Thema Wissenschaft / Bildung
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2012-02-27b Serie "Wissen":

Folge 34
 

Musik, die reine Stimme des Gefühls

 
ana/ape. Heute gilt als selbstverständlich: Musik ist eine Kunst, die vor allem Gefühle ausdrücken und beim Hörer Gefühle erzeugen soll. Doch dieses Musikverständnis ist noch gar nicht so alt, es entstand erst in der Romantik.



Es ist auch im Falle der musikalischen Romantik wie bei allen kulturhistorischen Epocheumbrüchen: Der romantische Geist fiel nicht blitzartig über Komponisten, Virtuosen und Publikum her. Der Wandel von der „Wiener Klassik“ Haydns, Mozarts und Beethovens zur Romantik Schuberts, Berlioz', Schumanns oder Chopins war ein Veränderungsprozess. Der setzte, grob gesagt, schon beim Klassiker Ludwig van Beethoven (1770 – 1827) selbst ein. Und er zog sich in vielerlei Verzweigungen durch die Musik des gesamten 19. Jahrhunderts.

Beethoven gilt nicht ganz zu Unrecht als Wegbereiter der Musikromantik, finden sich doch schon in seinen Werken zahlreiche eigensinnige Verstöße gegen tradierte Normen der musikalische Klassik und vorheriger Epochen. Befreiung des künstlerischen Schaffens von schulmäßigen Regeln und fest definierten Formen war ein Kerngedanke der Romantik, entwickelt und praktiziert vom ausgehenden 18. Jahrhundert an zuerst durch Dichter und Schriftsteller. Bis er sich auch in der Musik durchgesetzt hatte, dauerte es ein paar Jahre länger. Beethoven war da seiner Zeit voraus: Er nahm sich einfach die Freiheit, öfter seinen musikalischen Gefühlsausdruck über die Einhaltung alter Kompositionsregeln zu stellen.

Nicht selten irritierte er sein Publikum damit gehörig. Denn Konzertbesucher nahmen Musik damals noch anders wahr als wir heute. Das adlige und das mit Macht aufstrebende neue, gebildete Bürgertum kannte die überlieferten inneren Ordnungsprinzipien der Musik sehr gut. Es wusste, wie eine Sinfonie aufgebaut zu sein hatte, wie musikalische Themen entwickelt sein sollten, wie Satzfolge, Tonarten, Harmoniestrukturen aufeinander bezogen sein mussten. Man könnte etwas überspitzt sagen: Für den vorromantischen Musikliebhaber bestand der höchste Konzertgenuss nicht im emotionalen Empfinden der Musik, sondern darin, herauszuhören mit welcher Kunstfertigkeit sich eine Komponist innerhalb des bekannten Regelwerks zu bewegen weiß.

Entsprechend waren die Hörerwartungen des klassischen Publikums – die Beethoven oft nicht mehr bediente und die sich seine romantischen Nachfolger schließlich gar nicht mehr kümmerten. Sie ersetzten die intellektuelle Herangehensweise an die Musik durch Emotion und Intuition. Gefühle und Stimmungen gewannen die Oberhand über die Form, aufseiten der Künstler wie alsbald des Publikums. Und dabei ist es im Grundsatz bis heute geblieben: Das Musikhören des allgemeinen Publikums ist ein romantisch geprägtes, auf ganzheitliches Musikempfinden gerichtetes Hören. Wann immer neue Entwicklungen in der Kunstmusik vor allem auf mathematische, geometrische, serielle oder andere Strukturelemente abheben, haben sie es richtig schwer gegen jenes Gefühlshören anzukommen.

Wir wissen aus der vorherigen Folge der „Wissens“-Reihe, dass die Romantiker an der Überbetonung von Wissenschaftlichkeit, Sachlichkeit und Geschäftsmäßigkeit, an der „Entzauberung der Welt“ schlechthin, litten. Der kopflastigen Moderne aus Vernunftbetonung und vorwärtsdrängender Industrialisierung setzten die Dichter eine Poesie des Gefühls, des Geheimnisvollen und Mystischen, der Naturliebe, des Rückgriffs auf uralte Sagen, Ritterepen und Märchen entgegen. Liebe und Leid, Weltschmerz und Wanderlust, melancholische Einsamkeit und fröhliche Geselligkeit: All diese sinnlichen Gegensätze gehören zur Ganzheit des Menschen wie die verschiedenen Kunstsparten zur Ganzheit der Kunst gehören.

