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2013-06-24a Analyse:

Die Massenproteste in Brasilien und der Türkei
sind Ausdruck fortschreitender Demokratisierung


 

Eine neue Großmacht entsteht:
die selbstbewusste Zivilgesellschaft


 
ape. Erinnern Sie sich an Camila Vallejo? 2011 ging die chilenische Studentin als „die schöne Revolutionärin“ durch die Weltpresse. Sie wurde zur Symbolfigur einer Protestbewegung in Chile, bei der Hunderttausende für bessere und kostenlose Bildung demonstrierten. Scheinbar wie aus dem Nichts war die Massenbewegung damals aufgetaucht. Ähnlich verhält es sich dieser Tage mit den Protesten in der Türkei und in Brasilien: Keiner hatte damit gerechnet; am wenigsten wohl der türkische Premier Erdogan und seine brasilianische Amtskollegin Dilma Rousseff.                        


An den Unruhen in der Türkei und in Brasilien irritiert: Es handelt sich bei beiden um wirtschaftliche Boom-Länder. Der südamerikanische Staat stieg binnen weniger Jahre zur sechstgrößten Volkswirtschaft der Erde auf; die türkische Wirtschaft weist die höchsten Wachstumsraten in Europa aus. Nach den Maximen klassisch-liberaler Wirtschaftslehre sollten die Menschen dort vor allem mit persönlichem Wohlstandszuwachs beschäftigt sein. Doch was tun sie (auch)? Sie sorgen sich um kulturelle und gesellschaftliche Werte.

Um lebenswerte Innenstädte etwa. Ohne diese Sorge hätte Erdogans Absicht, die letzte innerstädtische Grünfläche von Instanbul zugunsten eines Einkaufszentrum zu beseitigen, keine  Massenproteste auslösen können. Der Gezi-Park als letztes Refugium, das einerseits dem Kommerz entzogen ist, andererseits der freien Begegnung unterschiedlichster Stadtbürger gewidmet: Wohl nur aus dieser urban-sozialen Doppelfunktion heraus konnte der Park zum Ausgangspunkt einer viel weiter greifenden Protestbewegung werden. Einer Bewegung, in der sich die Unzufriedenheit großer Teile der jungen, städtischen, weltoffenen Bevölkerung mit dem ökonomisch neoliberalen und zugleich gesellschaftlich konservativ-autoritären Kurs Erdogans Ausdruck verschafft.

Lebenswerte Städte sind auch ein wichtiger Punkt auf der brasilianischen Protest-Agenda. Entzündet hatten sich die Unruhen dort an Fahrpreiserhöhungen für Busse und Bahnen. Der Anlass mag banal klingen, er reichte aber als Zünder für ein hochexplosives Gemisch aus einseitigen Entwicklungen des „Wirtschaftswunders“. Brasiliens Städte ersticken im Autoverkehr, derweil das öffentliche Nahverkehrswesen verkommt. Während Industrieproduktion und Export wachsen, bröckeln auch Bildungs- und Gesundheitswesen vor sich hin, durchwuchert Korruption den Staatsapparat.

Vor diesem Hintergrund fließen nun Unsummen in den Bau luxuriöser Fußballstadien, die nach der Weltmeisterschaft 2014 kein Mensch mehr braucht. Ein solcher Gegensatz von gesellschaftlichem Mangel und gleichzeitig illustrer Verschwendung scheint selbst den fußballverrückten Brasilianern den Spaß am Spiel zu vergällen. Wie in der Türkei der Plan, den Gezi-Park plattzuwalzen, so ist in Brasilien die WM-Verschwendung der Tropfen geworden, der schon länger randvolle Fässer des Unmuts zum Überlaufen bringt.

Der amerikanische Soziologe Jeremy Rifkin beschrieb in seinem Sachbuchbestseller „Der europäische Traum“ die Zivilgesellschaft als erstarkende dritte Kraft neben Staat und Wirtschaft. Eine Kraft, die sich zusehends mit Verve in Gestaltungsprozesse einmischt, die zuvor Staat und Wirtschaft vornehmlich unter sich ausgemacht haben. Dabei werden vermehrt ganz andere Wertekategorien dominant als im bisherigen staatlichen und globalwirtschaftlichen Handeln: soziale Gerechtigkeit, individuelle Freiheit, Naturbewahrung, Bildung und Kultur, Lebensqualität am Ort, Fürsorge, menschliches Miteinander... Wir erleben derzeit in der Türkei und Brasilien keine typischen Elendsrevolten, sondern gemeinsames Aufbegehren Angehöriger fast aller Schichten. 

Der teils wuchtig vorgetragene Anspruch der Zivilgesellschaft auf Mitgestaltung funkt den alten Eliten ins gewohnte Tun. Politik wird komplizierter, Wirtschaft muss sich auf Herausforderungen jenseits der reinen Wachstumslehre einlassen. Erdogan versteht diesen Paradigmenwechsel nicht und versucht ihn deshalb aus der türkischen Welt zu knüppeln. Dilma Rousseff, selbst einst Straßenkämpferin gegen die frühere brasilianische Militärdiktatur, scheint begriffen zu haben, dass es so nicht geht. Sie bietet deshalb jetzt plebiszitäre Mitspracheelemente für eine „umfassende politische Reform“ im Land an.

Ob Türkei oder Brasilien, ob Iran 2009, arabischer Frühling ab 2010 oder chilenischer Bildungsaufstand 2011, ob deutsche Anti-Fluglärm-Bewegung oder – ja leider auch das – französischer Protest gegen Schwulen-Ehe: Die Einmischung der Zivilgesellschaft verdankt ihre Wirkmacht nicht zuletzt der modernen Vernetzung. Im Internet schnell feststellen, „meine Kritik  wird von unzähligen anderen geteilt“, ist nicht Ursache für Massenproteste, aber eine große Hilfe bei deren Ausformung, bisweilen urplötzliches Ausbrechen inklusive.

Der Geist einer aktiv mitmischenden Zivilgesellschaft ist aus der Flasche. Damit tritt die Entwicklung hin zu mehr Demokratie auch in den Demokratien in eine neue Phase ein. Rückschläge wird es immer geben, aber ein Zurück gibt es nicht mehr.
                                                                                   Andreas Pecht


(Erstabdruck in einem öffentlichen Medium außerhalb dieser website am 28. Juni 2013)


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