ungerecht ist, zersetzt die alte Autoritätsgläubigkeit. Neue Staatsformen werden denkbar. Die Aufklärung schafft die Grundlage zur Überwindung von Feudalismus und Absolutismus. Sie wird damit zu einem entscheidenden Entwicklungsschritt der neueren Geschichte, der schließlich politisch-weltanschaulich über die Französische Revolution und materiell über die technisch-industrielle Revolution in unsere moderne Welt einmündet.

Die wichtigsten Vertreter der Aufklärung waren Philosophen, Dichter, Dramatiker, Wissenschaftler, vielfach Universalgelehrte im Geiste der Renaissance. Um nur einige zu nennen: der Engländer John Locke als früher Vordenker oder der Schotte David Hume; Immanuel Kant, Friedrich Schiller oder Gotthold Ephraim Lessing in Deutschland; Jean-Jacques Rousseau und Voltaire in Frankreich.
Deren Ideen verbreiteten sich schnell, wurden sogar an manchem europäischen Fürstenhof mit Interesse wahrgenommen, fließen in die höfischen Disputationen ein. Denn dass die Zeiten sich erneut im Umbruch befinden, lag seit dem Ende Religionskriege des 16. und frühen 17. Jahrhunderts in der Luft. Einerseits erlebte der Absolutismus seine Glanzzeit, andererseits war der stetige Aufstieg des Bürgertums zum ökonomisch bedeutsamen Faktor unübersehbar. Zugleich rüttelten Entdeckungen von Seefahrern und Reisenden, wissenschaftliche Forschungen und technische Entwicklungen an eben noch unverrückbaren Gewissheiten.

Die Zeit, da die Bibel Mittel- und Orientierungspunkt des akademischen Lebens war und Theologie die höchste Wissenschaft, neigte sich erkennbar ihrem Ende zu. Neue Disziplinen wie Physik, Biologie, Chemie und Ökonomie befanden sich langsam, aber stetig auf dem Vormarsch. Die soziale Kluft zwischen unermesslichem Reichtum und barocker Prunksucht einerseits sowie bitterer Armut auf Seiten des teils noch immer in mittelalterlichen Vorstellungen befangenen Volkes, setzte die Ständegesellschaft immer stärker unter Spannung.

In diese Situation hinein traten die Aufklärer mit ihrer Forderung, der Mensch, alle Menschen, mögen sich ihres eigenen Verstandes bedienen. Der bekannteste Vertreter der Aufklärung in Deutschland war Immanuel Kant (1724 - 1804). Er formulierte: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“ Kant sei hier nur kurz angesprochen, weil die nächste Folge unserer Wissens-Serie sich ausschließlich mit ihm befassen wird. Der Blick sei exemplarisch gerichtet auf zwei bedeutende Vertreter der Aufklärung, der eine aus Frankreich, der andere aus deutschen Landen: Voltaire (1694 - 1778) und Lessing (1729 - 1781) .

Der 30 Jahre vor Kant geborene Franzose propagierte eine Art aufgeklärten Absolutismus. Er wünschte einen „guten König“, der sich als erster Diener des Staates versteht und als Sachwalter des Gemeinwohls. Voltaire trat für die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz ein, war allerdings auch der Auffassung, dass es Unterschiede bei sozialem Status und materiellem Besitz immer geben werde. Er verkehrte an etlichen Höfen Europas. Wurde dort als universalgebildeter Denker, Dichter, Dramatiker und spitzzüngiger Gesellschafter durchaus geschätzt, ja teils verehrt. So vom Preußenprinzen und späteren König Friedrich II.

