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2012-09-17 Schauspielkritik:

Theater Koblenz: Uraufführung "Alle sechzehn Jahre im Sommer" von John von Düffel


'74, '90, 2006 – werden wir erwachsen sein
 

 
ape. Koblenz. John von Düffel hat ein neues Stück geschrieben. "Alle sechzehn Jahre im Sommer" ist ein Auftragswerk des Theaters Koblenz zu seinem 225. Geburtstag. Am Samstag kam es dort in einer Inszenierung des Intendanten Markus Dietze zur Uraufführung. Gewünscht hatten sich die Koblenzer etwas über den Fluss der Zeiten und die Wandlungen der Menschen darin. Geliefert hat der Autor eine "Trilogie des veränderten Lebens", deren Teile 1974, 1990 und 2006 spielen – jeweils angedockt an die Fußballweltmeisterschaften jener Jahre.
 

Es ist kein Sportstück, das da ohne Striche in dreieinhalb Stunden inklusive zweier Pausen über die Bühne des altehrwürdigen kleinen Stadttheaters geht. Das ist vielmehr die Begutachtung einiger Werdegänge, die mit dem Blick in die Küche einer Wohngemeinschaft am Tag des ersten WM-Gruppenspiels Deutschland gegen Chile 1974 beginnt. Zuerst erschrickt man: Düffel (Jahrgang 1966) trägt schon im Text recht dick auf, und Dietze (Jahrgang 1972) legt inszenatorisch noch eine Schippe drauf. Als wollten die Kinder ihren damals linksalternativen Alten eins auswischen, machen die beiden aus deren Lebensphase zwischen WG-Plenum, Politaktivismus und Beziehungskisten fast eine Persiflage.

Jungkünstler Hans-Helge malt sein erstes Bild; Kunststudentin Sabine fällt gickelnd vom Bier- in den LSD-Rausch; Prolet Carlo hat selbst die Krankenversicherung seiner just gebärenden Freundin Elke zu Geld gemacht. Lehramtsstudentin Heidrun lässt sich durch ein WM-Spiel nicht vom Aufruf "Wir müssen reden" abhalten. Dass der angehende Pathologe Jochen inmitten dieses Tohuwabohus Karriereambitionen erkennen lässt, kommt indes überraschend. Kurzum: Der erste Trilogie-Teil geriert sich als Boulevardkomödie, nur verläuft der Boulevard hier mitten durch die Alternativ-Szene der 70er. Das ist gut geschrieben und sauber konstruiert, wird frech gespielt und macht Spaß – wäre aber für sich allein schon morgen wieder vergessen, würde nicht der zweite Teil der vorangegangenen Schmunzelnostalgie im Nachhinein tieferen Sinn zuschieben.

1990. Dirk Steffen Göpferts Bühnenbild hat von Sperrmüll auf schickes Schöner-Wohnen-Ambiente umgeschaltet. Aus dem Off werden Halbfinale Deutschland vs. England und Endspiel Deutschland vs. Argentinien angesagt. WM und deutsche Wiedervereinigung treffen aufeinander, das ehemalige WG-Personal bekommt es mit historischem und privatem Wandel zugleich zu tun: Die Lebensumstände von Künstler, Pathologe, Lehrerin und anderen haben sich völlig verändert. Sie sind binnen 16 Jahren die Leiter des Erfolgs hinaufgefallen – aber nirgends angekommen; von Saturiertheit bei teurem Schnaps, wackeligen Ehen und schwierigen Kindern abgesehen.

Düffels Stück betrachtet seine Personen nun sehr ernst. In den entfalteten Persönlichkeitszügen klingen die Echos erster Anzeichen dafür aus den 70ern nach. Etwa der Hang zur politisch korrekten Rigorosität der Lehramtsstudentin, die jetzt Rektorin ist. Oder die eitle  Geziertheit des  Künstlers. Oder die Großmannssucht des Pathologen. Sich treu bleibt bloß der Prolet: Früher dealte Carlo mit Trips, in der Wendezeit vertickt er olle Wessi-Autos in den Osten.

Waren die Protagonisten eben noch quirlige Jungspunde, sind sie nach dem Zeitsprung gesetzte Herrschaften – fest verankert im bürgerlichen Dasein, das allerdings zusehends fadenscheinig wird. Schauspielerisch besticht das Umschalten des achtköpfigen Ensembles bis hinein in Sprechweise, Körperhaltungen, Gestik. So auch bei den neuerlichen psychologischen Wandlungen für den dritten Teil, in dem das "Sommermärchen" 2006 auf die in Trümmer gegangene 90er-Lebenswelt der Düffel'schen Figuren trifft. Das edle Mobiliar zum Abtransport zusammengeschoben, Ehen zerbrochen, in WG-Zeiten begründete Lebenslügen aufgeflogen, der Erfolgreichste ein Trinker, seine Tochter verbittert …

Was als "alternative" Boulevardkomödie begann, wird zur bürgerlichen Gesellschaftstragödie. Der Weg von hier nach da ist gepflastert mit Zeitgeist-Aspekten der jüngeren, vor allem westdeutschen Geschichte. Aufbrüche, Träume, das Wünschen anderer Lebensart: So skurril und abstrus, niedlich oder versponnen das einem im Rückblick vorkommen mag, im Verlauf von Düffels Stück macht sich ihr Verschwinden dann doch als Leerstelle und dickes Fragezeichen an dieses deutsche Erwachsenwerden bemerkbar. Weshalb "Alle sechzehn Jahre im Sommer" bald wohl auf vielen Bühnen zu sehen sein wird. Wiesbaden folgt bereits nächste Woche, dann Göttingen, dann andere.                                                                         Andreas Pecht