Nach beidem strebte die Romantik, weshalb ihr auch die Aufhebung der strengen Trennung der Kunstsparten voneinander ein Anliegen war. So finden sich in der Romantik zahlreiche Musikwerke mit Bezügen zu anderen Künsten; insbesondere zur Literatur, aber auch zur Malerei und zum Tanz. Außermusikalische Themen halten Einzug in die Kunstmusik, werden zum inhaltlichen Programm von Kompositionen. Das 19. Jahrhundert wurde die hohe Zeit dieser sogenannte „Programmmusik“. Es ist kein Zufall, dass ein Höhepunkt der deutschsprachigen Frühromantik in Kunstliedern von Franz Schubert (1797 – 1828) zu finden ist. Als „schauerlich“ bezeichnete er die Lieder seines Zyklus „Winterreise“. Dieser vereint Klavier und Singstimme mit Literatur, nämlich mit den Winterreise-Gedichten von Wilhelm Müller. Die Musik ist überwiegend geprägt von Trauer und Sinnlosigkeit des Daseins. Deshalb verwendete Schubert auch reichlich die schwermütige Moll-Tonarten.

Typisch für die Romantik ist, dass sich im Ausdruck der Musik oft auch ein momentanes oder generelles Lebensgefühl der Komponisten spiegelt. In Schuberts Werken hinterlassen die sein Leben prägende Schwermut und Krankheit vielfache Spuren. Ähnlich in der Hochromantik bei Frederic Chopin (1810 – 1849) und Robert Schumann (1810 – 1856). Beide erreichten in ihrer Musik eine bis dahin nie gekannte Intensität der Empfindsamkeit. Beide gelten sie auch persönlich als quasi Prototypen des hypersensiblen, leidenschaftlichen, von Tragik überschatteten Romantik-Künstlers. Dass Chopin nach vielen Krankheiten und nervlichen Zerrüttungen schon 39-jährig starb und Schumann in Umnachtung endete, verstärkt die fast mystische Einfärbung des romantischen Bildes vom Kunstgenie.

Das sich der romantische Geist im Bereich der Oper rasch durchsetzen konnte, liegt auf der Hand: Mit der dort ohnehin vorhandenen Verbindung zwischen Musik, Wort, Handlung, (Szenen-)Bild und bisweilen Tanz bot sie einen idealen Nährboden. Spätesten mit Carl Maria von Webers „Der Freischütz“ (1821) waren zentrale Elemente der Romantik auf den Bühnen etabliert: Einfaches Volk in ländlicher Umgebung als Handlungsträger; Natur als Idylle wie auch als Ort des Unheimlichen; Visionen und Traumgespinste; Freund und Leid, Liebe und Tod als Einheit der Gegensätze. Bei Richard Wagner verband sich all dies mit dem systematischen Rückgriff auf Sagen und Mythen zu Gesamtkunstwerken wie „Der fliegende Holländer“, „Tannhäuser“ oder „Lohengrin“.

Doch erzählerische, fantastische oder bildhafte Aspekte hielten ebenso Einzug in die Instrumentalmusik. Was unter anderem zu einer massiven „Aufrüstung“ der Orchester im Laufe des 19. Jahrhunderts führte. Sie wurden immer größer und neue Instrumente kamen hinzu – um neue Klangräume und Effekte zu erschließen, um überwältigende Gefühlsausdrücke zu ermöglichen.
 
Hector Berlioz (1803 – 1869) beispielsweise versetzt das Publikum mit seiner „Symphonie Fantastique“ musikalisch mitten in einen Hexensabbat. Geister, Hexen, Ungeheuer aller Art versammeln sich zu einer Totenfeier. Es ertönen seltsame Geräusche, Stöhnen, schallendes Gelächter und ferne Schreie. Die Totenglocken läuten und das Ganze schwingt sich zu einer grotesken Parodie des „Dies Irae“ auf, des mittelalterlichen Liturgiegesangs vom Jüngsten Gericht. Themen aus Werken Shakespeares, Goethes, Schillers, Byrons und anderer Schriftsteller wurden von Berlioz und Kollegen in Musik umgesetzt. Der russische Komponist Modest Mussorgski (1839 – 1881) vertonte in „Bilder einer Ausstellung“ Eindrücke von Gemälden.

Und wie in der Romantik generell, so wuchs auch in der Musikromantik bald der Nationalgedanke heran. In aller Herren Länder begaben sich Musiker auf die Suche nach den kulturellen Wurzeln ihrer Heimat in den regionalen Volkskulturen. Ihr Ziel: Auf dieser Basis eine je spezifische Nationalmusik zu schaffen. Wie Michael Glinka diese Bewegung für Russland anstieß, so Bedrich Smetana für Tschechien, Edvard Grieg für Norwegen, Jean Sibelius für Finnland...


