Thema Wissenschaft / Bildung
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2012-04-04 Serie "Wissen":

Folge 39
 

Die Macht des Unbewussten

 
ana/ape. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert begann die wissenschaftliche Erforschung von Geist und Seele. Die erste Psychotherapie tauchte auf: Sigmund Freuds Psychoanalyse.


1856 wurde einem jüdischen Stoffhändler in Freiberg/Mähren ein Sohn geboren, der das Menschenbild bis heute prägen sollte: Sigmund Freud. Nach eigenem Bekunden fügte er dem Homo sapiens die „dritte große Kränkung“ zu: Zuerst hatte Kopernikus den Menschen aus der Mitte des Universums verbannt, dann Darwin ihn als Krone der Schöpfung entthront; schließlich zeigte Freud, dass der Mensch nicht einmal Herr im eigenen Kopf ist. Ende der 1890er entwickelte Freud eine psychologische Theorie nebst psychotherapeutischer Methode: die Psychoanalyse. Beides veränderte nachhaltig nicht nur die Psychologie und die Medizin, sondern auch die Sozial- und Geisteswissenschaften sowie die Künste. Und was wir heute landläufig über Sexualität, Kindheit, die Bedeutung des Unbewussten denken, ist vielfach durchdrungen von seinen Auffassungen.

Freud verbrachte den größten Teil seines Lebens in Wien. Er arbeitete erst als Neurologe an der Universität, nachher als Psychiater und Psychoanalytiker in eigener Praxis. 1938 musste er schwerkrank vor den Nazis nach London ins Exil flüchten, wo er 1939 starb. Er erforschte zunächst die Hypnose und deren Möglichkeiten für die Behandlung psychisch Kranker. Später entwickelte er eine psychiatrische Behandlungsform, die unter anderem auf Traumdeutung beruhte. 1899 erschien sein frühes Hauptwerk „Die Traumdeutung“. Damit begann die Geschichte der Psychoanalyse.
 
Freud sah die innere Struktur des Menschen aus drei Teilen zusammengesetzt. Die Basis bildet das Unbewusste, das ES, als Quelle unserer Triebe, die nach Befriedigung suchen. Am anderen Ende der psychischen Struktur befindet sich das ÜBER-ICH, das die erlernten Erwartungen äußerer Autoritäten wie des Elternhauses oder der Gesellschaft ganz allgemein verkörpert. Seine Funktion ist es, unsere Triebe durch Verdrängung, Steuerung, Unterdrückung, Ersatzbefriedigung zu kontrollieren.

Quasi zwischen diesen beiden liegt das bewusste ICH als derjenige Teil, der versucht, einen Ausgleich herzustellen zwischen den inneren Trieben und den Erfordernissen der äußeren Welt. Diese drei Teile der Psyche befinden sich also in einem beständigem Kampf miteinander, für den Freud die Parole ausgab: „Wo ES ist, soll ICH werden“. Will sagen: Dadurch, dass Unbewusstes bewusst gemacht wird, wird es für das Individuum erst vernünftig beherrschbar.
 
Freud war ein Aufklärer – und ein Pessimist. Er hielt den Menschen für ein Wesen, das primär von zwei instinkthaften Kräften bewegt wird: den Selbsterhaltungs- oder „Ich-Trieben“ und den sexuell-sinnlichen Trieben, der „Libido“. Durch ein Hin- und Her von libidinöser Spannung und Entspannung wird der Mensch gesteuert, mit anderen Worten: durch das „Lustprinzip“. Bereits in früher Kindheit aber treten der unmittelbaren Lustbefriedigung Einschränkungen entgegen, die von familiären, gesellschaftlichen, religiösen, moralischen Normen und Konventionen herrühren. Zum „Lustprinzip“ tritt damit als Gegenpart das „Realitätsprinzip“. Seelische Störungen ergeben sich, so Freuds These, wenn es nicht hinreichend gelingt, beide Prinzipien miteinander in Einklang zu bringen.

Freuds Menschenbild ist ein tragisches, in dem für dauerhaftes Glück kein Platz ist. Zumal die zivilisierte Gesellschaft durch Triebunterdrückung erkauft wird. Bestenfalls können Leid, Spannungen und Störungen vermindert werden. Der Verminderung des Leids galt Freuds ganzes Streben. Für ihn bestand also eine elementare Konfliktsituation darin, dass dem Ausleben unserer natürlichen, triebhaften Bedürfnisse Beschränkungen auferlegt sind. Ein seelisch gesunder Mensch bekommt das einigermaßen hin, der seelisch Kranke flüchtet sich in problematische Scheinlösungen und/oder bekommt Schuldgefühle, Ängste. Solche misslungenen Konfliktbewältigungen nannte Freud: „Neurosen“. Bei Seelenzuständen, in denen die Realität ganz verlassen wird, spricht er von „Psychosen“.

