Kritiken Theater
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2013-09-23 Schauspielkritik:

"Kaspar" von Peter Handke am Staatstheater Mainz.
Regie: Jan Philipp Gloger


Von der Abrichtung des Menschen

 
ape. Mainz. Zwei Männer zerren ein armes Schwein von Mensch mit brutaler Gewalt durch den Zuschauerraum auf die Bühne, schmeißen ihn an den geschlossenen Eisernen Vorhang. Verwirrt, verängstigt, verdreckt, in Lumpen windet sich Felix Mühlen dort unter gleißendem Licht. Die beiden Showmaster-Typen in silbrig glitzernden Anzügen präsentieren ihn grinsgesichtig als  Sensation: Kaspar, das asoziale Monstrum. In den folgenden 90 Minuten werden sie es vor den Augen des Publikums im Mainzer Staatstheater „zivilisieren“.
 

1968 brachte Claus Peymann nebenan in Frankfurt Peter Handkes Stück „Kaspar“ zu Uraufführung. Der Autor hatte als Titel erst „Sprachfolterung“ vorgeschlagen. Es setzte sich aber der Bezug zur  Legende von Kaspar Hauser durch, jenem Jünglings, der in dunkler Isolation ohne menschliche Gesellschaft aufgewachsen sein soll. Das Stück erzählt nicht etwa diese Geschichte, sondern handelt auf sehr eigenwillige Art von der normativen Zurichtung des Individuums – hier  wortgewaltig und sprachhintersinnig in die Metapher zwangsweiser Sprecherziehung gepackt.

Einen einzigen seltsamen Satz nur beherrscht die barmende Titelfigur anfangs: „Ich möcht' ein solcher werden, wie einmal ein anderer gewesen ist“. Handke nennt die Kräfte, die sich nun erzieherisch auf Kaspars Sprachvermögen und Umgebungswahrnehmung stürzen „Einflüsterer“. In Jan Philipp Glogers kluger wie gallig-komischer Mainzer Inszenierung treten Janning Kahnert und Stefan Graf dem Gegenstand der zivilisatorischen Formgebung nacheinander gegenüber als: biedermeierliche Wissenschafts-Stutzer, Lehranstalts-Personal des mittleren 20. Jahrhunderts, 68er-Schwätzer und schließlich vergnügte Strahlemänner televisionärer Gegenwart.

Der historische Bogen mag zweierlei signalisieren. Zum einen die Kontinuität der sprachlichen Ordnung als Spiegel der herrschenden Ordnung. Zum andern die Kontinuität der Zwangsanpassung des Individuums durch „Sprachfolterung“. Denn worauf zielt alles Bemühen von Stutzern, Rohrstock-Pädagogen, Showmastern ab: Erst dem Kaspar mittels Betonungs-, Syntax-, Wortsinnverwirrung den einzigen ihm eigenen Satz zu zertrümmern, um anschließend das Hirn des so vollends sprachlos Gewordenen mit einer neuen Ordnung zu füllen. Deren Quintessens lautet: „Du bist in Ordnung, wenn sich deine Geschichte von keiner anderen Geschichte mehr unterscheidet.“

Handkes Text ist auch 45 Jahre nach der Uraufführung noch eine wunderbare Herausforderung. Er reflektiert an tausenderlei Beispielen die vage, gefährliche, parteiliche, teils absurde Wechselbeziehung zwischen Sprache und Welt. Jeder Satz, jedes Wort  möchte genau abgeschmeckt werden auf Sinn, Hintersinn, Unsinn. Im schnellen Fluss des Theaters ist das vielfach kaum möglich, die Bühnenakteure müssen erhellenden Fingerzeig geben. Das Mainzer Trio leistet dabei Vortreffliches, der kurze Abend ist geprägt von fein pointierter Spielfreude im weiten Spektrum zwischen vorgeblicher Natürlichkeit und schäumender Exaltiertheit.

Glogers Inszenierung spinnt das Stück in die Gegenwart fort. Am Ende steckt auch Kaspar im Glitzeranzug, liefert mit den beiden andern zusammen vor einem riesigen Glitzer-Schriftzug „ICH“ (Bühne: Judith Oswald, Kostüme Marie Roth) eine Superstar-Showeinlage ab. Das Heute geriert sich als Epoche des Individualismus: Am Bühnenrand reden die drei zum Schluss nur noch im „Ich, ich, ich“ – das aber in munterster Banalität ununterscheidbar aneinander vorbei.              Andreas Pecht


Infos: >>www.staatstheater-mainz.com


(Erstabdruck/-veröffentlichung außerhalb dieser website
am 23. September 2013)


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