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2012-06-16 Schauspielkritik:

Christoph Mehler verdirbt sich in Mainz den eigenen, durchaus interessanten Inszenierungsansatz 

„Vor Sonnenaufgang“ gerät
zur Schrei-Orgie
 

 
ape. Mainz. Es ist ein Kreuz mit diesem Regisseur. Im Juni 2011 hatte Christoph Mehler „Endstation Sehnsucht“ von Tennessee Williams am Staatstheater Mainz in Form tobsüchtiger Krawallmacherei übel zugerichtet. Im Februar 2012 lieferte er dann am Schauspiel Frankfurt eine sehr gescheite und einfühlsame Inszenierung von Anton Tschechows „Iwanow“ ab. Jetzt hat er in Mainz Gerhart Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“ eingerichtet – und ist dabei leider wieder auf die Krawallmanier zurückgefallen:  Die 90-minütige Premiere geriet weithin zur Schrei-Orgie. Besonders ärgerlich ist, dass unter dem entnervenden Gebrüll sowohl ein im Grunde interessanter Inszenierungsansatz wie auch bemerkenswerte Schauspielleistungen verschüttgehen.

 
„Vor Sonnenaufgang“ gilt als das früheste naturalistische Bühnenwerk eines deutschen Dramatikers. Bei der Berliner Uraufführung 1889 löste es mit seiner drastisch gezeichneten Darstellung der Protagonisten als Produkte oder Opfer sozialer Verhältnisse einen gewaltigen Skandal aus. Dass mehr als 100 Jahre später Mehler das Gegenteil von Naturalismus auf die Bühne stellt, hat seine Logik und ist nicht zu beanstanden: Die Bühne völlig leer; die Protagonisten im Hintergrund aufgereiht, treten für ihre Einsätze jeweils vor. Diese Anordnung baut völlig auf intensives Schauspielertheater, auf eine Darstellung, die Außen- und Innenansichten der Beteiligten eng miteinander verschränkt. Das funktioniert auch.

Sozialreformer Loth trifft auf alte Jugendfreunde. Auf Hoffmann, der in eine reich gewordene Bauernfamilie eingeheiratet hat und zum Kohlebaron avancierte. Auf Schimmelpfennig, der sich als Arzt unter Neureichen eine goldene Nase verdient. Gemeinsam ist den dreien eine Vergangenheit, in der sie sich für eine gerechtere Welt engagiert hatten. Loth allein ist diesem Ansinnen treu geblieben, den beiden anderen hat ihr verändertes Sein das Bewusstsein umgekrempelt: Hoffmann, kündigt Loth alsbald die Freundschaft, weil der die elende Lage der Bergarbeiter publik machen will.

Fein nuanciert in Körperausdruck, Gestus, Stellungspiel entfalten da Aram Tafreshian, Stefan Graf und Zlatko Maltar Haltungen, Stimmungen, soziale Mechanismen mit der Exemplarität und bisweilen Symbolhaftigkeit eines Lehrstücks. In meisterlicher Zurückgenommenheit flicht Verena Bukal als Hoffmanns Schwägerin Helene eine Sehnsucht ins Spiel, mit Hilfe der Liebe Loths ihrer schrecklichen, teils dem Alkoholismus verfallenen Familie zu entfliehen. Dazu kommt es nicht, weil Gutmensch Loth sich mit der Tochter eines versoffenen Vaters aus erbhygienischem Prinzip nie vereinen würde.

So weit, so gut. Was sich hier wie der Bericht über einen fabelhaften Theaterabend liest, muss allerdings mühsam extrahiert werden aus einer Kakophonie von Geschrei. Die hebt gleich zu Beginn an mit dem Auftreten von Lisa Mies als verblödetem wie übellaunig und unverständlich brüll-zeterndem Monstrum von Magd. Das Gekreisch erreicht seinen Höhepunkt, als die ganze Mannschaft an der Bühnenrampe in kollektiver Hysterie die Schreie der eben niederkommenden Frau Hoffmanns nachäfft. Das mag der Versuch sein, an die skandalisierende Wirkung der Geburtsszene anno 1889 anzuknüpfen. Tatsächlich aber ist es  nur der dickste von all den heiser machenden Brocken, mit denen Mehler seine eigen Arbeit verdirbt.           Andreas Pecht

Infos: www.staatstheater-mainz.com


(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website
am 16. Juni 2012)

                                                     ***

Kritiken zu vorherigen Mehler-Inszenierungen:

2012-02-21 Schauspielkritik:
Tschechows Drama "Iwanow" am Schauspiel Frankfurt inszeniert von Christoph Mehler


2011-06-10 Schauspielkritik:
Williams'  "Endstation Sehnsucht" in Mainz. Regie: Christoph Mehler



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