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2012-07-02 Essay:
 
Daheim im einigen
Europa freier Völker


An der gesellschaftlichen Basis wächst nun schon in der vierten Generation zusammen, was zusammengehört


 
ape. Weniger oder mehr Europa? Wir erleben derzeit, wie makroökonomische Krisen diese Frage zum Kern eines großen Disputs über einen womöglich zeitnahen staatspolitischen Umbau der EU  machen. Während auf der großen Bühne über weniger oder mehr Macht für Brüssel gestritten wird, ist im gesellschaftlichen Unterbau die Frage nach weniger oder mehr Europa de facto längst entschieden: In der nunmehr vierten Generationen erleben die (west)europäischen Völker ein unaufhaltsam intensiver werdendes menschliches und kulturelles Miteinander.
                      

Mehr Europa, das ist seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Haupttendenz auf dem alten Kontinent; seit 1989 auch in seinem östlichen Teil. Eine unumkehrbare Tendenz –  nicht bloß, weil Politik und Wirtschaft sich ihr verschrieben haben; mehr noch, weil sie sich tief ins Alltagsleben der Menschen eingegraben hat. Für die Älteren sind offene Grenzen, gute Nachbarschaft, kultureller Austausch und wechselseitige Durchdringung europäischer Lebensarten  über die Friedensjahrzehnte selbstverständlich geworden. Den Jüngeren ist das alles Selbstverständlichkeit von Geburt an.

Die heute 80- oder 90-Jährigen waren bei Kriegsende junge Leute, die misstrauisch, aber mit bestem Willen auf die Todfeinde von eben zugingen. Gute Nachbarn wollten sie fortan sein. Über Jahrhunderte war Europa Schlachtfeld zahlloser Kriege, die keine Generation verschonten. Diese Leiden sollten ein Ende haben, und die Ressentiments aller gegen alle überwunden werden. Deshalb hatten die heute Ältesten 1945 auf den Trümmern Europas begonnen, Türen in Grenzen und Köpfen zu öffnen.

Von der Folgegeneration der heute 50- bis 70-Jährigen wurden die Türen zu weiten Toren ausgebaut. Die erste Welle deutsch-französischer und deutsch-britischer Städtepartnerschaften nebst  Jugend-, Vereins-, Kulturaustausch war in den 1950/60ern dabei ein wichtiges Werkzeug. Die frühen Ströme der Urlaubsreisenden 'gen Süden und der Gastarbeiter 'gen Norden ein anderes. Für eine Weile noch waren diese Reisen Begegnungen mit fremden Landschaften, Mentalitäten, Gebräuchen, Kulturen – Missverständnisse und Reibungen inklusive.

Doch wo Menschen über Jahrzehnte zusammenkommen, sich wechselseitig für ihre Kulturen interessieren, miteinander reden, essen, tanzen, arbeiten und Geschäfte machen – da wird das vormals Fremde zum Vertrauten, da verschwimmen die Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Anderen. Die Assimilation in der Esskultur ist ein zwar profanes, aber schlagkräftiges Beispiel: Pizza, Pasta, Espresso gehören heute auch von London bis Prag, von Wilna bis Paris quasi zu den Grundnahrungsmitteln. Bier trinken die Europäer des Südens längst genauso gerne wie die im Norden und Osten.

Was die Künste angeht, wächst zusammen, was trotz mannigfacher Regionalvarianten ohnehin zusammengehört seit die griechisch-römische Antike den Grundstein legte für europäische Hochkultur. Was die Hinwendung zu einer europäischen Demokratie betrifft, so schwebte der Wunsch danach bereits über den  Geburtswehen der Nationalstaaten –  etwa 1832 beim Hambacher Fest, das eben nicht nur eine einige und freie deutsche Nation forderte, sondern zugleich deren Einbettung in ein einiges Europa freier Völker. Es kam von da an bis 1945 leider erstmal ganz anders. 

Beim Blick in die Geschichte davor wird deutlich, dass diverse Völkerschaften von Sizilien bis Britannien, von Konstantinopel bis Lissabon öfter und länger unter gemeinsamen Dächern hausten als isoliert ihren Weg zu gehen: so in keltischer und römischer Zeit, so unter Saliern und Staufern, unter Bourbonen, Habsburgern oder Hohenzollern. Die Völker Europas waren durch die Zeitalter hindurch viel enger verwoben und vermischt, als der auf vermeintlich ewige Erbunterschiede pochende Nationalismus des 19. und 20. Jahrhunderts glauben machte.

Die aus dieser Epoche überkommenen Ressentiments sind noch nicht vollends aus der Welt. Schrille Töne in der öffentlichen Begleitmusik zur aktuellen Europakrise zeigen es. Dennoch ist in den letzten Jahrzehnten ein neues Gefühl von Europa als gemeinsamem Kultur- und Lebensraum entstanden. Für die Generation der heute 20- bis 40-Jährigen liegen Stockholm, Warschau oder Rom quasi nebenan. Im Westerwald aufwachsen, in Mainz oder Berlin studieren, in London oder Lissabon Auslandssemester absolvieren, in Prag und Paris Praktikum machen, hernach in den Niederlanden, Irland oder Ungarn arbeiten, Familie gründen: Solche Biografien sind noch nicht die Regel, aber es gibt sie schon zuhauf.

Und es gibt einen Umstand, der den Trend zu „mehr Europa“ an der gesellschaftlichen Basis enorm beschleunigt: die Sprachbarrieren fallen. In den meisten EU-Länder wird jetzt die jüngste Generation zu beinahe 100 Prozent in den Schulen mit der englischen Sprache vertraut gemacht. Die Menschen Europas werden künftig neben ihrer jeweiligen Muttersprache über eine den ganzen Kontinent umfassende Verkehrssprache verfügen. Der zivilgesellschaftliche Unterbau Europas wächst unaufhörlich zusammen. Es ist deshalb an der Zeit, die abgehobene Maschinerie des EU-Überbaus in eine echte europäische Demokratie zu verwandeln. Damit nicht „die Märkte“, sondern die Europäer selbst entscheiden, wohin ihre gemeinsame Reise geht. 
                                                                                   Andreas Pecht                          

(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website
Woche 27 im Juli 2012)


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