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2012-10-01 Ballettkritik:

Steffen Fuchs wagt mit dem Ballett Koblenz spannendes und teils betörendes Experiment

Drei Tanzstile an einem Abend
 

 
ape. Koblenz. Vorweg dies: Die Musik beim neuen Ballettabend „An Stelle von Heimat“ im Theater Koblenz wäre per se ein Konzert von hohen Graden. Seien es die Orchesterteile von Kurt Weill und Franz Waxmann mit der Rheinischen Philharmonie unter Leslie Suganandarajah, sei es Erich Wolfgang Korngolds Kammerquartett Nr. 2 mit vier Streichern des Orchesters: Allemal werden sauber, klar und beseelt die Charaktere der Stücke ausgebildet. Was aber hier das Wichtigste ist: Allemal finden Musiker und Ballettcompagnie trefflich zum audiovisuellen Gesamtkunstwerk zueinander.
 
Huch, ein Mann! Szene aus Steffens Fuchs' Ballett "An Stelle von Heimat"
Foto: Theater Koblenz / Matthias Baus

Koblenz erlebt mit Steffen Fuchs jetzt jene Phase, in der ein junger Ballettchef sich mit seinem ersten eigenen Tanzensemble auf den Weg gemacht hat. Wohin die Reise geht, ist noch offen – jeder Schritt ein Wagnis und fürs Publikum spannend. „An Stelle von Heimat“ versucht sich nun gleich an drei Spielarten des Tanzfaches: erst Tanztheater, dann klassisches, dann modernes Ballett.

Den Anfang macht „Die sieben Todsünden“ von Weill/Brecht, 1933 als „Ballett mit Gesang“ in Paris uraufgeführt. Die damals von Lotte Lenya gesungene Partie der Anna 1 füllt in Koblenz  Isabel Mascarenhas – man möchte fast von „kongenial“ schwärmen: eine selbstbewusst kecke bis kantige Schauspielerin mit sicherer Singstimme im angerauhten, so recht Brecht'schen Timbre. Ihr tanzendes Alter ego Anna 2 gibt mädchenhaft Martina Angioloni.

Träumend von der Tanzkarriere zieht das Anna-Gespann durch sieben US-Städte. Lockungen, Zumutungen, Abgründe pflastern den Weg. Der wird im Theater zur Revue, die als Zitierung der 1933er Exilproduktion verstanden werden kann. Vier Sänger aus dem Opernensemble übernehmen, formidabel, die Gesangspartien von Annas Familie und des Chores. Tanz reduziert sich dabei auf wenige Show-Nummern und pantomimische Spielszenen. Streiten ließe sich, ob diese etwas dichter, dynamischer, ballettöser hätten ausfallen dürfen.

Ballett in Fülle bietet jedoch der zweite Teil zu Korngolds Quartett. Junge Leute am Meeresstrand. Frühes 20. Jahrhundert signalisieren die Kostüme (Ausstattung: Martin Käser): gestreifter Männer-Badeanzug, luftiges Frauen-Langkleid. Jetzt wird auf Spitze oder halber Sohle flaniert, kokettiert, geflirtet – dabei das Figurenrepertoire des klassisch-romantischen Balletts nebst neoklassischen  Weiterungen durchmessen.

Vier Mädchen scharen sich gickelnd um einen Burschen. Den ertanzt Alexey Lukashevich bald als protzenden Gockel, bald als witzigen Charmeur. Fuchs' Choreographie besticht durch hohe Musikalität und fein austarierten Abwechslungsreichtum, der sorgfältig gearbeitete Elemente zu einem dynamischen Fluss verschmilzt. Koblenzer Ballettfreunde erkennen unschwer, dass das Leistungsgefälle innerhalb der Compagnie abnimmt: Die Herren kommen den Damen näher, vormals schwächere Tänzerinnen schließen zu den bislang herausstechenden auf.

Tänzerischer Höhepunkt des Abends ist ein berückender Pas de Deux. Asuka Inoue und Michael Jeske tanzen ein aus sommerlichem Flirt herausgewachsenes, nun in ernster Liebe verbundenes Paar. Schwere und Leichtigkeit wirken hier zusammen. Knifflige Heber erstarren zu Momenten innigen Anschauens, liebende Umarmung öffnet sich zu flirrenden Arabesken der Lebenslust. Das lässt keinen kalt.

Abschließend Waxmanns „Danse macabre“ und „Dusk“. Wie die beiden Kompositionen zuvor, stammt auch diese von einem während der NS-Zeit ins Exil geflüchteten Juden. Daraus ergibt sich  die programmatische, titelgebende Klammer des Abends – und taucht den dritten Teil in düstere Atmosphäre. Männer in grauen Mänteln, ziellos von hier nach da marschierend, an sich und der Welt leidend: Soldaten, Zwangsarbeiter, Flüchtlinge, ausgesetzt im Nirgendwo fern der Heimat.

Zwei suchen Halt aneinander. Erst sind sie sich selbstlose Stützen, dann mutieren die freien Ausdrucksbewegungen von Arkadiusz Glebocki und Rory Stead zu kreatürlichen Reflexen: Ruckend, zuckend brechen sich Verhaltensmuster Bahn, wie sie Amphibien eigen sind. Am Ende kriechen die beiden achtlos übereinander. Dieses Männerballett steckt voller erschütternder Gedanken. Deren Tiefe erreicht der Tanz, von einigen Momenten abgesehen, indes nicht. Hier experimentiert Fuchs mit einer Formensprache, die erkennbar noch reifen muss. Solche Experimente sind völlig in Ordnung, denn wer nichts wagt, der kommt auch nicht voran.
                                                                            Andreas Pecht

Infos: >>www.theater-koblenz.de/


(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website
am 1. Oktober 2012)

                                             ***

Frühere Kritiken zu Choreographien von Steffen Fuchs in Koblenz:

2012-05-21 Ballettkritik:
"Giselle" am Theater Koblenz - zweite große Produktion des neuen Ballettchefs Steffen Fuchs


2011-10-03 Ballettkritik:
Starker Einstand von Steffen Fuchs beim Ballett Koblenz mit "Ridicule"



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