Zusatzinfos

Das Ballett erblüht: 

Ganz dem Tanz gewidmete Musik ist eine Erfindung der Romantik. Zwar gab es seit Mitte des 17. Jahrhunderts Musik für Balletteinlagen in der Oper. Doch erst im 19. Jahrhundert entstanden dann abendfüllende Ballette auf Basis literarischer Librettos und zu eigens dafür komponierten Musikwerken. "La Sylphide", "Giselle" und "Coppélia" sind frühe Meisterwerke des romantischen Ballettgenres. Europäisches Zentrum der Ballettkunst war zuerst Paris. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden St. Petersburg und Moskau zu Metropolen der Tanzkunst, nicht zuletzt dank der dort uraufgeführten Ballette "Schwanensee", "Dornröschen" und "Nussknacker" nach der Musik von Tschaikowski.

Grenzen sprengen:

Im Laufe der Spätromantik stoßen viele Komponisten in Bereiche vor, die manchen Musikfreund bis heute befremden. Richard Wagner, Gustav Mahler, Richard Strauss gehen bis an die Grenzen der Tonalität oder darüber hinaus. Ähnlich wie im malerischen Impressionismus lösen Claude Debussy oder Maurice Ravel die großen Strukturen in kleinste Nuancen auf. An der Wende zum 20. Jahrhundert ist nichts mehr unmöglich, sei es die Hinwendung zum komponierten Geräusch oder die Rückbesinnung auf die alten Meister des Barock.


Lesen Sie in Folge 35:
Gottes Werk und Darwins Beitrag


                                                ***

Impressum: Der obige Haupttext entstand in Anlehnung an einen Vortrag, den Bastian Klein im Rahmen der Akademie der Marienberger Seminare gehalten hat. Die Textbearbeitung für den Abdruck besorgten Andrea Mertes und Andreas Pecht. Für den Inhalt verantwortlich: Marienberger Seminare e.V. 

Der 80-minütige Originalvortrag ist als Audio-CD mit bebildertem

Begleitheft zu beziehen bei Marienberger Seminare e.V.,

Tel. 02661/6702.

Weitere Infos: >> www.marienberger-akademie.de

Die Reihe „Wissen – Reise durch die Kultur- und Geistesgeschichte“ ist eine Kooperation zwischen Rhein-Zeitung und Marienberger Seminare e.V., sie wird gefördert vom Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur des Landes Rheinland-Pfalz.


(Erstabdruck 8. Woche im Februar 2012)

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Bisher erschienene Folgen:


2011-04-02 Prolog/Einführung:
Eine Reise durch die Kultur- und Geistesgeschichte

2011-04-02a Folge 1: Mensch zwischen Natur und Kultur

2011-04-23 Folge 2: Die Menschen werden sesshaft

2011-04-30 Folge 3: Ein etwas anderer Blick auf Familie

2011-05-07 Folge 4: Abschied vom magischen Zeitalter

2011-05-14 Folge 5: Die Wurzeln des Abendlandes

2011-05-21 Folge 6: Wie die Demokratie nach Europa kam

2011-05-28 Folge 7: Rom und die Grenzen des Wachstums

2011-06-25 Folge 8: Wie das Denken sich selbst entdeckte

2011-07-02 Folge 9: Die Vordenker aus Griechenland

2011-07-09 Folge 10: Vorhang auf für das antike Theater

2011-07-25 Folge 11: Ursprünge der abendländischen Musik

2011-07-30 Folge 12:  Antike Naturwissenschaft

2011-08-07 Folge 13: Antike Architektur

2011-08-20a Folge 14: Bildende Kunst der Antike

2011-08-27a Folge 15: Kindertage des Christentums

2011-09-30 Folge 16: Kriegszüge im Zeichen des Kreuzes

2011-10-24b Folge 17: Romanik und Gotik

2011-11-07 Folge 18: Mittelalterliche Städtebildung

2011-11-15 Folge 19: Das seltsame Ideal der "hohen Minne"

2011-11-24 Folge 20: Eine neue Macht erwacht - die Liebe

2011-11-24a Folge 21: Mainzer Drucker verändert die Welt

2011-12-08 Folge 22: Die Erde dreht sich um die Sonne

2011-12-15 Folge 23: "Moderne" Naturwissenschaft beginnt

2011-12-15a Folge 24: Die Renaissance

2011-12-22b Folge 25: Luther und die Reformation

2012-01-02a Folge 26: Calvinismus und Kapital

2012-01-05 Folge 27: Der Dreißigjährige Krieg

2012-01-12 Folge 28: Die Geburt der Oper im Barock

2012-01-18 Folge 29: Die Aufklärung

2012-01-24a Folge 30: Immanuel Kant

2012-02-05 Folge 31: Die Französische Revolution

2012-02-11 Folge 32: Preußens Revolution von oben

2012-02-15 Folge 33: Die Romantik

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