Regie: Markus Dietze, Bühne/Kostüme: Dirk Steffen Göpfert, Dramaturgie: Anne Riecke.
Mit: Marcel Hoffmann, Raphaela Crossey, Jona Mues, Jana Gwosdek, Reinhard Riecke, Dorothee Lochner, Tatjana Hölbing, Felix Meyer.
Dauer: 3 Stunden 30 Minuten, zwei Pausen

Infos: www.theater-koblenz.de

                                                         ***

Und eine weitere Kritikfassung für ein anderes Medium:

Unterwegs zum WM-Titel im Leben verlaufen

Starke Uraufführung zum Saisonstart am Theater Koblenz:  John von Düffels „Alle sechzehn Jahre im Sommer“

Ein neues Stück hat das Licht der Bühne erblickt. Es wird bald in vielen Theatern zu sehen sein, nächste Woche schon in Wiesbaden, denn es ist richtig gut. „Alle sechzehn Jahre im Sommer“ war ein Auftrag des Theaters Koblenz an den Dramatiker John von Düffel. Intendant Markus Dietze hat jetzt zur Spielzeiteröffnung in Koblenz die Uraufführung inszeniert, die am Samstag nach dreieinhalb Stunden mit zwei Pausen kräftigen Beifall erntete.

Das ist ein langer Abend, den man gewiss straffen kann. Doch es wäre schade um fast jeden Satz, der gestrichen würde. Es wäre schade, müsste man auf  Teile der Umsetzung verzichten. Denn diese vom Vergehen der Zeit und den Veränderungen der Menschen erzählende Produktion ist rundum gelungen. Das 8-köpfige Ensemble überzeugt mit vielfarbigen Einzelleistungen vom saftigen Typen- bis zum intensiven Charakterspiel. Und die sorgsam austarierte Kollektivleistung gehört zum Feinsten. Dies ist eine der besten Sprechtheater-Arbeiten in der bisherigen Intendanz Dietze.

Düffels Stück spielt 1974, 1990, 2006 jeweils in Tagen der Fußballweltmeisterschaft. Die Zeitreise beginnt bei einer Westberliner Wohngemeinschaft, die trotz gewollt plakativer Zuspitzungen so typisch für das linksalternative Milieu der 70er ist, dass viele Lacher und manches Pausengespräch  vom Erinnerungsimpuls motiviert sind: „Erkennst du's wieder?!“ Andere Zuseher, deren Vita keine Berührung mit dieser Szene aufweist, hangeln sich die Fußballgeschichte entlang: Wenn aus dem Off WM-Begegnungen wie BRD – DDR oder Deutschland gegen England, Niederlande, Argentinien angesagt werden, spuckt das Gedächtnis legendäre Momente aus mitsamt Erinnerungen an das eigene Miterleben.

Der erste Teil kommt als Boulevardkomödie daher. Nur dass die eben nicht im Bürgersalon spielt, sondern zwischen dem Billigmobilar einer 70er-WG (Ausstattung: Dirk Steffen Göpfert). Dort ruft Lehramtsstudentin Heidrun (Tatjana Hölbing) mit verbissenem Ernst zum „Plenum“, auf dass Geschirrspülkrise nebst Manneschauvenismus und chilenischer Junta-Diktatur ausdiskutiert werde. Da löst Jungkünstler Hans-Helge (Jona Mues) mit seinem ersten  Gemälde einen Beziehungskollaps aus, verschluckt Prolet Carlo (Reinhard Riecke) ein Kondom voller Trips, derweil seine Hippie-Freundin (Dorothee Lochner) nebenan niederkommt.

Während Kunststudentin Sabine (Raphaela Crossey) noch von einem Rausch zum nächsten taumelt, denkt Jungmediziner Jochen (Marcel Hoffmann) inmitten der systemkritischen WG-Turbulenzen bereits an die Hochzeit mit ihr und eine Karriere als Pathologe. Damit deutet sich zum Ende des ersten Teils an, was nach dem Zeitsprung ins Jahr 1990 im zweiten voll entfaltet ist. Die vormalige WG-Küche wird mit modernen Edelmöbeln ausstaffiert. Hier lebt der wohlhabende Pathologe mit Gattin und schwierigem Jugendtöchterchen Ilona (Jana Gwosdek) ein Großbürgerdasein – erfolgreich, gesetzt, geregelt, aber sich erkennbar in Sinnleere und Kälte erschöpfend.

Das Aufgehen in erwachsener Normalität erweist sich im Ergebnis als ebenso hohl wie die vormaligen WG-Skurrilitäten. Die Komödie mutiert zur Gesellschaftstragödie, deren Auswirkungen sich nicht zuletzt auf die Gemüter der zu WG-Zeiten geborenen Sprösslinge legen: der psychisch gestörten Ilona und des schüchternen wie nachdenklichen  Bastian (Felix Meyer). Beinahe zwingend zeigt der dritte Teil den Zusammenbruch der fadenscheinigen Bürgeridylle. 2006, durch Deutschland flirrt das fußballerische „Sommermärchen“. Doch auf der Bühne werden alte Lügen aufgedeckt, Ehen geschieden, verkommt der Pathologe zum Säufer, versucht seine Gattin den Befreiungsschlag mit einem jungen Argentinier, ertrinkt ihre Tochter in bitteren Selbstvorwürfen...

„Alle 16 Jahre im Sommer“ hält uns nach bester Theatermanier den Spiegel vor: mal mit lachen machenden Erinnerungen, mal mit traurig stimmender Gegenwartsbetrachtung – das Gestern und das Heute gleichermaßen unter Vorbehalt stellend. Ein großer Abend.                                                                        Andreas Pecht


(Erstabdruck/-veröffentlichung beider Kritiken außerhalb dieser website 36. Woche im  Juni 2012)

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