Thema Kultur / Zeitgeist
Thema Geschichte / Vermischtes
homezur Startseite eMail an Autor • eMail to author • contact auteureMail an den Autor Seitenübersicht • sitemap • Plan du siteÜbersicht sitemap Seite drucken • site print • imprimer siteArtikel drucken

2012-04-14 Essay:

Zum 100. Jahrestag des "Titanic"-Untergangs


Die seltsame Lust an der Katastrophe


ape. Der Untergang der RMS Titanic war das bis dahin furchtbarste Unglück der zivilen Seefahrt. Was ist das für ein eigentümliches Phänomen, dass eine solche Katastrophe bis heute mindestens ebenso sehr fasziniert wie entsetzt?


Das Geschehen im Fernseher wird brutal, leidvoll, unheimlich. Das davor sitzende Kind hält sich die Augen zu, als suche es Schutz vor den Bildern. Doch zwischen den Fingern hindurch wirft es klammheimliche Blicke auf das Schreckliche. Das Kind ist hin- und hergerissen zwischen Angst und Neugier, zwischen Entsetzen und Faszination. Dieser Mechanismus nimmt im Erwachsenenalter zwar andere Formen an, in seiner Grundstruktur jedoch begleitet er den Menschen durchs ganze Leben. Die zwiespältige Beziehung zum Schrecklichen wird er nicht mehr los.

Als die Nachricht vom Untergang der „Titanic“ die breite Öffentlichkeit erreichte, war die reale Katastrophe schon vorbei. Massenrundfunk gab es noch nicht; bei Erscheinen der Zeitungen, lag das Schiff bereits auf dem Meeresgrund, waren die wenigen Geretteten auf dem Heimweg, hatte sich Stille über dem nassen Grab der vielen Opfer ausgebreitet. Deren Unglück rief Entsetzen, Trauer, Mitleid hervor. Zugleich wurden die Zeitgenossen von fiebriger Gier nach immer neuen Titanic-News befallen.

Zwischen Mitgefühl und Erleichterung

Das Interesse galt den sachlichen Ursachen. Aber mehr noch galt es – und gilt es bis heute – den menschlichen Tragödien während jener Schreckensstunden auf dem Ozean. Das mag daher rühren, dass der Homo sapiens die Eigenschaft besitzt, sich in das Fühlen anderer Menschen hineindenken zu können. Man ahnt, glaubt zu spüren, was in denen vorging, die von Katastrophen heimgesucht wurden – sei es beim Untergang der Titanic, beim Untergang Pompejis oder bei einer Massenkarambolage auf der A3. Und je mehr der Betrachter mitleidet, umso größer seine Erleichterung, dass es ihn nicht selbst erwischt hat.

Was unterscheidet das Interesse am Untergang der Titanic vom Interesse der Gaffer an einem Autounfall? Psychologisch betrachtet: nichts. Das Außergewöhnliche, das Sensationelle, auch und gerade das Bedrohliche oder schicksalhaft Schreckliche zieht uns magisch an. Derartige Einbrüche in die Normalität machen uns unweigerlich auch zu Zuschauern und Voyeuren. Beim einen mag das ein kurzer scheuer Blick sein, beim andern penetrantes Glotzen. Entziehen kann sich dem Hinschau-Reflex niemand.

Je schrecklicher, je schicksalhafter eine Katastrophe, umso stärker ihre fesselnde Wirkung auf den Betrachter. Warum? Katastrophische Situationen bieten manches, das der funktionierende Alltag scheinbar nicht zu bieten hat: Grenzerfahrungen, große Gefühle, Bewährungsproben auf äußere und innere Stärke. Ob Odysseus auf Irrfahrt, Robinson Crusoe auf einsamer Insel, Schiffbrüchige in Géricaults Gemälde „Floß der Medusa“ oder Jack und Rose im „Titanic“-Film: Unzählige Werke der Kunst handeln von der Frage, wie der Mensch sich verhält, wenn seine alltägliche Lebensordnung außer Kraft gesetzt wird.

Wäre ich Held oder Feigling?

Diese Frage treibt uns seit ewigen Zeiten um. Dabei spielt es kaum eine Rolle, ob launige Götter, Naturgewalten, Seuchen, Kriege, technisches oder menschliches Versagen den Ausnahmezustand verursachen. Sobald eine Katastrophe die Menschen der zivilisatorischen Stützen beraubt und sie auf ihre ureigentlichen Eigenschaften reduziert, kommt es zur Nagelprobe: Wie verhält sich dieser oder jener in solch einem Fall? Wie würde ich selbst in vergleichbarer Lage reagieren? Welche Züge kämen zum Vorschein: klares Denken oder blinde Panik, Selbstlosigkeit oder Rücksichtlosigkeit, Durchhaltevermögen oder Resignation, Mut oder Feigheit...?

