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2012-10-09 Schauspielkritik:

Lessings „Miß Sara Sampson“ am Staatstheater  Wiesbaden. Regie: Ricarda Beilharz

Kleiner Abend, große Schauspielkunst


 
ape. Wiesbaden. Auf 100 Minuten wurde jetzt in Wiesbaden Gotthold Ephraim Lessings „Miß Sara Sampson“ eingekocht. Doch Ricarda Beilharz (Regie/Bühne) ist im Staatstheater einer jener seltenen Abende gelungen, die selbst beim abgebrühten Betrachter feuchte Augen und weiche Knie hinterlassen. Nicht, dass das Trauerspiel von 1755 auf wohlfeile Rührseligkeit getrimmt wäre. Es zeigt vielmehr in hoher Verdichtung, wie Menschen aneinander leiden können – und das mit wahrhaft anrührender Spielkunst.

 
Die Bühne erinnert an das Querschnitts-Modell eines heruntergekommenen Hotels. Gedrungene Zimmerchen von geringer Tiefe kleben mit zum Publikum offener Vorderseite neben- und übereinander. Die sechs Mitspieler agieren oft parallel, bald in Stille für sich bleibend, bald miteinander die Konflikte der Handlung austragend. Alle sind stets präsent, lauschen und beobachten sich einander. Das Lessing'sche Stück wird zum sinnlichen Gewebe, das die Grenzen zwischen Außen und Innen, zwischen Tun, Denken und Fühlen aufhebt.

Dieser kleine Kosmos ist die Arena für das Ringen zwischen Heiliger und Hure um einen Mann,  den es zu beiden zieht. Die unschuldige Sara hat sich vom halbseidenen Mellefont entführen lassen, wartet nun in der Absteige vergeblich auf die Einlösung von dessen Eheversprechen. Da taucht Marwood auf, die verführerische Ex-Geliebte Mellefonts, um gegen das vermeintliche junge Glück eigene Ansprüche durchzusetzen. Sie wirft Saras Schuldgefühle gegenüber dem von ihr verlassenen alten Vater (Uwe Kraus) ebenso in die Schlacht wie Arabella (Kathrin Berg), Kind aus der vorherigen lüstlichen Liaison mit Mellefont.

Sie scheint ganz simpel, diese uralte, aber bis heute unausrottbare Verwicklung: Verderbter Mann zwischen zwei Frauen, von denen die gute mit reiner Liebe lockt, die böse mit enthemmter Lust. Doch so einfach sind die Urteile weder bei Lessing noch bei Ricarda Beilharz. Der Mellefont von Stefan Schießleder kommt nicht als Charmeur daher, der Sara mit berechnenden Versprechungen ins Lotterbett zerrt, um sie nachher sitzenzulassen. Eher träumt er von der Überwindung seines Hallodri-Daseins mithilfe einer liebenden Ehefrau. Zugleich jedoch macht er sich schier in die Hose beim Gedanken an eine lebenslange Bindung.

In die offene Flanke stößt Marwood. Doreen Nixdorf spielt hier einen großen Part, weil sie durch verruchte Verführungskunst wieder und wieder die Frage schimmern lässt: Ist diese Frau nicht doch ebenso sehr Opfer des geilen Tunichtgut wie zum Ende Mörderin an Sara? Mit deren Figur liefert Sybille Weiser die beeindruckendste Schauspielleistung ab. Hoffen und Bangen, Liebe und Misstrauen, Schicksalsergebenheit und Renitenz, Schwachheit und  Stärke, frauliche Reife und mädchenhafte Keckheit fließen bei ihr ineinander. Die an sinnfälligen Ambivalenzen ohnehin reiche Inszenierung bekommt durch Weisers Spiel eine übergreifende, das vielgestaltige und verletzliche Wesen des Menschseins bloßlegende Programmatik. 

Es ist die Intensität des Schauspielens jenseits bloßer Vorführung, die „Miß Sara Sampson“ in Wiesbaden zum tief bewegenden Erlebnis macht. Ein bisschen leise Musik, innere Monologe über Mikrofon geflüstert und ein lakonisch-kritischer dienstbarer Geist (Nils Kreutinger) stützen zudem die weithin melancholische Atmosphäre. Der Logik wie der Heutigkeit der Inszenierung entspricht, dass sie im Trauerspiel auch humorige Momente aufspürt und dezent ausspielt. Denn nichts Menschliches und nichts Allzumenschliches ist diesen wunderbaren 100 Schauspielminuten fremd.                                    Andreas Pecht

Infos: >>www.staatstheater-wiesbaden.de


(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website
am 9. Oktober 2012)


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