Voltaire war ein entschiedener Religionskritiker. Seiner Ansicht nach widersprechen die Traditionen aller monotheistischen Religionen dem aufklärerischen Streben nach Toleranz und Vernunft. Weshalb die katholische Kirche seine Werke auf den Index setzte. Voltaires berühmt-berüchtigte Art, mit scharfen Spott und beißendem Sarkasmus dem selbstzufriedenen, abgehobenen, großmächtigen Adel die Leviten zu lesen, brachte ihm Anfeindungen bis hin zu Ausweisung und Gefängnis ein.
Der gerade in jüngerer Gegenwart auf deutschen Bühnen sehr viel gespielte Klassiker „Nathan der Weise“ von Gotthold Ephraim Lessing darf als bekanntestes Beispiel für das Toleranzbemühen dieses deutschen Autors gelten. In dem 1778 entstandenen Theaterstück treffen zur Zeit der Kreuzzüge in Jerusalem der muslemische Sultan Saladin, der jüdische Händler Nathan und ein christlicher Tempelritter aufeinander und geraten in Konflikt darüber, welche Religion die richtige sei. Ganz im Geiste der Aufklärung können die drei ihren Konflikt durch Einsatz vernünftigen Nachdenkens lösen. Sie kommen von der gewohnten Dogmatik ab und diskutieren stattdessen, wie jeder die Leitsätze seiner Religion in seinem Leben verwirklichen könne, um möglichst viel Gutes zu tun. Dazu müssten die Religionen gegeneinander Toleranz üben.

Lessing stellt im „Nathan“ wie in seinen religionstheoretischen Schriften Menschlichkeit auf Erden als universelles Prinzip über den rechthaberischen Zwist der Religionen um den allein seeligmachenden Weg zu Gott. Atheismus wurde ihm oft vorgeworfen, aber genau genommen wies er seinen gläubigen Zeitgenossen den Weg zum modernen „Christentum der Vernunft“. Wie Voltaire, so arbeitete auch Lessing intensiv mit den Mitteln von Witz, Ironie und Polemik. Seine Bedeutung für die weitere Entwicklung gerade der Literatur und des Theaters war enorm. Nicht zuletzt deshalb, weil er dort das Bürgertum als tragendes Handlungspersonal einführte.

Die Aufklärung stellt in den Vordergrund einen Menschen, der sich seines eigenen Kopfes bedienen solle, um die Welt zu begreifen und seine Stellung darin zu überdenken. Dies setzt natürlich ein Mindestmaß allgemeiner Bildung und angemessenen Denkvermögens bei möglichst großen Teilen der Bevölkerung voraus. Folglich richtete sich der aufklärerische Blick verstärkt auch auf das Schul- und Bildungswesen. Das mittlere 18. und frühe 19. Jahrhundert wurde deshalb zu einer Hochphase systematischer, bildungsreformerischer Aufbrüche. Dafür stehen beispielsweise in Frankreich der Universalgelehrte Jean-Jacques Rousseau, in der Schweiz der Pädagoge und Sozialreformer Heinrich Pestalozzi, in Deutschland der preußische Schulreformer Wilhelm von Humboldt.
 
Humboldt trat dafür ein, allen Teilen der Bevölkerung Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Nach seinen Vorstellungen entstand in Preußen die bis heute in Deutschland gültige Struktur von Elementarschule, Gymnasium und Universität. Das Konzept Humboldts basierte auf dem humanistischen Ideal der allgemeinen Bildung. Diese sollte nicht der bloßen Anhäufung von Faktenwissen und berufspraktischen Fertigkeiten dienen. Bildung zielt nach Humboldt vielmehr auf die Reifung des gesamten Menschen, hat seine Selbstentfaltung, das Wachsen von Geist und Erkenntnis zum Ziel.


Zusatzinfos

Das gesamte Wissen der damaligen Zeit in einem Buchwerk zusammenfassen und so allen Menschen zugänglich machen: Dieses ehrgeizige Ziel verfolgten Denis Diderot, Jean Baptiste le Rond d\\'Alambert und 142 Mitarbeiter mit der "Enzyklopädie oder ein durchdachtes Wörterbuch über die Wissenschaften, die Künste und das Handwerk". Mit 35 Bänden, erschienen zwischen 1751 und 1780, wurde die "Encyclopedie" (Foto: Wikipedia) zum Hauptwerk der Aufklärung. Der Anspruch seiner 60 000 Artikel war, das menschliche Wissen am Maßstab der Vernunft zu messen. Francis Bacons Devise "Wissen ist Macht" durchdrang die Arbeit an diesem gewaltigen Werk im Dienste einer neuen Zeit und Ordnung.