Freuds wichtigste Einzelleistung war die Erkundung des Unbewussten. Man kann nicht sagen, dass er das Unbewusste entdeckt hätte. Schon bei vielen Denkern der Romantik spielte die Vorstellung unbewusster Prozesse eine Rolle. Aber Freud hat das Unbewusste in den Rang eines wissenschaftlich erforschbaren Gegenstandes erhoben. Seine Erkenntnis, dass Sexualität eine wichtige Rolle für unser ganzes Leben spielt, war richtig. Doch mit seiner zu starken Fixierung auf die unterdrückte Sexualität reagierte er wohl auf die Prüderie seines (viktorianischen) Zeitalters. Wichtiger ist indes, dass es ihm um eine wissenschaftliche Einstellung gegenüber der Sexualität ging, die durch Tabuisierungen bis dahin einer sachlichen Betrachtung weitgehend entzogen war.

Freud bemerkte aber auch: Das Unbewusste bleibt nicht vollkommen unbewusst. Wir ahnen unsere dunklen Triebe, erlauben ihnen aber keinen Zutritt zur bewussten Gedankenwelt. Wir entwickeln dagegen „Abwehrmechanismen“. Dennoch bahnen diese Triebe sich immer wieder einen Weg in unser Bewusstsein, was die sprichwörtlichen Freud'schen „Fehlleistungen“ zur Folge haben kann: Vergessen, Verlegen, Verschreiben, Versprechen.
Das Unbewusste, so Freud, macht sich vor allem in unseren Träumen bemerkbar. Doch Träume bilden das Unbewusste selten klar ab, sondern verschlüsseln es in Symbole. Diese müssen in der psychologischen Traumdeutung erst entschlüsselt werden. Freud ließ sich daher von seinen Patienten ihre Träume erzählen und forderte sie dann auf, „frei zu assoziieren“. Sie sollten vorbehaltlos alles auszusprechen, was ihnen in den Sinn kam, wenn sie an ihre Träume dachten. Auf diese Weise gelang es ihm, die Verschlüsselung aufzuheben, die verborgenen Bedeutungen des Traums aufzudecken und Unbewusstes bewusst zu machen. Die Gefahr ist allerdings groß, etwas in die Traumsymbole hineinzuinterpretieren, statt etwas herauszulesen – was Freud und vielen anderen öfter passierte.
 
Bis zu Freud wurde generell unterstellt, dass man seine Leidenschaften und Triebe mit Selbstbeherrschung unter Kontrolle halten könne. Daher wurden Süchte und Obsessionen moralisch geächtet und bestraft, statt sie als Krankheiten und Fehlentwicklungen von Gehirn und Psyche zu behandeln. Lebensprägende Verdrängungen und Neurosen entstehen nach Freud alle in der frühen Kindheit, wenn das noch gänzlich selbstbezogene Kind die ersten Triebverzichte zu leisten hat. In den seelischen Krankheiten der Erwachsenen zeigen sich dann die nicht bewältigten Triebkonflikte ihrer Kindheit. Damit hatte Freud als erster die prägende Bedeutung der frühen Lebensphase für das weitere Schicksal erkannt.

Sigmund Freud war einer der einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts. Dennoch blieb die von ihm begründete „Psychoanalyse“ bis in die Gegenwart umstritten. Er hat unser Menschenbild tiefgreifend verändert. Doch vieles von dem, was er meinte herausgefunden zu haben, lässt sich so heute nicht mehr aufrecht halten. Etwa seine zu monokausale „Libidotheorie“ oder Diagnosen wie „Ödipuskomplex“ und „Penisneid“ – die oft mehr über seine patriarchalischen Vorurteile gegenüber Frauen verraten, als über die Wirklichkeit.

Oft wurde er deshalb als überholt abgetan. Doch in jüngster Zeit hat die Hirnforschung entdeckt, dass Freud mit vielem vermutlich doch recht hatte, gerade was die Mitwirkung unbewusster Vorgänge an er Psyche und Verhalten betrifft. Zur Wissenschaft gehört aber nun mal, dass sie sich stets weiterentwickelt und nicht bei den Verdiensten ihrer Pioniere stehen bleibt. Das gilt auch für Freud.


Zusatzinfos

Aus der Psychoanalyse heraus haben sich viele verschiedene Schulen der Tiefenpsychologie entwickelt. Darunter zunächst die "Analytische Psychologie" von C. G. Jung, die "Individualpsychologie" von Alfred Adler oder die "Casework-Schule" von Otto Rank. Wichtige Anstöße zur Theorieänderung der Freud'schen Psychoanalyse kamen von den Vertretern der sogenannten "Neopsychoanalyse" der späten dreißiger Jahre, wie Harry Stuck Sullivan, Karen Horney und Erich Fromm. Sie - und andere, die danach kamen - mussten aber oft lange Zeit kämpfen, um sich gegen das dogmatische Denken einer geradezu sektiererischen Orthodoxie der psychoanalytischen Organisationen durchzusetzen.

