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2013-03-11 Schauspielkritik:

Theater Mainz feiert Grimms Märchen
 

Jan-Christoph Gockels Projekt zum Grimm-Jahr:
wohldurchdachte Verspieltheit

 
ape. Mainz. Regisseur Jan-Christoph Gockel (30) neigt zu Verspieltheit. 2011 ließ er am Staatstheater Mainz Schillers „Räuber“ als Bubenbande mit einer Modelleisenbahn-Landschaft Mordbrennerei spielen (s.u.). Jetzt hat er an gleicher Stelle sein Projekt „Grimm. Ein deutsches Märchen“ zur Uraufführung gebracht. Da werden erwachsene Schauspieler in Puppenstuben gequetscht, mischt sich umgekehrt Puppenspiel in die Theateraufarbeitung von Leben und Werk der Gebrüder Grimm.
 
Hatte die „Räuber“-Inszenierung noch ein sehr geteiltes Echo hervorgerufen, so honorierte das Gros des Publikums die dreistündige „Grimm“-Premiere mit lautstarkem Beifall bis hin zu in der Schauspielsparte ungewöhnlichen Standing Ovations. In der Tat verströmt diese Theaterarbeit einen ganz eigenen Reiz. Im Äußeren sorgsam gebürstet auf eine pittoreske, naiv-illustrative Ästhetik, enthält sie zugleich einen ungemeinen Reichtum ernsthafter und in vielfarbiger Differenzierung ausgespielter Hintergründigkeit.

Der Abend (Textfassung von Gockel und David Schliesing) hangelt sich an Lebensstationen der Märchensammler Jacob und Wilhelm Grimm entlang. Er beginnt auf schmalem Raum vor dem Eisernen Vorhang. Dort trotzt die Grimm-Familie aus Mutter und sechs Kindern mit Gemeinschaftssinn und Stubenspielen um volkstümliche Sagen, Mythen, Märchen ihren ärmlichen Verhältnissen. Nachher öffnet sich die Bühne von Julia Kurzweg in der Tiefe zur Andeutung eines ziemlich düsteren Märchenwaldes.

Davor und darin beschreiten die Gebrüder via wechselnden, teils raffiniert konstruierten Szenerien ihren Weg: zur Sammlung der „Kinder- und Hausmärchen“;  zum „Deutschen Wörterbuch“ und zur Begründung der deutschen Philologie; durch Umbruchzeiten von der französischen Revolution 1789 bis zur deutschen von 1848/49; durch die Entwicklung einer an schwierigen Eigenbrötlern reichen Familie. Damit nicht genug, webt Gockel in den biografischen roten Faden fortlaufend Elemente der Grimm'schen Märchen ein, nebst kritischer Würdigung ihrer tiefenpsychologischen, auch ihrer brutalen Seiten. 

Zwecks Selbstcharakterisierung schlüpfen die Familienmitglieder in (umgedeutete) Märchenrollen. Mutter Grimm (Monika Dortschy) wird zur mit dem Alter hadernden Königin aus „Schneewittchen“, der quirlige Ludwig (Mathias Spaan) zum tapferen Schneiderlein. Der allweil gehänselte kleine Karl (Lorenz Klee) fährt als Rumpelstilzchen aus der Haut, der zu Gewalttätigkeit neigende Ferdinand (Felix Mühlen) wechselt in die Rolle des Getriebenen aus „Vom Fischer und seiner Frau“. Charlotte (Ulrike Beerbaum), einziges Mädchen unter den Geschwistern, mutiert vom daumenlutschenden Angstkind zum kiebigen Rotkäppchen, dann zum frech-lustvollen Dornröschen.

Märchen werden hier zum Spiegel für Charaktere wie für Familien-, Kultur- und Zeitgeschichte – letztere bisweilen Brücken schlagend zwischen einst und jüngst: Da erschallt 1789 plötzlich der Ruf „Wir sind das Volk!“ oder nimmt die antifeudale Renitenz der „Göttinger Sieben“ von 1837 die Form deutscher Protestvorbereitungen anno 1968 oder 1989 an. André Willmund treibt als ewig suchender, sammelnder, kommentierender, kritisierender Gelehrter Jacob Grimm das multiple Geschehen voran. Ihm steht als kränklicher, melancholischer Bruder Wilhelm der Puppenbauer und -spieler Michael Pietsch zur Seite.

Von ihm stammen die den fleischlichen Protagonisten so ähnlichen Marionetten, die dem Mainzer Abend eine eigentümliche Poesie verleihen. Mit diesen Figur gewordenen Aspekten des eigenen Unterbewussten treten sämtliche Mitspieler – dem vielgründigen Charakter von Märchen folgend – in bezaubernde bis beängstigende Interaktion. Am Ende bauen alle Grimms eine gigantische Überpuppe zusammen, in deren Armen Jacob als letzter der Familie entschläft. Der Riese aber bleibt. Wie im Märchen „Die Boten des Todes“ hat er den Sensenmann auf die Bretter geschickt. Soll sagen:  Das Grimm'sche Werk lebt fort. Das beweist auch dieser Abend – der gewiss zu viel will, aber in seiner wohldurchdachten Verspieltheit sehr viel erreicht.
                                                                                     Andreas Pecht

Infos: >>www.staatstheater-mainz.com

(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website
am 10. März 2013)

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2011-12-18 Schauspielkritik:
Schillers "Die Räuber" am Staatstheater
Mainz. Regie: Jan-Christoph Gockel



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