Die Position der Frau
wandelt sich während der Aufklärung mehrfach. Schon im 17. Jahrhundert ist es für Frauen durchaus legitim, publizistisch zu wirken. Bis ins frühe 18. Jahrhundert tauchen in Romanen vermehrt Frauen auf, die gegen ihre Eltern opponieren oder sich gegen männliche Übergriffe nötigenfalls mit der Waffe wehren. Gleichzeitig erlaubt die Mode der Galanterie, dass Frauen und Männer sich in der Diskussion auf gleicher Augenhöhe begegnen. Ab etwa 1720 verbreitet sich dann aber das Bild von der Frau als schutzbedürftigem schwachen Geschlecht. Um 1800 sind Hosenrollen weitgehend von den Bühnen verschwunden, spielen - ihrer vermeintlichen "Natur" folgend - Frauen schwächere Frauen.

Lesen Sie in Folge 30:
∇  Kant - der Geistesgigant von Königsberg

                                              ***

Impressum: Der obige Haupttext entstand in Anlehnung an einen Vortrag, den Barbara Abigt im Rahmen der Akademie der Marienberger Seminare gehalten hat. Die Textbearbeitung für den Abdruck besorgten Andrea Mertes und Andreas Pecht. Für den Inhalt verantwortlich: Marienberger Seminare e.V. 

Der 80-minütige Originalvortrag ist als Audio-CD mit bebildertem

Begleitheft zu beziehen bei Marienberger Seminare e.V.,

Tel. 02661/6702.

Weitere Infos: >> www.marienberger-akademie.de

Die Reihe „Wissen – Reise durch die Kultur- und Geistesgeschichte“ ist eine Kooperation zwischen Rhein-Zeitung und Marienberger Seminare e.V., sie wird gefördert vom Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur des Landes Rheinland-Pfalz.



(Erstabdruck 3. Woche im  Dezember 2012)

                                                     ***

Bisher erschienene Folgen:

2011-04-02 Prolog/Einführung:
Eine Reise durch die Kultur- und Geistesgeschichte

2011-04-02a Folge 1: Mensch zwischen Natur und Kultur

2011-04-23 Folge 2: Die Menschen werden sesshaft

2011-04-30 Folge 3: Ein etwas anderer Blick auf Familie

2011-05-07 Folge 4: Abschied vom magischen Zeitalter

2011-05-14 Folge 5: Die Wurzeln des Abendlandes

2011-05-21 Folge 6: Wie die Demokratie nach Europa kam

2011-05-28 Folge 7: Rom und die Grenzen des Wachstums

2011-06-25 Folge 8: Wie das Denken sich selbst entdeckte

2011-07-02 Folge 9: Die Vordenker aus Griechenland

2011-07-09 Folge 10: Vorhang auf für das antike Theater

2011-07-25 Folge 11: Ursprünge der abendländischen Musik

2011-07-30 Folge 12:  Antike Naturwissenschaft

2011-08-07 Folge 13: Antike Architektur

2011-08-20a Folge 14: Bildende Kunst der Antike

2011-08-27a Folge 15: Kindertage des Christentums

2011-09-30 Folge 16: Kriegszüge im Zeichen des Kreuzes

2011-10-24b Folge 17: Romanik und Gotik

2011-11-07 Folge 18: Mittelalterliche Städtebildung

2011-11-15 Folge 19: Das seltsame Ideal der "hohen Minne"

2011-11-24 Folge 20: Eine neue Macht erwacht - die Liebe

2011-11-24a Folge 21: Mainzer Drucker verändert die Welt

2011-12-08 Folge 22: Die Erde dreht sich um die Sonne

2011-12-15 Folge 23: "Moderne" Naturwissenschaft beginnt

2011-12-15a Folge 24: Die Renaissance

2011-12-22b Folge 25: Luther und die Reformation

2012-01-02a Folge 26: Calvinismus und Kapital

2012-01-05 Folge 27: Der Dreißigjährige Krieg

2012-01-12 Folge 28: Die Geburt der Oper im Barock

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