Zu gerne würde jeder Gewissheit finden, und die nach eigener moralischer Wertung positiven Eigenschaften bei sich ausmachen. Aber die meisten Menschen haben naturgemäß Angst davor, in unwägbare, leidvolle, gar lebensgefährliche Situationen zu geraten. Der Zwiespalt des Kindes vor dem Fernseher findet sich wieder in der erwachsenen Ambivalenz von Lust auf echte existenzielle Herausforderung und dem gleichzeitigen Drang nach maximaler Sicherheit. Ein Ergebnis dieses unlösbaren Widerspruchs ist unsere Neigung zur emotional aufgerührten Teilhabe an Katastrophen – als Zuschauer.
 
Das ist kein Phänomen erst der Moderne. Auch die Menschen des Mittelalters hingen gleichermaßen entsetzt wie fasziniert an den Lippen der Wandererzähler, die von Kriegen, Gräueln, Pest und Feuersbrünsten andernorts berichteten. Nur dass damals niemand glaubte, es sei möglich, solche Unbilden ein für alle mal aus der diesseitigen Welt zu schaffen. Dieser Glaube entstand mit der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts. Und just der Bau der „Titanic“ sollte den Beweis erbringen, dass moderne Technik der Seefahrt jedwede Gefährlichkeit austreiben kann.

Menetekel modernen Größenwahns
 
Das größte Passagierschiff der Welt; ausgestattet mit allen Raffinessen seiner Zeit; das erste „unsinkbare Schiff“ der Menschheitsgeschichte: Die fortschrittsgläubige Euphorie kannte keine Grenzen. Entsprechend wuchtig war der Schock, als dieses „absolut sichere“ Wunderwerk gleich bei der ersten Fahrt erbärmlich absoff. Die „Titanic“ hatte Symbol werden sollen für die Überlegenheit der technischen Moderne. Sie wurde ein Menetekel für modernen Größenwahn.

Zugleich wurde ihr Untergang zur Anklage gegen die menschenverachtende Arroganz der herrschenden Geldkaste: Die reichen Passagiere schwelgten in unfassbarem Luxus; für die armen Auswanderer auf den Unterdecks gab es nicht mal Rettungsboote. Beides – Technikwahn und inhumane Klassenspaltung – verlieh dieser Katastrophe ein überragendes symbolisches Gewicht im jungen 20. Jahrhundert. Ein Gewicht, das nachwirkt. Nicht umsonst wird der Untergang der Titanic noch heute als sprichwörtliche Warnung benutzt, wenn wieder irgendeine profitable, aber gefährliche Technikneuheit als unfehlbar und absolut sicher gefeiert wird.

Was uns ängstigt, zieht uns magisch an

Je sicherer unser Alltag wirkt, umso stärker scheinen wir von Ausnahmezuständen und Katastrophen angezogen. Extremsportarten und Abenteuerurlaube haben Konjunktur. Wem diese Art des Kitzels doch zu ungemütlich ist, der hält sich an den Schauder, den medial aufbereitete Katastrophenszenarien bieten. Da werden selbst normale Naturphänomene zur Großkatastrophe aufgeblasen. Da wird der zeitnah mögliche Ausbruch der Eifel-Vulkane beschworen oder bildmächtig die apokalyptische Wirkung eines Meteoreinschlags simuliert.

Der Mensch sucht fast zwanghaft die Beschäftigung gerade mit jenen Aspekten, die ihn besonders ängstigen. Einst waren es böse Geister und Höllenqualen. Im aufgeklärten Zeitalter ist es die Furcht, dass technischer Fortschritt ihn weder vor Seinesgleichen noch vor der Natur oder vor Schicksalsschlägen schützen kann. Im Angesicht der Katastrophe erfahren wir, wie klein wir sind; hoffen aber, hier noch echter Größe zu begegnen. Dies macht Katastrophen für den Menschen zum Faszinosum: Zum Prüfstein auf sich selbst – den er ergreifen will und vor dem er gleichzeitig wegläuft.                                                                        Andreas Pecht


(Erstabdruck 14. April 2012)

Der Artikel entstand als Beitrag zum Wochenend-Journal der Rhein-Zeitung 14./15.4. 2012, das gänzlich dem Thema "Titanic" gewidmet ist.

---------------------------------------------------------
Wer oder was ist www.pecht.info?
---------------------------------------------------------

Diesen Artikel weiterempfehlen was ist Ihnen dieser Artikel
und www.pecht.info wert?
 
eMail an Autor • eMail to author • contact auteureMail an den Autor
eMail an webmaster • eMail to webmaster • contact webmastereMail an webmaster Seitenanfang • go top • aller en-hautan den Anfang Seite drucken • site print • imprimer siteArtikel drucken