Religion als Selbstschutz: Je älter Sigmund Freud wurde, desto mehr beschäftigte er sich auch mit allgemeinen kulturphilosophischen Fragen und reihte sich als Religionskritiker in die Tradition Ludwig Feuerbachs, Karl Marx' und Friedrich Nietzsches ein. Deren Ansätze ergänzt er durch eine eigene psychologische Perspektive. Er beschreibt Wunschdenken und Unterlegenheitsgefühle als wesentliche Gründe, warum Menschen religiös sind. Naturkräfte würden zu übernatürlichen Personen umgedeutet und zu schützenden Mächten erhoben. Das zugrundeliegende Verhaltensmuster knüpfe an die frühkindliche Erfahrung der schützenden Eltern an, mit Gott besonders an die Figur des Vaters.


Lesen Sie in Folge 40:
Neues Verständnis vom Universum - Planck und Einstein // Epilog zur Serie


                                                   ***

Impressum: Der obige Haupttext entstand in Anlehnung an einen Vortrag, den Jürgen Hardeck im Rahmen der Akademie der Marienberger Seminare gehalten hat. Die Textbearbeitung für den Abdruck besorgten Andrea Mertes und Andreas Pecht. Für den Inhalt verantwortlich: Marienberger Seminare e.V. 

Der 80-minütige Originalvortrag ist als Audio-CD mit bebildertem

Begleitheft zu beziehen bei Marienberger Seminare e.V.,

Tel. 02661/6702.

Weitere Infos: >> www.marienberger-akademie.de

Die Reihe „Wissen – Reise durch die Kultur- und Geistesgeschichte“ ist eine Kooperation zwischen Rhein-Zeitung und Marienberger Seminare e.V., sie wird gefördert vom Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur des Landes Rheinland-Pfalz.


(Erstabdruck 14./15. Woche März/April 2012)

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Bisher erschienene Folgen:

2011-04-02 Prolog/Einführung:
Eine Reise durch die Kultur- und Geistesgeschichte

2011-04-02a Folge 1: Mensch zwischen Natur und Kultur

2011-04-23 Folge 2: Die Menschen werden sesshaft

2011-04-30 Folge 3: Ein etwas anderer Blick auf Familie

2011-05-07 Folge 4: Abschied vom magischen Zeitalter

2011-05-14 Folge 5: Die Wurzeln des Abendlandes

2011-05-21 Folge 6: Wie die Demokratie nach Europa kam

2011-05-28 Folge 7: Rom und die Grenzen des Wachstums

2011-06-25 Folge 8: Wie das Denken sich selbst entdeckte

2011-07-02 Folge 9: Die Vordenker aus Griechenland

2011-07-09 Folge 10: Vorhang auf für das antike Theater

2011-07-25 Folge 11: Ursprünge der abendländischen Musik

2011-07-30 Folge 12:  Antike Naturwissenschaft

2011-08-07 Folge 13: Antike Architektur

2011-08-20a Folge 14: Bildende Kunst der Antike

2011-08-27a Folge 15: Kindertage des Christentums

2011-09-30 Folge 16: Kriegszüge im Zeichen des Kreuzes

2011-10-24b Folge 17: Romanik und Gotik

2011-11-07 Folge 18: Mittelalterliche Städtebildung

2011-11-15 Folge 19: Das seltsame Ideal der "hohen Minne"

2011-11-24 Folge 20: Eine neue Macht erwacht - die Liebe

2011-11-24a Folge 21: Mainzer Drucker verändert die Welt

2011-12-08 Folge 22: Die Erde dreht sich um die Sonne

2011-12-15 Folge 23: "Moderne" Naturwissenschaft beginnt

2011-12-15a Folge 24: Die Renaissance

2011-12-22b Folge 25: Luther und die Reformation

2012-01-02a Folge 26: Calvinismus und Kapital

2012-01-05 Folge 27: Der Dreißigjährige Krieg

2012-01-12 Folge 28: Die Geburt der Oper im Barock

2012-01-18 Folge 29: Die Aufklärung

2012-01-24a Folge 30: Immanuel Kant

2012-02-05 Folge 31: Die Französische Revolution

2012-02-11 Folge 32: Preußens Revolution von oben

2012-02-15 Folge 33: Die Romantik

2012-02-27b Folge 34: Die Musik der Romantik

2012-02-29a Folge 35: Gottes Werk und Darwins Beitrag

2012-03-14 Folge 36: Karl Marx 

2012-03-21 Folge 37: Max Webers Blick auf den Kapitalismus

2012-03-29 Folge 38: Die Väter der technischen Zukunft
 

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